Juni 2008
Zeitschriftenlese – Juni 2008
von Michael Braun | Saarländischer Rundfunk
In der katholischen Theologie gehört der Hochmut, die „superbia“, zu den schwersten Todsünden, die ein Mensch auf sich laden kann. Anders dagegen in der Welt der Dichter. Dort gehört der Hochmut zu den Elementarbedingungen des literarischen Erfolgs. Dort wird gewaltig aufgetrumpft, um vor allem die Kollegen und ab und an auch die Kritiker kleinzureden. Schon Hans Magnus Enzensberger hat wenig schmeichelhaft über die Manieren seiner Dichterkollegen gesprochen. In einem kleinen Sittenbild zum internationalen Lyrik-Betrieb wusste er 1989 zu berichten, dass in der Dichter-Zunft Missgunst und Größenwahn dominieren: „Je mikroskopischer die Erfolge“, so Enzensberger, „desto kleinkarierter der Konkurrenzkampf.“
Wie um diese boshafte Einschätzung zu bestätigen, überboten sich kürzlich in Heft 20 der ebenso intelligenten wie umtriebigen Zeitschrift „BELLA triste“ einige Dichter mit rhetorischen Kraftgebärden. In einem Mail-Dialog teilten der einst einflussreiche Sascha Anderson, der nach seiner Enttarnung als Stasi-Agent 1991 einen Karriereknick erlitten hatte, und der Berliner Großstadtpoet Tom Schulz, böse Hiebe gegen ihre jungen Kollegen aus. „Die talentiertesten jungen Dichter hierzulande“, so höhnte Tom Schulz, „sie sind eben nicht zerstört vom Wahnsinn, sondern gute Kleinunternehmer. Sie nehmen jeden Auftrag an, jedes Stipendium, jeden Preis der Deutschen Industrie. Sie schreiben für BILD und BZ, damit die Sparlampe im Kühlfach nicht ausgeht.“ Die literarischen Opportunisten sind immer die andern, will uns Tom Schulz offenbar sagen – das heroische Außenseitertum reklamiert der Polemiker selbstredend für sich. Obwohl es sich in seinem Fall nur um eine kaum kaschierte Angeberei handelt. Offenbar ist der schnellen Kommunikationsform der sogenannten E-Mail eine gewisse Tendenz zur intellektuellen Leichtfertigkeit eigen. Die „BELLA triste“-Redaktion hatte zehn Autoren zu „E-Mail-Gesprächen über Lyrik“ animiert – und heraus kam dabei eine aufschlussreiche kollektive Selbstentblößung, überreich an groben Attacken gegen berühmte und unberühmte Kollegen. „Gibt es noch Kriterien für ein gelungenes Gedicht“, so schleudert Tom Schulz eine rhetorische Frage in die Mailbox, „oder ist alles nur eine Frage der Körbchengröße, des Penisneids?“
Neben solchem Unfug finden sich immer wieder auch intellektuell differenzierte Denkfiguren in diesen E-Mail-Gesprächen. Vor allem der wilden Ann Cotten gelingt es, ihren E-Mail-Korrespondenten Florian Voß in seiner Larmoyanz zu erschüttern. Während Voß immer wieder in denkwürdigem Selbstmitleid eine adäquate „Bezahlung“ seiner Gedichte fordert, müht sich Cotten um scharfkantige poetologische Bekenntnisse. Sie wirbt einnehmend um Autoren und Texte aus dem Umfeld der österreichischen „Postavantgarde“, um einen Atemzug später doch wieder in maliziöse Ironie zu verfallen. An keiner Stelle können sich die Mail- Schreiber auf die lyrischen Größen ihrer Generation einigen. Stattdessen hagelt es Witzeleien. Auf den Einwurf von Florian Voß, er ziehe den „seriellen Sonetten“ eines Franz-Josef Czernin die Gedichte von Lutz Seiler vor, kontert Ann Cotten: „Und Lutz Seiler besser als Czernin? Packerlspaghetti besser als Carpaccio?“ Und so wabert es weiter im Hin und Her der Sottisen – bis alles im Palaver der Geschmacksästhetik untergeht.
Offenbar ist der „BELLA triste“-Redaktion selbst der akut drohende Diskurs-Leerlauf aufgefallen denn im aktuellen Heft 21 werden nun zwei respektable Lyriktheoretiker, die Literaturwissenschaftler Peter Geist und Martin Endres aufgeboten, um die Angelegenheiten der Poesie wieder zu ordnen. Peter Geist echauffiert sich dabei vor allem über den sprachphilosophischen Fetischismus, den nach seiner Ansicht vor allem experimentelle Lyriker wie Ulf Stolterfoht und der junge Christian Schloyer zu verfallen drohen. Der erste Teil dieses neuen „BELLA triste“-Heftes ist ganz den Teilnehmern eines viel diskutierten Lyrik-Wettbewerbs in Hildesheim gewidmet. Dabei gilt es gleich zwei aufregende Entdeckungen zu vermelden. Zum einen die wortüberdrehte, mythologisch und lexikalisch unterfütterte Sprachverrücktheit der in Venedig lebenden Dagmara Kraus und die durch subtile Interferenzen überlagerten Wahrnehmungs-Protokolle des Leipzigers Andre Rudolph.
