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Februar 2018
Wer glaubt heute noch an die Wirkungsmacht der Literatur, an ihre Fähigkeit zur Lebensrettung? Der Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann hat vor einigen Monaten am Grab seines Verlegers Egon Ammann eine Geschichte erzählt, die dazu angetan ist, uns das verlorene Vertrauen in die magischen Fähigkeiten großer Literatur zurückzugeben, auch wenn es sich bei dieser beeindruckenden Geschichte wohl um eine Legende handelt.
Sie gehört zu den Gründungsmythen des lange erfolgreichen Ammann Verlags, die der Verleger selbst in immer neuen Varianten zum Besten gab. Als ganz junger Mann, so berichtet Hürlimann, war Egon Ammann in den sechziger Jahren nach Anatolien aufgebrochen, um dort für einen Altertumsforscher zu arbeiten. Er verlor aber auf der Reise sein Geld, und schaffte es nur bis nach Istanbul und wurde dort Gehilfe eines jüdischen Immigranten, der als Frackschneider von Wien nach Istanbul gekommen war. Seinem Lebenstraum kam Egon Ammann bald ganz nah, als er danach einen Buchhändler kennenlernte, der einen deutsch-türkischen Buchladen in Istanbul führte. In dessen Auftrag reiste er bald durch den Vorderen Orient, um Goethe-Gesamtausgaben zu verkaufen. Meistens war er dabei in alten klapprigen Bussen unterwegs, vollgestopft mit Menschen, Teppichen und Hühnern. Eines Tages wurde einer dieser Busse von Kurden beschossen, aber Goethe rettete Egon Ammann das Leben. Denn eine Kugel blieb in einem Exemplar von Goethes „Dichtung und Wahrheit“ stecken.
Hürlimanns schöne Grabrede auf Egon Ammann findet sich in der jüngsten Ausgabe, dem Heft 4/2017 der Kulturzeitschrift „Neue Rundschau“, das noch weitere Geschichten aus der alten, vor-digitalen Zeit der Literatur enthält. Im Zentrum des Heftes stehen die erstmals veröffentlichten Briefe des Dichters Reiner Kunze an die 1973 an Krebs gestorbene DDR-Schriftstellerin Brigitte Reimann, die mit dem posthum veröffentlichten Roman „Franziska Linkerhand“ ein Schlüsselwerk der DDR-Literatur geschrieben hat. Kunze und Reimann lernten sich Anfang der fünfziger Jahre in in einer „Arbeitsgemeinschaft junger Autoren“ in Magdeburg kennen, wo der damals 19jährige Kunze in der Tageszeitung „Volksstimme“ mitarbeitete. Beide, Kunze wie Reimann, waren damals überzeugte Parteigänger des SED-Staats, aber Kunze distanzierte sich früh vom autoritären Sozialismus der DDR. 1959 musste er kurz vor der Promotion die Leipziger Universität aus politischen Gründen verlassen und galt den DDR-Kulturpolitikern fortan als „Konterrevolutionär“. Bis zu seiner Ausreise 1977 in den Westen wurde er von der Stasi observiert und hatte mit Zensurmaßnahmen und Berufsverbot zu kämpfen. Brigitte Reimann agierte vorsichtiger, aber spätestens 1968, als sie die Zustimmung zum Einmarsch der Warschauer Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei verweigerte, wurde auch sie misstrauisch von den Literaturpolitikern beobachtet. 1959 beginnt die von langen Pausen unterbrochene Brieffreundschaft zwischen Kunze und Reimann, die Briefe Kunzes zeugen dabei von der bedingungslosen Loyalität, die beide Autoren verband. Anfang der sechziger Jahre engagierte sich Brigitte Reimann für den von der Partei verordneten „Bitterfelder Weg“, der die berufsmäßigen Autoren mit der Realität der industriellen Arbeitswelt konfrontieren sollte, im Sinne der Devise „Greif zur Feder, Kumpel!“. Dabei verschaffte sie auch dem in der Partei ungeliebten Kunze Aufträge. Kunze schlug sich derweil mit Übersetzungen durch, und exponierte sich besonders mit Nachdichtungen moderner tschechischer Poesie. Als Brigitte Reimann 1968 an Krebs erkrankt, schreibt ihr Kunze berührende Briefe, um ihren Überlebenswillen zu stärken. „So gut wie möglich Kunst (Literatur) zu machen,“, heißt es in einem der letzten Briefe, „das ist uns aufgetragen, keinen anderen Weg gibt es für uns.“
