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Februar 2017
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Zeitschriftenlese  –  Februar 2017
von Michael Braun | Saarländischer Rundfunk – Literatur im Gespräch


„Nein, nein, nein!“: Mit dieser dreifachen Negation wollte der Schrift­steller Wolfgang Koep­pen einmal sein Leben resü­mieren, das dreifach bekräf­tigte Nein erhob er zum Wunsch­titel seiner Auto­biographie. Es blieb, wie so vieles bei Koeppen, bei der An­kün­digung. Die Auto­biografie kam ebenso wenig zustande wie jene großen epi­schen Werke, die der Schrift­stel­ler als Weiter­führung seiner phäno­menalen Roman­trilogie aus den fünf­ziger Jahren geplant hatte. Das große Nein wucherte aus zum Lebens­programm, zum Still­stand seiner lite­rarischen Existenz. Nach dem Büchner-Preis, den man ihm 1962 verlieh, befiel den 1906 in Greifs­wald gebo­renen und 1996 in München gestor­benen Koeppen eine Schreib­lähmung von so gewal­tiger Er­star­rungs­wirkung, dass er sie im Grunde nur noch einmal, mit dem Ab­fassen seiner 1976 ver­öffent­lichten Erzählung „Jugend“ zu über­listen vermochte.
  Im aktuellen Januar/Februar-Heft der Literaturzeitschrift „Sinn und Form“ erinnert nun Ulla Berkéwicz, die langjährige Leiterin und noch immer mächtige Grande Dame des Suhrkamp Verlags, in einer bewegenden Rede an die Geschichte von Koeppens Schreibkrise. 36 Jahre lang hielt der Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld in unerschütterlicher Loyalität zu seinem Autor, unterstützte ihn mit großer Geduld, förderte dessen immer wieder verworfene Romanprojekte, finanzierte ihm schließlich eine große Schiffsreise, um Koeppen endlich aus seiner Lähmung zu erlösen. Aber Koeppen schwieg, saß an seinem leeren Schreibtisch, nur seine Träume waren in Bewegung. Seinem Verleger schrieb er ergreifende Briefe mit der Bitte um Nachsicht. „Ich habe alles“, heißt es da einmal, „meine Sprache, meine Themen, und ich schreibe nicht. Keine Verwertung.“ In seiner Wohnung in München, berichtet Ulla Berkéwicz, waren Wäscheleinen quergespannt, auf dem Boden fanden sich Körnerhaufen und es standen diverse Tröge herum. Das war das Lebenselixier nicht nur für den Schriftsteller Koeppen, sondern auch für sein Lieblingstier, einen grauen Spatz, dem Koeppen den Namen Fünferl gab, weil seine Frau ihn seinerzeit für fünf Pfennige gekauft hatte.
  Der Fall Koeppen: Er ist bis heute das Emblem für eine literarische Existenz, die vom Verstummen bedroht ist, von der Verweigerung aller literarischen Routine.
  In „Sinn und Form“ gibt es noch einen zweiten Beitrag, der einen Autor bzw. eine Autorin an der Grenze zum Ausstieg aus dem Literaturbetrieb zeigt. Es sind die Aufzeichnungen von Elisabeth Borchers, der Dichterin und Verlagslektorin, die in den Jahren 1999 bis 2005 ihre Erinnerungen an eine längst vergangene Welt der gloriosen Dichtergestalten und epochalen Bücher aufgeschrieben hat. Auf der Höhe ihrer Gedichte, hat Arnold Stadler einmal geschrieben, „ist nicht alles verloren, wenn alles verloren ist“. Von 1961 an hat Elisabeth Borchers vier Jahrzehnte lang als Verlagslektorin, zunächst bei Luchterhand und später im Suhrkamp Verlag, die Entstehung der maßgeblichen Werke der deutschen Gegenwartsliteratur begleitet. Ihre Sorgfalt und Akribie als Lektorin sind legendär. Als zum Beispiel Peter Weiss 1980 das Manuskript seines Jahrhundertromans „Die Ästhetik des Widerstands“ abgeschlossen hatte, verzweifelte er fast, als Elisabeth Borchers unzählige und meist sehr berechtigte Korrekturen am Text vornahm. Der Die Aufzeichnungen von Borchers, die in „Sinn und Form“ gedruckt sind, setzen ein mit der Erinnerung an ihre Begegnungen mit der Dichterin Marie Luise Kaschnitz. Borchers kommt hier zu einem ernüchternden Ergebnis: Sie konstatiert die „Unversöhnlichkeit zwischen Autor und Lektor“, der Autor verweigere hartnäckig die „Einsicht in seine Fehlbarkeit“. In schönen poetischen Vignetten und kleinen Szenen erzählt Borchers von den Ambivalenzen literarischer Freundschaften: Die berauschende Empfindung intensiver Gemeinsamkeit kann bei diesen Dichterfreundschaften rasch umschlagen in tiefe Enttäuschung und schlimme Verbitterung.