Während „BELLA triste“ immer wieder die Erkenntnissprünge und auch die Abirrungen der Jungen Lyrik thematisiert, kümmert sich die kosmopolitischste Literaturzeitschrift Deutschlands, Norbert Wehrs „Schreibheft“, mehr um die Wiederbelebung und Neuinterpretation der klassischen Moderne. Im aktuellen Heft 70 des „Schreibhefts“ erläutert Norbert Hummelt seine Neuübersetzung eines poetischen Klassikers, nämlich seine Neuübertragung von T. S. Eliots Langgedicht „The Waste Land“, das bei seinem ersten Erscheinen 1922 die Welt der Poesie von Grund auf veränderte. In klugen Anmerkungen erklärt Hummelt seine Übersetzungs-Entscheidungen, mit denen er der uralten Übertragung von Ernst Robert Curtius weit näher steht als der bislang kanonischen Version von Eva Hesse.
Dass Gespräche und vor allem Briefwechsel über Poesie sich nicht auf kurzatmige narzisstische Reflexe beschränken müssen wie bei „BELLA triste“, zeigt das aktuelle Sommer-Heft, die Nummer 2/2008 der „Zeitschrift für Ideengeschichte“, das sich mit der kulturhistorischen Ausdeutung „Letzter Worte“ beschäftigt. Der aufregendste Beitrag des Heftes kreist gerade nicht um „Letzte Worte“, sondern um „Erste Briefe“, die Exilanten aus Nazideutschland nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches an die im Lande gebliebenen Wortführer der sogenannten Inneren Emigration schrieben. Und da tut sich doch ein riesiger Qualitäts-Graben auf zwischen diesen „Ersten Briefen“ und dem kleinlichen E-Mail-Gezänk unserer Jungdichter. Der amerikanische Kulturwissenschaftler David Kettler zitiert zum Beispiel in der „Zeitschrift für Ideengeschichte“ aus den bewegenden Briefen, die der Soziologe Siegfried Kracauer 1947 an den damaligen Theoretiker des literarischen „Kahlschlags“, den Dichter Wolfgang Weyrauch geschrieben hat. Mit einiger Verbitterung teilt Kracauer seinem Briefpartner mit, es seien „Dinge“ geschehen, die es ihm „unendlich schwer machen wieder Vertrauen zu Menschen von drueben zu fassen“. Während der ganzen Hitlerzeit, so insistiert Kracauer, habe Weyrauch nichts von sich hören lassen, so dass er nun seinerseits auf einer notwendigen Distanz beharre. Vier Jahre später zeigte sich Kracauer dann versöhnlicher, nachdem er entdeckte, dass Weyrauch eine Aktion zur Unterstützung jüdischer Schriftsteller in Deutschland gestartet hatte. Weitere Briefe des Rechtstheoretikers Ernst Fraenkel und des Schriftstellers Carl Zuckmayer zeigen, wozu die Kultur des literarischen Briefes in der Lage war – und wie wenig heute davon übrig geblieben ist.
Welche traumatischen Erfahrungen mit dem Kriegsende und der Zeitenwende 1945 verbunden sein können, erhellt auch aus einem Erinnerungstext des Schriftstellers Hartmut Lange, dessen Vater 1944 von der Roten Armee im sogenannten Warthegau erschossen wurde. In seinen Erinnerungen an seine Mutter hat Hartmut Lange im aktuellen Mai/Juni-Heft der Zeitschrift „Sinn und Form“ die Urszenen seines Lebens aufgezeichnet. Das Weltgefühl des damals achtjährigen Lange war die Angst. Nur wenige Jahre nach der Erschießung des Vaters verlor er auch seinen Bruder, der nach einer Tanzveranstaltung in Berlin ermordet wurde. Von seiner launischen Mutter wurde der Junge immer wieder geschlagen und musste bald ihren körperlichen Verfall miterleben. Als sich Lange um 1960 für den Lebensweg des Schriftstellers entschied, blieb ihm die Angst als „Triebfeder des Schreibens“. Im Gespräch mit Ralph Schock erklärt Lange in „Sinn und Form“ seine weltanschaulichen Metamorphosen. Als überzeugter Marxist hatte er zu schreiben begonnen, aber der auf Hegel und Marx gestützte Rationalismus vermochte nie sein Transzendenzbegehren zu stillen. Die „existentielle Not des einzelnen“, so erkannte Lange, ist im Marxismus ein blinder Fleck. So wandte er sich nach 1980 den Philosophen des Existenzialismus zu: Pascal, Kierkegaard und Nietzsche. Und in seinen Novellen kreiste er fortan um den nihilistischen Abgrund, der sich vor dem Menschen der Moderne öffnet.