Einen mit Kunzes Erfahrung vergleichbaren Verlust der marxistischen Heilsgewissheit hat auch der 1937 geborene Schriftsteller Hartmut Lange erlebt, der wie Kunze zunächst an das Projekt der sozialistischen DDR glaubte und entschlossen war, sein Talent in den Dienst der Weltveränderung zu stellen. In seiner Kindheit wurde Lange schwer traumatisiert. Als seine Familie 1945 aus Posen im sogenannten Warthegau fliehen wollte, wo sein Vater bei der Polizei arbeitete, wurden sie bald von der Roten Armee eingeholt, der Vater wurde gefangen genommen, den einheimischen Polen übergeben und kurzerhand erschossen. Sein älterer Bruder konnte zwar fliehen, aber nach dem Krieg fiel dieser Bruder 1948 einem Raubmord zum Opfer. Diese Erfahrung des Schreckens hat sich später in die Novellen und Romane Hartmut Langes eingeschrieben, als Signatur einer allumfassenden Lebensangst. Der Essayist Sebastian Kleinschmidt hat nun im aktuellen Heft der Literaturzeitschrift „Sinn und Form“, der Nummer 1/2018, sehr sorgfältig die Spuren dieser Traumatisierungen im Werk Hartmut Langes nachgezeichnet. Am Beispiel einer Novelle Langes über den depressiven Philosophen Alfred Seidel kann Kleinschmidt zeigen, dass hier ein Autor am Werk ist, der jede metaphysische Sicherheit verloren hat und nun nur noch versuchen kann, „im freien Fall zur Ruhe zu kommen“. Lange arbeitete bis 1964 am Deutschen Theater in Ostberlin und verließ dann aber nach seiner Enttäuschung über den autoritären Charakter des kommunistischen Systems die DDR.
Dieses vorbehaltlose Bekenntnis zur Schriftstellerei als Lebensform, wie sie in den Biografien Reiner Kunzes und Hartmut Langes aufscheint, gilt heute in seiner Absolutheit längst nicht mehr für alle Schriftsteller der Gegenwart. Die Fundamente des lange unangefochtenen Systems Literatur wackeln im digitalen Zeitalter bedenklich, unterliegen einer starken Konkurrenz durch unterschiedlichste Medien in der Online-Sphäre.
Mit großer Leidenschaft kämpft indes die von dem Schweizer Poesie-Enthusiasten Urs Engeler betriebene Literaturzeitschrift „Mütze“ für ein emphatisches Verständnis von Literatur. Das aktuelle Heft 19 der „Mütze“ präsentiert einige fabelhafte Texte vom „Zauber der Dichtung“, wie ihn etwa die Schweizer Schriftstellerin Eleonore Frey in ihrer faszinierenden Beschwörung einer ästhetischen „Zwischenwelt“ an der Grenze von Leben und Tod evoziert. Freys Text taucht ein in die Sphäre der Kunst, in eine eben noch das Dasein erfüllende Bücherwelt, die durch das fortschreitende Alter und die damit verbundene Erfahrung der eigenen Schwäche sich langsam aufzulösen beginnt. Es geht um das „Hinübersegeln“ in einen anderen Zustand, um den langsamen Verlust der Glückserfahrung: „Nur die sanghaft rhythmisierte Sprache der Dichtung“, so Eleonore Frey, „kann derart als Musik auf uns wirken, dass wir in der von ihr heraufbeschworenen Welt selig aufzugehen glauben und in eine Art von Schwebezustand geraten, der so lange dauert, als uns der Zauber der Dichtung zu tragen vermag.“ Wie durch kunstvoll geformte Literatur dieser Schwebezustand generiert werden kann, demonstrieren in der „Mütze“ die großartigen Texte der polyglotten Dichterin Dagmara Kraus und der Prosamonolog des Norwegers Svein Jarvoll. In dem von Matthias Friedrich exzellent übersetzten Monolog von Jarvoll geht es um eine Art Wahrnehmungsekstase. Der Ich-Erzähler rekonstruiert einen Akt der schöpferischen Zerstörung: Als Neunzehnjähriger hat dieser Erzähler seinen gesamten Bücherbestand verbrannt. Dieser Zerstörungsakt wird aber zugleich als Öffnung der Sinne beschrieben, als Erweiterung des Bewusstseins, das den Blick auf sämtliche Phänomene der Natur zu einer überwältigenden Erfahrung werden lässt. Dagmara Kraus wiederum folgt in ihrem Gedicht den Wanderungsbewegungen von Millionen „flüchtiger Wörter“ und inszeniert das Ineinander verschiedenster Sprachen und Dialekte aus dem Polnischen, Spanischen, Tschechischen und Deutschen.