  Um im Literaturbetrieb langfristig überleben zu können, muss man indes ablassen können von dieser Verbitterung. Diese Lebenskunst wird uns beispielhaft von einigen Zeitschriftenmachern vorgeführt, die seit vielen Jahren in ihren Blättern eine Weltkarte der Poesie entwerfen. Zu diesen großen Poesie-Entdeckern gehört der Berliner Dichter und Übersetzer Michael Speier, der seit nunmehr 40 Jahren die Zeitschrift „Park“ herausgibt und mit den 69 bislang erschienenen Ausgaben eine große Anthologie der internationalen Gegenwartslyrik geschaffen hat. Im Dezember 1976 hat Michael Speier erstmals seinen „Park“ geöffnet, damals noch in Heidelberg, als dort wie anderswo noch die Tonlagen der sogenannten „Neuen Subjektivität“ das lyrische Geschehen dominierten. Nach einer ersten Phase, in der noch die neusubjektive Alltagslyrik in „Park“ vertreten war, wurde dann immer mehr die sprachmagische Tradition der modernen Lyrik zum Kraftzentrum der Zeitschrift. Der Berliner Spielart des Surrealismus wurde viel Raum geboten, mit Autoren wie Richard Anders, Lothar Klünner oder Joachim Uhlmann, die heute kaum mehr jemand kennt. Die Faszination an der lyrischen Sprachmagie entzündete sich nicht nur an Stefan George, der mit seinem berühmten Gedicht vom „totgesagten park“ zum Titelgeber der Zeitschrift wurde, sondern auch an Paul Celan, über den Michael Speier auch als Literaturwissenschaftler viel geforscht hat. Große mystische Weltpoeten wie der Italiener Andrea Zanzotto oder der Tschuwasche Gennadij Ajgi hatten in „Park“ ihren ersten Auftritt in Deutschland. Seit den ersten Heften hat „Park“ auch Dossiers über europäische wie amerikanische Nachbarliteraturen angelegt, eine große Enzyklopädie moderner Dichtung. Das aktuelle Heft 69 von „Park“ wird mit fünf neuen Gedichten von Monika Rinck eröffnet, die in unterschiedlicher Weise mit Kunst und Schöpfungsprozessen zu tun haben. So werden die Listen der großen Kulturtheoretikerin Susan Sontag zum Thema. Desweiteren geht es um Dichter, „die versuchen, die Schönheit u verteidigen, ohne sie zu kennen“, nicht zuletzt um eine Geistes- und Architekturgeschichte, die durchsetzt ist vom Irrtum: „sie bauen sie bauen im irrtum. Bauen / im quadrat oder quartett eine gewaltige chose im irrtum. / was immer sie im irrtum bewirken, es fügt sich zum sturz./ …als wäre das alphabet selbst/ im irrtum vorhanden.“ Uwe Kolbe schreibt gewaltige Gedichte in antiken Versmaßen über das Glück und Elke Erb riskiert in diesem Zusammenhang eine gewagte Definition: „Poesie ist schlichthin Glück.“ Das neue „Park“-Heft veröffentlicht auch Hans Thills schöne Laudatio auf einen poetischen Solitär und Hermetiker, der zwei Jahrzehnte lang an der Armutsgrenze lebte, vergessen vom Literaturbetrieb. Es geht um Rainer René Mueller, in dessen „Lieddeutsch“ sich verschiedene Sprachschichten mischen: das Mittelhochdeutsch der Minnelyrik, das Jiddische, französische Brocken und eine in die Tiefen der deutschen Barbarei führende, extrem verdichtete Sprache der Wortreste in zersplitterter Syntax. Muellers Dichtung, so Hans Thill, ist eine „finstere Materialkunde“, in der die Geschichte des Holocaust in schmerzhaften Fügungen aufblitzt.