Die „Conditio humana“, die Hartmut Lange in seinen finsteren Novellen erforscht, wird von der beständigsten und lebendigsten Kulturzeitschrift der letzten zwanzig Jahre, nämlich von „Lettre International“, aus allen nur denkbaren Erkenntnisperspektiven und Wissensgebieten ausgelotet. Diese Zeitschrift ist ein einzigartiges Phänomen. Seit 20 Jahren versammelt ihr deutscher Herausgeber Frank Berberich, der im Mai 1988 in Berlin eine der mittlerweile fünf europäischen Ausgaben von „Lettre“ gründete, die klügsten Köpfe und anti-ideologischen Denker der europäischen Intelligenz – und zwar ohne öffentliche Förderung und ohne an irgendeinem Tropf einer amtlichen Institution zu hängen. Mit einiger Bitterkeit kommentiert Berberich immer wieder die geistige Bräsigkeit jener Konkurrenzblätter, die sich es unter dem Dach von Verlagen, Akademien oder des deutschen Literaturfonds gemütlich machen und dabei ihr unabhängiges Denken einbüßen. Dagegen ist jedes neue Heft von „Lettre international“ ein publizistisches Wunder. Denn „Lettre“ finanziert sich einzig aus dem Anzeigengeschäft und dem Verkauf und hält trotzdem seinen intellektuellen Kurs ohne jedes Zugeständnis an den Publikumsgeschmack. Obwohl überall in Magazinen und Zeitschriften die Textstrecken auf ein Minimum schrumpfen, gibt es in „Lettre“ weiterhin Platz für lange aufregende Reportagen und für subtile Essays zu Kernfragen der internationalen Politik, der Ästhetik und der Naturwissenschaften. Jedes Heft versammelt in sehr kleiner Schrift die Textmengen von drei Taschenbüchern – und dennoch werden jeweils 16.000 Exemplare der Zeitschrift verkauft. Das opulente Jubiläumsheft von „Lettre international“, das auf 250 großformatigen Seiten fünfzig Essays, Reportagen und Kurzgeschichten nebst 85 künstlerischen Arbeiten bündelt, ist ein Kunstwerk der Gegenwartsdiagnostik. Die Betonung liegt in diesem Fall auf „Kunstwerk“: Denn die bewährten Essays – etwa zur Aussichtslosigkeit des amerikanischen „Kriegs gegen den Terror“ oder zur Anatomie der Unterdrückung in Birma oder auch die Chroniken zur Geschichte der Repression in China oder in Putins Machtstaat – treten diesmal ein wenig zurück hinter das aufregende Panorama der Gegenwartskunst. In blendender Dichte sind hier nämlich die Photographien, Malereien und Installationen der eigensinnigsten Gegenwartskünstler versammelt. Das provokativste Bildwerk finden wir gleich auf dem Heftumschlag von „Lettre“. Es ist eine Arbeit von Georg Baselitz, die zwei verschiedene Bildmotive synthetisiert. Zwei derangierte, zerrupfte Kriegsheimkehrer sind im Bildhintergrund zu sehen. Davor glüht in gewaltsamer Zerrissenheit das mythische Swastikazeichen, das die Nazis einst zum Hakenkreuz umfunktionierten. Die Katastrophen terroristischer Staatsgewalt sind hier in drastischer Symbolik illustriert. „Lettre International“ führt uns unter dem Titel „The Way We Live Now“ in den Abgrund unserer Gewaltobsessionen. Eine beruhigende Lektüre ist das nicht. Aber eine notwendige.
BELLA triste, Nr. 20 und 21
Moltkestr. 64, 31135 Hildesheim
170 Seiten und 140 Seiten, 8 und 5 Euro
Schreibheft, 70
Rigodon Verlag, Nieberdingstr. 18, 45147 Essen
224 Seiten, 12 Euro
Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft II/2008
C.H. Beck Verlag
c/o Deutsches Literaturarchiv Marbach, Schillerhöhe 8-10, 71672 Marbach
128 Seiten, 12,40 Euro
Sinn und Form, Heft 3/2008
Postfach 210250, 10502 Berlin
140 Seiten, 9 Euro
Lettre international, Heft 81 (2008)
Erkelenzdamm 59/61, 10999 Berlin
250 Seiten, 17 Euro
Michael Braun18.06.2008
Saarländischer Rundfunk | Zeitschriftenlese Juni 2008
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