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Oktober 2013
Als sich vor einem halben Jahrhundert die Matadore des Literaturbetriebs zu einer großen Konsultation über die Literatur der Zukunft trafen, war man sich über die Tagesordnung rasch einig. Uwe Johnson, Hans Magnus Enzensberger und Günter Grass betonten unisono die Notwendigkeit eines neuen Zeitschriftenprojekts. „Es wird sofort eine politisch interessierte Zeitschrift für Literatur gebraucht, auch allein in Westdeutschland, gerade da.“ So schrieb Uwe Johnson im Mai 1963 an den Suhrkamp- Verleger Siegfried Unseld, und das neue Projekt hatte rasch einen Namen. „Gulliver“ sollte die neue internationale Zeitschrift heißen und Günter Grass hatte bereits ein entsprechendes Gedicht gleichen Titels verfasst. Die hochfliegenden Pläne wurden aber bald auf Eis gelegt, „Gulliver“ blieb ein großes Planspiel, die Euphorie verrauchte.
Stattdessen trat ein junger Student der Literaturwissenschaft in Göttingen an die Öffentlichkeit und gründete mit Hilfe eines Sponsors eine Zeitschrift, die er mit Hartnäckigkeit und Ehrgeiz bald als eine Premium-Marke lebendiger Literaturwissenschaft zu etablieren vermochte: Heinz Ludwig Arnold erfand 1963 die Zeitschrift „Text+Kritik“ – die bis zu seinem Tod im November 2011 ein Erfolgsmodell geblieben ist. Anlässlich des 50jährigen Jubiläums hat nun die Redaktion von „Text+Kritik“ zu einer waghalsigen Unternehmung eingeladen: Schriftsteller, Literaturkritiker und Literaturvermittler versammeln sich in einem Sonderband zum kollektiven Nachdenken über die „Zukunft der Literatur“. Gefragt wird dabei nicht nur nach der Entwicklung der einzelnen Gattungen, sondern auch nach den kulturellen Veränderungen durch die universelle Digitalisierung und nach angemessenen Formen moderner Literaturvermittlung. Neben etwas angestrengten und auch spekulativen Beiträgen zur „Literatur in digitalen Zeiten“ findet man hier zwei angriffslustige und teilweise polemisch stark aufgerüstete Aufsätze zu den schwankenden Fundamenten, auf denen die Literatur heute steht.
Ulrike Draesner hat einen sehr klugen Essay über die Zukunft des Romans geschrieben, in dem auch die Auswirkungen unseres zunehmenden Eintauchens in die digitale Welt reflektiert werden. Die wachsende Mitteilungsfreude der Autoren, die ihre biografischen Markierungen mithilfe von Blogs, Mails oder Twitter-Kommentaren setzen, manifestiert sich in ihren Romanen im Anstieg faktografischer Lebensberichte zu Lasten des genuin Literarischen, also der Fiktion. Das geht bis hin zu der privatistischen Anmutung, dass ein Autor wie Tilman Rammstedt in seinem jüngsten Roman die eigene Handynummer preisgibt. „Glaubwürdig“, so bilanziert Draesner, „scheint nur mehr, was sich über gelebtes Leben begründen lässt.“ Zu ergänzen wäre: Auch dieses „gelebte Leben“ scheint zu schrumpfen, da es sich offenbar in die unendlichen Räume des Virtuellen verlagert hat.
Der scharfsinnigste und unversöhnlichste Beitrag in „Text+Kritik“ stammt indes von dem Dichter Gerhard Falkner, der in sehr undiplomatischer Weise die „Infantilisierung“ und den „Vampirismus“ in Kunst und Literatur attackiert. Nach einer überaus schroffen Einleitung zur Anschmiegsamkeit, mit der sich gestandene Künstler und Dichter von einschlägigen Förderinstitutionen durchfüttern lassen, benennt Falkner zwei elementare Merkmale der nach seiner Ansicht substantiell geschwächten Literaturproduktion. Da ist zum einen „das Versiegen des inneren Monologs“, der einst die Kraftquelle der schöpferischen Phantasie war. Als Ursache für diesen Verlust sieht Falkner die Dominanz des Internets und die Herrschaft der „superkurzen Einsatz- und Bereitschaftssprachen“. Das Subjekt, so Falkner, wird heute in einem ständigen Stand by-Modus gehalten, es wartet ununterbrochen auf Nachricht. Der Mensch existiert auf Abruf und ist keine Minute mehr bei sich selbst. Sein geschrumpfter Lebensraum ist der „mediale Vollkontakt“, er bewegt sich im öffentlichen Raum durch eine riesige „Kommunikationstoilette“. Da sich das Subjekt im dauernden Alarmzustand befinde, vollziehe sich eine pausenlose „Ich-Entleerung“ – und der innere Monolog werde stillgelegt.