  Um Rainer René Mueller hat sich auch der Schweizer Lyrik-Editor Urs Engeler verdient gemacht, der nun in der aktuellen Nummer 14 seiner Zeitschrift „Mütze“ eine mikroskopische Einzelbetrachtung eines Gedichts von Rainer René Mueller vorlegt. Die Literaturwissenschaftlerin Chiara Caradonna hat sich hier über Muellers Gedicht „Rißvernähung: Oxygène“ gebeugt, den Text in seiner Zeichenstruktur genauestens untersucht und jedes Bilddetail entziffert. Dieser philologischen Feinmechanik verdanken wir einige schöne Einsichten – etwa den Hinweis auf Kafkas und Muellers Adaption des Mythos vom Gesang der Sirenen. Nach Homers „Odyssee“ und anderen antiken Erzählungen schlugen die Sirenen durch ihren betörenden Gesang vorbeifahrende Schiffsleute in Bann, um sie dann zu töten. Bei Kafka und auch bei Rainer René Mueller finden wir die paradoxe Pointe, das Schweigen der Sirenen sei eine „noch schrecklichere Waffe als ihr Gesang“.
  Das von Chiara Caradonna gewählte Verfahren der analytischen Präparierung von Texten finden wir auch in der von dem Heidelberger Literaturwissenschaftler und Lektor Leonard Keidel herausgegebenen Zeitschrift „Die Wiederholung“. Diese „Zeitschrift für Literaturkritik“ will – so die Selbstauskunft – dem literarischen Werk „auf Augenhöhe“ begegnen und hat dabei wohl durchaus die Ambition des Frühromantikers Friedrich Schlegel im Sinn, der einst stolz verkündete, dass „Poesie nur durch Poesie kritisiert werden“ kann, gleichsam im Akt einer qualitativen Potenzierung.
  Das neue Heft der „Wiederholung“, die Nummer 3, ist die bislang stärkste Ausgabe, enthält sie doch einige sehr anregende Beiträge, beispielsweise zu Werken von Gerhard Falkner, Ann Cotten und Alexander Kluge. Alexandru Bulucz untersucht in einer luziden Betrachtung Gerhard Falkners Gedichtband „wemut“ aus dem Jahr 1989 und macht sich einige schöne Gedanken über den fehlenden Buchstaben „h“ in „wemut“. Und er kommt zu dem überraschenden Ergebnis, dass für Falkner der Buchstabe „h“ geradezu heilig ist, dass er damit in die Fußstapfen des Sprachmystikers Johann Georg Hamann tritt, der einst eine „neue Apologie des Buchstabens h“ verfasst hatte.
  Zum Schluss möchte ich noch auf ein Meisterwerk der feinsinnigen Literaturexegese verweisen, das soeben als Sonderheft der österreichischen Literaturzeitschrift „Die Rampe“ erschienen ist. Es ist dem in Linz lebenden Lyriker, Herausgeber und Kurator Christian Steinbacher gewidmet, der sich seit dreißig Jahren sehr viel für eine Weiterentwicklung der sprachexperimentellen Poesie engagiert. In diesem großformatigen, 216 Seiten starken Heft der „Rampe“ ist mit großer Sorgfalt eine Werkgeschichte des Dichters Christian Steinbacher zusammengetragen worden, hervorragend ausgestattet mit instruktiven Essays, schönem Bildmaterial, einer verlässlichen biografischen Zeittafel und faksimilierten visuellen Poemen. Wer jemals einen Bühnen-Auftritt Steinbachers erlebt hat, der weiß, dass er sein Interesse an poetischer Beweglichkeit und an kunstvoller poetischer Abschweifung in seine Körpersprache übertragen hat. Seinen Gestenreichtum auf der Bühne hat er in seine überraschungsreichen, poetisch mäandernden Texte integriert; ein Sprachtänzer und poetischer Unruhestifter, der keine Konvention gelten lässt. Anton Thuswaldner sagt es in der „Rampe“ so: „Ein Gedicht von Christian Steinbacher befindet sich immer auf dem Sprung….es pfeift auf metaphysischen Zauber…diese Lyrik agiert wie ein Aufräumkommando, das dazu berufen ist, konventionelle Aussagen zu beseitigen.“


Sinn und Form, H. 1/2017  externer Link
Postfach 21 02 50, 10502 Berlin. 144 Seiten, 11 Euro

 

Park, H. 69  externer Link
Michael Speier, Tile-Wardenberg-Str.18, 10555 Berlin, 110 Seiten, 8 Euro

 

Mütze #14 (2017)   externer Link
Urs Engeler, Turnhallenstr. 166, CH-4325 Schupfart, 52 Seiten, 6 Euro

 

Die Wiederholung, Heft 3 (2016)   externer Link
Leonard Keidel, Zwingerstr. 11, 69117 Heidelberg, 80 Seiten, 13 Euro

 

Die Rampe, Heft 3/2016  externer Link
Sonderheft: Christian Steinbacher, Hrsg. von Florian Neuner.
StifterHaus, Adalbert-Stifter-Platz 1, A-4020 Linz. 216 Seiten, 11,90 Euro

 

 
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