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April 2015
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Zeitschriftenlese  –  April 2015
von Michael Braun | Saarländischer Rundfunk – Literatur im Gespräch


Eine literarische Epoche ist in diesen Tagen zu Ende gegangen. Nach 61 Jahren hat die legendäre Literaturzeitschrift „Akzente“ eine Runderneuerung vollzogen, die bis an die Wurzeln dieser traditionsreichen Institution geht. Das ganze Konzept der Zeitschrift wurde geändert, kein Stein ist auf dem anderen geblieben. Diese Änderung ist schon in der visuellen Gestalt des Heftes spürbar. Sechzig Jahre lang zierte der große weiße „Akzente“-Schriftzug, den der 2014 gestorbene Grafikdesigner Gerhard Hotop erfunden hatte und der später behutsam modernisiert wurde, das Cover der Zeitschrift. Dieser Schriftzug ist nun deutlich verkleinert und in ein farbiges Linien-Geflecht eingebettet. Auch sind die großen, einladenden Porträt-Fotos von Autoren vom Cover verschwunden; Fotos, die Autoren meist im Gespräch mit Kollegen zeigten und damit das dialogische Konzept der Zeitschrift markierten, die Poesie als emphatische Korrespondenz zwischen Texten und Autoren darboten. Stattdessen sehen wir auf dem Cover der neuen „Akzente“ nun das Wort „Unmögliches“ in auf den Kopf gestellter Spiegelschrift. Auch das darf man als ästhetisches Signal für den Neustart lesen – und als klare Distanzierung von dem Poesieverständnis, mit dem Walter Höllerer und Hans Bender vor sechzig Jahren begonnen hatten. Die „Akzente“, so schrieb Walter Höllerer zum vierzigsten Jubiläum der Zeitschrift, wurden im Februar 1954 gegründet als ein Ort poetischen Austauschs in „der Zeit zunehmender Sprachverstörungen“. Michael Krüger hat dann ab 1982 die Zeitschrift im Sinne der Gründungsherausgeber fortgeführt. Die „Akzente“ blieben ein offenes Forum für Gedichte und Essays, die den Einspruch gegen die Sprachen der Politik und der Macht formulieren.
  Nun hat Jo Lendle, der neue Leiter des Hanser Verlags, als neuer Herausgeber die Zeitschrift ästhetisch ganz neu positioniert. Die „Akzente“ kommen nun als geschlossene Themenhefte daher, in denen jeweils wechselnde Co-Herausgeber ihren literarischen Passionen nachgehen können. Mit Clemens Setz hat Lendle einen Autor gefunden, der für seine Gelehrsamkeit bekannt ist und für die Premiere der neuen „Akzente“ ein Heft mit allerlei spektakulären Entdeckungen zusammengestellt hat. „Ich beschwöre sie“, so zitiert Clemens Setz an einer Stelle den literarischen Eremiten Hans Jürgen von der Wense, „ ich beschwöre sie, es für möglich zu halten, dass alles, was wir als ›Weltliteratur‹ kennen, eine ganze vorläufige Trostlosigkeit ist, die großen Dinge sind noch überall geheim und Schätze.“ Einige dieser geheimen Schätze möchte nun Clemens Setz in den neuen „Akzenten“ ausbreiten. Und es sind ihm zumindest einige Überraschungen gelungen. So wird das Heft mit der auszugsweisen deutschen Übertragung eines Versepos eröffnet, das in der Kunstsprache Esperanto abgefasst ist. Der schottische Esperantodichter William Auld, der 2006 starb und ein riesiges Werk hinterließ, wird als veritabler Nobelpreiskandidat vorgestellt, eine These, die sich an den drei abgedruckten Seiten schwerlich verifizieren lässt. Ein großartiger Fund ist der Hinweis auf den englischen Landschaftsdichter und Kartographen Tim Robinson, der auf Tausenden von Seiten die Halbinseln an der Westküste Irlands beschrieben hat. In dem Porträt-Essay von Aleks Scholz zu Tim Robinson kommt aber auch eine gewisse Hybris dieser literarischen Schatzgräberei in den „Akzenten“ zum Vorschein. Die Berichte von Tim Robinson, heißt es da, „sind grenzwertig unlesbar, gerade weil sie so reich sind. Wahnsinnig gründlich, voll mit Fakten, mit poetischer Wissenschaft und schamanistischer Weisheit. Man kann sich hineinwerfen in seine Bücher und nie wieder herausfinden.“ Und das ist ein prekärer Punkt in den Ausgrabungen des neuen „Akzente“-Heftes. Immer wieder wird die „Unlesbarkeit“, Rätselhaftigkeit oder eben „Unmöglichkeit“ der umschwärmten Autoren und Bücher hervorgehoben. Das Heft scheint eher als Vergnügen für Dechiffrierkünstler angelegt zu sein, für eine Community der Bibliomanen. Der Dichter Günter Eich, der ursprünglich zusammen mit Walter Höllerer als Herausgeber der „Akzente“ vorgesehen war, war kurz vor dem Start der Zeitschrift in Grübeleien geraten und zog sich aus dem Projekt zurück. Die Zeitschrift bereite ihm „schlaflose Nächte“, erklärte er damals. Solche schlaflosen Nächte könnten bei treuen „Akzente“-Lesern zurückkehren.