Das Versiegen des inneren Monologs wird nach Ansicht des Polemikers Falkner flankiert durch eine markante „Insuffizienz“ der Literaturkritik, die sich mit der „Selbstherrlichkeit von Sultanen“ gegenüber Gedichten oder Romanen aufspreize. Am Beispiel einer Kritik seines Gedichtbands „Pergamon Poems“ moniert Falkner die Verkürzung des kritischen Vermögens auf „die Plakativität eines Weinflaschenetiketts“.
In einer Nebenbemerkung verweist Falkner spöttisch auf die Eilfertigkeit, mit der speziell jüngere Dichter „mit DDR-Hintergrund“ um Stipendien buhlen. Dazu kann man lakonisch festhalten: Das gilt nur für jene Autoren, die sich nicht selbst aus dem Betrieb hinauskatapultiert haben.
Ein Dichter wie Rainer Schedlinski, der in den späten 1980er Jahren als kritischer Kopf der sogenannten „Prenzlauer Berg-Connection“ galt, hat in den Jahren nach der Wende seinen literarischen Kredit vollkommen verspielt. Seit 1992 ruchbar wurde, dass er als inoffizieller Mitarbeiter den Staatssicherheitsdienst der DDR mit brisanten Informationen über seine Dichterkollegen versorgte, hat er innerhalb der Dichter-Community keine Freunde mehr. In der Zeitschrift „Zonic“, einem ketzerisch aufgelegten Periodikum für dissidente Subkulturen aus Osteuropa, ist nun ein höchst lesenswerter Beitrag zur bizarren Neupositionierung Schedlinskis erschienen. Henryk Gericke analysiert in der aktuellen Ausgabe No 20 von „Zonic“ die Lebenswende Schedlinskis, der sich Mitte der 1990er Jahre aus dem Galrev Verlag zurückzog und anschließend eine Firma für thermoelektrische Generatoren gründete. Schedlinski, einst ein bekennender Strukturalist, beschäftigte sich fortan mit Kühlkörpern, Wärmeleitmitteln, Messgeräten und sonstigem Zubehör der thermoelektrischen Gerätschaften. Als Dichter kultivierte Schedlinski einst eine kühle, bis zur Tonlosigkeit und Indifferenz ausgenüchterte Gedichtsprache. Nun ist aus dem Stasi-Spitzel nicht nur ein abgeklärter Einzelhändler geworden. Nun stehen wir auch dem schönen Paradoxon gegenüber, dass sich „der Dichter eines kühlen Sprechens dem Handel von Wärmeleitmitteln widmet.“ Auch wenn er sich nicht mehr auf Poesie versteht, so doch zumindest auf Business.
Wer sich heute nach Literaturzeitschriften umsieht, die eine strenge Poetik des sprachreflexiven Schreibens favorisieren, der muss zuallererst zur „Mütze“ greifen, zu der auf anregende Weise unberechenbaren Essay- und Poesie-Zeitschrift des Schweizer Lyrik-Editors Urs Engeler. Die Nummer 4 der „Mütze“ ist ein Wunderwerk an erzählerischer und lyrischer Sprachempfindsamkeit, die sich in diesem Fall mit Extremformen visueller Poesie verbindet. Der französische Dichter Jean-René Lasalle präsentiert hier einige faszinierende „Quadratgedichte“, die historisch bis in die frühe römische Antike zurückreichen und bis zu Gegenwartspoeten wie Oswald Egger führen. Besonders eindrucksvoll ist hier die Gegenüberstellung eines Figurengedichts von Hrabanus Maurus, eines Mönchs aus dem frühen Mittelalter, mit einer quadratisch-labyrinthisch konstruierten Sure aus dem Koran. Hrabanus Maurus hatte als Leiter des Benediktinerklosters Fulda um 810 nach Christus den Figurengedichtzyklus „Vom Lob des christlichen Kreuzes“ geschaffen, der in seiner typografischen Gestalt dem visualisierten Gotteslob der Koran-Sure sehr ähnelt.
Ein weiteres Faszinosum in dieser „Mütze“-Nummer ist der Aufsatz des Lyrikers Michael Donhauser, der sehr akribisch den Textbewegungen in Adalbert Stifters unvollendeter Erzählung „Die Mappe meines Urgroßvaters“ nachspürt. Donhauser entziffert den vorgelegten Textausschnitt als Prosagedicht, das von der Unbegrenztheit und Unbegrenzbarkeit eines Gartens handelt, den das erzählende Subjekt durchquert.