Wer sich kundig machen will über das Selbstverständnis einer neuen ästhetischen Kritik in Deutschland, der sollte zum neuen Heft, der Nummer 5 der in Heidelberg erscheinenden Zeitschrift „Die Wiederholung“ greifen. Als „Zeitschrift für Literaturkritik“ konzipiert, entwickeln hier junge ambitionierte Literaturwissenschaftler und Schriftsteller sehr originelle Denkansätze und Leseweisen beim Umgang mit der Gegenwartsliteratur. Hier macht sich etwa der deutsch-amerikanische Dichter und Übersetzer Paul-Henri Campbell einige Gedanken über ein Tattoo von Nora Gomringer, der derzeit populärsten deutschsprachigen Dichterin. Im Juli 2017 kündigte die auf Facebook sehr präsente Dichterin ein Körper-Kunstwerk ganz eigener Art an: „Die Dichter-Tochter hat sich markieren lassen mit der Arbeit des Dichter-Vaters. Die Grafik ist vollendet, das Tattoo auch.“ Die Dichter-Tochter hat sich also ein visuelles Poem des Dichter-Vaters Eugen Gomringer auf den Unterarm tätowieren lassen – das sieht nach einer Liebeserklärung aus, nach dem Bekenntnis zu einer ästhetischen Symbiose zwischen Vater und Tochter. Bei der als Tattoo auf Nora Gomringers rechtem Unterarm eingeritzten „Grafik“ handelt es sich um das Eugen Gomringer-Gedicht „Vokale“: In quadratischer Form werden hier die Vokale „A“, „E“ , „O“ und „U“ in eine horizontale Reihe gebracht, durch die ein Querstrich fährt, der das „I“ repräsentiert. Paul-Henri Campbell wiederum, ein Kenner des Gomringerschen Werks, gibt diesem „performativen Akt“ der Tätowierung eine andere Bedeutung. In seinem exzellenten Essay in der „Wiederholung“ erhebt er Gomringers Tattoo zu einer künstlerischen Performance eigener Qualität: „Während das Gedicht als Gebilde auf einem toten Trägermaterial ein Artefakt darstellt, wird das Gedicht auf dem Körper eines lebendigen Lebewesens zum Individuum.“ Das Tattoo, einst das Kennzeichen der antiken Sklaven, wird – so Campbell - in der Moderne zu einem Zeichen der Freiheit. Gomringers „Vokale“ auf dem Unterarm der Tochter: Ist die Ritzung des Körpers bloßer Schmuck oder doch ein künstlerischer Geniestreich? Ist das Tattoo als das radikalere Gedicht? Ähnlich verblüffende Fragen stellt die Literaturwissenschaftlerin Bärbel Lücke an ein neues Werk der österreichischen Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, die seit einem Jahrzehnt ihre Werke nur noch im Internet publiziert. Bärbel Lücke untersucht nun in ihrem Essay in der „Wiederholung“, wie Jelinek auf die unsägliche Berichterstattung zu einer Verzweiflungstat eines syrischen Flüchtlings in Wien reagierte. Jelinek transformierte den höhnischen Zeitungsartikel und einige brutal-primitive Postings von Facebook-Usern in sprachkritische Dialoge, aus denen sie die problematische Bewusstseinshaltung weiter Teile der westlichen Gesellschaften destillierte. Das literaturkritische Erkenntnisinteresse von Bärbel Lücke gilt hier also dem Verhältnis von digitaler Kommunikation, Facebook-Kultur und Dichtung. Auf welche Weise die Facebook-Kommunikation zum Stoff von Dichtung werden kann, demonstrierte kürzlich auch ein digitales Literaturprojekt von Hannes Bajohr und Gregor Weichbrodt. Sie durchsuchten 280.000 Facebook-Kommentare von Pegida-Anhängern und entwickelten daraus in einem E-Book ein kritisches Brevier der Pegida-Sprache. Müssen wir uns also auf eine Literatur der Zukunft einstellen, die sich darauf beschränkt, als Sammelstelle für das digitale Stimmengewirr zu fungieren? Es wäre eine Literatur, die technisch auf der Höhe der Zeit ist, aber ihren Vorrat an Phantasie vollständig aufgebraucht hat.
Neue Rundschau, Heft 4/2017
S.Fischer Verlag, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt a. M., 182 Seiten, 15 Euro
Sinn und Form, Heft 1/2018
Postfach 210250, 10502 Brerlin. 144 Seiten, 11 Euro
Mütze # 19
Urs Engeler, Turnhallenstr. 166, CH-4325 Schupfart, 52 Seiten, 6 Euro
Die Wiederholung, Heft 5/2017
www.diewiederholung.de, 102 Seiten, 13 Euro
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Michael Braun
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