Es gibt zum Glück ein Literaturmagazin, das an das ursprüngliche Programm der „Akzente“ anknüpft und neue Gedichte und Prosatexte, Essays und Dossiers zur Gegenwartsliteratur zu einem schönen Panorama der aufregendsten lyrischen und erzählerischen Stimmen zusammenführt: das von Andreas Heidtmann herausgegebene Magazin „poet“. Die neue Ausgabe, die Nummer 18 des „poeten“, liefert ein gutes Beispiel für die ästhetische Vitalität eines offenen Zeitschriften-Konzepts. Das Heft wird eröffnet durch ein fulminantes „Bekennerschreiben“ des Dichters Gerhard Falkner, der das Naturgedicht auf neue Erkenntnisfundamente stellen will. Das stilistisch funkelnde Pamphlet Falkners beginnt mit einer Attacke auf die heutigen Naturdichter im informationstechnischen Zeitalter, die – so wörtlich – „nicht mehr zwischen einer Hecke und einem Drahtzaun unterscheiden“. Das moderne Dichtersubjekt, so Falkner weiter, starrt in jeder freien Minute unentwegt auf ein Handy oder ein anderes Display. Und so entsteht eine Situation eklatanter Naturblindheit: „Wenn man heute einen dieser Ureinwohner der Jetztzeit in die nennen wir sie mal ›freie Natur‹ verschleppt, so fällt auf, er sieht nichts, er hört nichts, er weiß nichts, er beachtet und betrachtet nichts.“ Dagegen setzt Falkner sein Konzept einer „Geistesgegenwart erregter Sprache“, die mit ihren kühnen Konstruktionen einen Blick auf die Existenz von Mensch und Natur ermöglicht. „Gedichte“, so pointiert Falkner, „sind nicht zum Träumen da, sondern zum Aufwachen.“ Eine sehr mit metaphorischen Kontrasten spielende Dichtung zum Aufwachen liefert auch Falkners Zyklus „Schorfheide“. Auch die Gedichte von Ron Winkler und Christian Schloyer, die im „Poet“ zu lesen sind, arbeiten mit einer subtilen Kombinatorik kühler Fachsprachen und alter Erhabenheits-Topoi. Wenn man den Stand einer geistesgegenwärtigen Dichtung erfassen will, muss man zur neuen Ausgabe des „poet“ greifen.
  Hier findet sich auch ein ausführliches Gespräch mit dem Doyen der Zeitschriftenkultur, dem mittlerweile 95jährigen „Akzente“-Gründer Hans Bender und seinem Literaturfreund Theo Breuer. In ihrer Schilderung elementarer Lektüreerlebnisse verlieren sich die beiden in einer großen Schwärmerei für ihre Lieblingsbücher, die ihr Leben bereichert haben. Hans Bender findet dann aber ein lakonisches Schlusswort: „Bei Petrarca trafen Lesen und Sterben zusammen. Sein Haupt fiel auf die Buchseiten. Zu schön, sagen andere. Ich will die Szene so glauben, wie sie überliefert ist.“