Als Periodikum für eine intellektuell sehr bewegliche, zwischen den Geisteswissenschaften vagabundierende Essayistik hat sich seit einiger Zeit auch die Leipziger Literaturzeitschrift „Edit“ profiliert. In der aktuellen Nummer 62 von „Edit“ folgt die junge Anthropologin Kenah Cusanit den intellektuellen Umwegen und Irrwegen der bizarren Heiltherapeutin Charlotte Hagena, die gemeinsam mit einem ehemaligen Meistergeiger eine kosmische orientierte Heilkunde entwickelte, die sogenannte Tertusollogie. Der „Edit“-Aufsatz entfaltet all diese sonderbaren Hypothesen über „Atemtypen“ und den Einfluss von Sonne und Mond auf die Ausbildung von Linkshändern und Rechtshändern und verknüpft dieses Ideen-Geflecht mit den chinesischen Lehren von Yin und Yang. Daraus entsteht zum Glück keine esoterische Erlösungstheorie, sondern eine Mixtur aus phantastischen Erzählungen, die nicht als Offenbarungslehre, sondern als poetischer Text gelesen werden wollen. Neben dieser bunt schillernden Theorie-Collage sind in „Edit“ noch zwei weitere essayistische Glanzstücke zu besichtigen. Da ist zum einen die schöne Laudatio Insa Wilkes auf die Peter Huchel-Preisträgerin Monika Rinck und zum anderen auch der Versuch von Christian Schulteiz über den 1966 verstorbenen Komponisten, Dichter und Landschaftsforscher Jürgen von der Wense. Zu Lebzeiten hat der Universalgelehrte Wense gerade mal achtzig Seiten mit Aufzeichnungen veröffentlicht. Aber dreißigtausend Seiten blieben unveröffentlicht, daneben noch vierzig Tagebücher, sechstausend Briefe und mehrere tausend Fotografien. Bis heute ist Jürgen von der Wense eine Ikone des Privatgelehrtentums geblieben, obwohl sein Werk bislang nur rudimentär zur Kenntnis genommen worden ist.
Wer in der deutschen Gegenwartsliteratur nach hilfreichen Selbstauskünften der Autoren sucht, der sollte regelmäßig die Dresdner Literaturzeitschrift „Ostragehege“ studieren. Seit vielen Jahren führt dort der „Ostragehege“-Redakteur Axel Helbig sehr ausführliche und sehr inspirierte Gespräche mit Autoren, die ihr bisheriges Werk erläutern und kommentieren. Im aktuellen Heft 71 wird der Dichter und Übersetzer Jan Wagner porträtiert. Jan Wagner, aufgewachsen in einem bildungsbürgerlichen Elternhaus in Hamburg, liefert erhellende Einblicke in sein 2012 publiziertes Buch „Die Eulenhasser in den Hallenhäusern“, in dem sich der Autor gleich in drei fiktive Dichterkollegen, drei „Heteronyme“ aufspaltet, um dadurch bislang verborgene Möglichkeiten des lyrischen Schreibens zu erproben. Da ist zum einen der erfundene experimentelle Dichter Theodor Vischhaupt, der unermüdlich Anagramme produziert. Ihm gegenüber steht der naive Bauerndichter Anton Brant, der völlig unbeleckt von jeder Tradition seine Gedichte schreibt und darin landschaftliche und landwirtschaftliche Wörter integriert, die eine eigene Musikalität entwickeln. Dritter im Bunde ist der Dichter Philip Miller, der sich mit Gedichten über Rom abmüht. „Es ging darum“, so Jan Wagner, „Gedichte zu schreiben, die mir nah genug waren, um sie mit Lust schreiben zu können und andererseits doch so fremd, als dass ich sie unter eigenem Namen hätte veröffentlichen können.“ Im zweiten Teil des Gesprächs entfaltet Wagner eine aufschlussreiche Theorie der Übersetzung. Zu den Leistungen, die der Übersetzer eines poetischen Textes aufbringen muss, gehört paradoxerweise der Verzicht. Denn bestimmte Wortspiele oder einfachste Wendungen sind manchmal schlichtweg nicht übersetzbar. Neben die Bereitschaft zum Verzicht tritt ein Ethos der Treue und Untreue: Um einem Dichter treu zu bleiben, so resümiert Wagner, muss man ihm in der Übersetzung untreu werden.
Text+Kritik, Sonderband „Zukunft der Literatur“.
T+K-Redaktion, Tuckermannweg 10, 37085 Göttingen. 204 Seiten, 29 Euro.
Zonic, No. 20 (2013) Almanach für kulturelle Randstandsblicke & Involvierungsmomente.
Ventil Verlag, Mainz 2013, Boppstr. 25, 55118 Mainz. 224 Seiten, 18 Euro.
Mütze 4 (2013)
c/o Urs Engeler, Obere Steingrubenstrasse 50, CH-4500 Solothurn. 50 Seiten, 6 Euro.
Edit 62 (2013)
Gerichtsweg 28, 04103 Leipzig. 112 Seiten, 5 Euro.
Ostragehege 71 (2013)
c/o Axel Helbig, Birkenstraße 16, 01328 Dresden. 70 Seiten, 4,90 Euro.
Michael Braun 04.10.2013
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Michael Braun
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