Eine umfassende Würdigung der „prächtigen Vielfalt der gegenwärtigen Literatur“ versucht auch das aktuelle Heft, die Nummer 1/2015 der „Neuen Rundschau“. Man findet darin ein Dutzend kluger Aufsätze zu den Vorzügen und auch den Untiefen des gegenwärtig dominierenden Realismus, auch schöne Werkanalysen zu Ror Wolf und Ulrich Peltzer. Und dennoch stellt sich auch ein großes Unbehagen an den Befunden und Kategorien ein, die auf die Gegenwartsliteratur angewandt werden. Der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler beispielsweise, der wegweisende Studien zum Auftauchen sogenannter popkultureller Phänomene in der Literatur vorgelegt hat, exponiert sich hier mit sehr anfechtbaren Thesen zur enzyklopädischen Geschmeidigkeit der allerjüngsten Literatur. Im Zeitalter von Google und Youtube, so glaubt Baßler, fließen die Reflexionen auf klassisches Bildungsgut wie auf die aktuelle Medienumwelt ganz beiläufig und zwanglos in die Literatur ein. Baßler verweist auf Erzählungen und Romane, in deren kulturellem Hintergrund „Harry Potter und Rod Stewart friedlich neben Virginia Woolf und dem Rolandslied rangieren“. Die schnelle Verfügbarkeit des Wissens erlaube den entspannten Zugriff auf alle Materialien der alten wie auch der neuen Kultur. Eine Recherche im Netz genüge und gleich – so wörtlich – „bin ich auf der Höhe des Diskurses“. Eine solche Haltung könnte man aber auch als konstitutionelle Medien-Naivität kennzeichnen. Wer im Netz herumvagabundiert und sich mit Mausklicks sein Material zusammenrafft, vermag sicherlich Materialien zu kompilieren – aber hat er diese Materialien auch verstanden?
  Eine gewisse Skepsis gegenüber dem Internet-Fetischismus würde hier nicht schaden. Diese Skepsis gegenüber ihren Stichwortgebern würde man auch Monika Rinck wünschen, der exzellenten Dichterin, die in ihrer Essayistik in der „Neuen Rundschau“ sich sehr bereitwillig den Theoremen diverser französischen Meisterdenker überlässt, anstatt das „nomadische Denken“ mal auf seine intellektuelle Haltbarkeit zu prüfen.

Die zwei aufregendsten Beiträge zu kanonischen Autoren heutiger Literaturtheorie finden wir indes nicht in der „Neuen Rundschau“, sondern im aktuellen April-Heft des „Merkur“. Hier präsentiert Claus Pias eine kühle Analyse zur Lage der Medientheorie nach dem Tod des fast kultisch verehrten Literaturwissenschaftlers Friedrich Kittler. Eine nachhaltige Zäsur in den Geisteswissenschaften markierte 1985 Kittlers Buch „Aufschreibesysteme“, in dem der Diskursforscher erstmals eine theoretische Verbindungslinie von den Inhalten klassischer Texte zur Materialität der jeweils aktuellen Schreibmedien zog und damit eine substantielle Medientheorie überhaupt erst richtig begründete. Pias untersucht vor allem die These von Kittler, dass sich die Geschichte moderner Medien und auch die digitale Kultur letztlich dem „Missbrauch von Heeresgerät“ verdanke. Hier plädiert der „Merkur“-Autor dafür, diese Theoreme Kittlers in ihrer Kontextgebundenheit zu interpretieren und auch das „rasante Altern“ und die Fragwürdigkeit dieser Kittlerschen Ideen zur Kenntnis zu nehmen. Der zweite hochinteressante Beitrag im aktuellen „Merkur“ widmet sich dem Werk Susan Sontags und ihrer Lebensfreundin, der Fotografin Annie Leibowitz. Die Literaturkritikerin Ina Hartwig unternimmt in ihrem Essay „Reproduktionsmedizin als Metapher“ den Versuch, den radikalen Exhibitionismus im Werk der Fotografin Leibowitz zu verstehen. Leibowitz hat nicht nur die Geburt ihrer mit reproduktionsmedizinischer Hilfe geborenen Tochter mit großem fotografischen Pathos inszeniert, sondern auch das Sterben ihrer Partnerin Susan Sontag. Ina Hartwig weist darauf hin, dass Leibowitz hierbei nahezu sakrale Techniken der Bedeutungsaufladung benutzt hat: Sie inszenierte die tote Susan Sontag wie den verstorbenen Jesus Christus wie auf einem berühmten Gemälde von Hans Holbein. Anstelle der Kreuzigungswunden auf der Brust und den Händen von Jesus sehen wir auf dem Totenbild von Susan Sontag den fleckigen Unterarm der toten Freundin. Der sehr reale Krebstod Susan Sontags erscheint auf diesem Totenbild kultisch metaphorisiert: „Heilung“, so resümiert Ina Hartwig, „war nicht mehr möglich; was bleibt, ist Heiligung.“

Akzente 1/2015  externer Link
Postfach 860240, 81631 München. 96 Seiten, 9,60 Euro.

poet Nr. 18  externer Link
Verlag poetenladen, Blumenstr. 25, 04155 Leipzig. 256 Seiten, 9,80 Euro.

Neue Rundschau, Heft 1/2015  externer Link
Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt am Main. 264 Seiten, 15 Euro.

Merkur 4/2015  externer Link
Klett-Cotta Verlag. Redaktion: Mommsenstr. 127, 10629 Berlin, 110 Seiten, 12 Euro.

 

 
Michael Braun
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