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Oktober 2016
Die tiefe Erschöpfung an den Ritualen des Literaturbetriebs, die Ermattung angesichts der künstlich erhitzten Aufregungen und der meist lächerlichen, zwergenhaften Skandale – sie werden seit Jahren beklagt. Und doch gehören all diese Aufregungen zu den Grundnahrungsmitteln unserer Büchermenschen. Ein Beispiel hierfür liefert das aktuelle Oktober-Heft der Kulturzeitschrift „Merkur“, nach wie vor das Zentralorgan für intellektuelle Freigeister. Hier setzt sich nämlich ein Autoren-Duo in Szene, der Kulturwissenschaftler Tilman Richter und der Essayist Max Wallenhorst, zwei Mittzwanziger, die sehr eloquent und auch ein wenig verquast über ihre Pilgerfahrt nach Klagenfurt berichten, das berühmt geworden ist durch den seit bald 40 Jahren dort ausgetragenen Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis.
Welche Form von assoziativ switchender Essayistik er bevorzugt, hatte der junge Max Wallenhorst kürzlich in Heft 69 der Literaturzeitschrift EDIT demonstriert. Hier veröffentlichte er einen sehr sprunghaften, mit vielen Fußnoten und Internet-Materialien drapierten Text über die sogenannte „Polyamorie“, also über die libertäre Form der Liebe mit mehreren Partnern.
Im „Merkur“ amüsiert er sich nun über Klagenfurt als literarische Kultstätte. Viele Jahre lang war Klagenfurt ja das Mekka für literarischen Geltungsdrang und professionelle Wichtigtuerei, berüchtigt für das Generieren oder auch das Verhindern von literarischen Karrieren. Doch mittlerweile ist auch dieser Wettbewerb nicht von der allgemeinen Bedeutungsschrumpfung der einstigen literarischen Großereignisse verschont geblieben. Wenn heute der Jury-Vorsitzende seine Stimme erhebt, bleibt das erhoffte Erdbeben aus, nur das Wispern der hastigen Facebook- und Twitter-Kommentare ist noch vernehmbar. Wer zu dem abgenutzten Spektakel in Klagenfurt noch etwas Substantielles schreiben möchte, muss vor allem eine originelle These aufbieten.
Tilman Richter und Max Wallenhorst haben sich nun im neuen „Merkur“ etwas ganz Feines ausgedacht – nämlich ein Plädoyer für „Schwache Texte“. Das klingt zunächst widersinnig – denn schwache Texte gibt es in Klagenfurt genug, aber muss nicht jeder Literaturbegeisterte starke Texte erhoffen?
Wer die Entstehungsgeschichte des Plädoyers für „schwache Texte“ verfolgt, muss nur im „Merkur“-Archiv nachschauen und stößt dort auf einen Text aus dem Jahr 1980, auf den nun der Beitrag von Richter und Wallenhorst gleichsam die spiegelverkehrte Antwort liefert. Der Kritiker Reinhard Baumgart hatte 1980 im „Merkur“ eine „Momentaufnahme deutscher Prosa“ am Beispiel des Klagenfurter Wettbewerbs veröffentlicht – und sein Befund kann nun 36 Jahre später ohne Einschränkungen wiederholt werden. Bereits der Titel seines Aufsatzes klingt wie eine höchst aktuelle Diagnose. Er lautet: „Am Rande der Erschöpfung weiter“. Was Reinhard Baumgart 1980 verblüfft festhält – nämlich „das fast deprimierend ebenmäßige Niveau aller dort vorgetragenen Texte“ und einer durchgehend „mittleren Qualität“ könnte fast exakt für den Jahrgang 2016 wiederholt werden. „Es entstanden“, so bilanzierte Baumgart, „kleine, graue, genaue Abbilder unserer Gegenwart und Vergangenheit, störrisch manche, resignativ viele. Diese Erzähler redeten wie gegen undeutliche Lähmungserscheinungen an. Sie produzierten viele Beobachtungen, wenig Handlung.“
Was machen nun Tilman Richter und Max Wallenhorst daraus? Sie liefern ein ironisches Gruppenbild vom Zusammenwirken von Autoren, Juroren, Verlegern und Journalisten. Und dann trumpfen sie auf mit ihren Beobachtungen zur Notwendigkeit „schwacher Texte“. Hatte Reinhard Baumgart noch davon geschrieben, dass „starke Texte“ mit ihrer „Autoritätsgeste“ das Wettbewerbsklima gestört hätten, räsonieren Richter und Wallenhorst in ziemlich absonderlichen Argumenten über den Vorzug „schwacher Texte“ in Klagenfurt: „Wir brauchen schwache Texte. Oh! Noch viel schwächere. Noch viiiel schwächere. Hui…Schwache Texte machen das, was Texte am Besten können: Wurmlöcher! Die Chance, zeiträumlichen Nähen neue Formen von Nähe hinzuzufügen.“
Wer sich ungern in „Wurmlöchern“ aufhält, kann sich dafür an einigen hochinteressanten Beiträgen in den drei jüngsten „Merkur“-Heften erfreuen, die sich sehr fundiert mit literarischen und literaturbetrieblichen Phänomenen beschäftigen. Dirk Knipphals legt im Oktoberheft des „Merkur“ eine grundsätzliche Abhandlung über die Arbeit von Literaturjurys vor. Seit der Gründung der beiden großen deutschen Buchpreise, des Leipziger Buchpreises und des großen Deutschen Buchpreises, haben die Literaturjurys offenkundig neue Macht gewonnen. „Seit es die beiden großen Buchpreise gibt“, so resümiert Knipphals, „hat jedenfalls die Energie merklich nachgelassen, die Gegenwartsliteratur auf den Begriff bringen zu wollen.“
So kann man es einen Glücksfall nennen, dass der „Merkur“ eine neue Reihe zur Gegenwartslyrik eingerichtet hat, die „inter_poems“, in der jeweils deutsche Lyrikeri(innen) die Sprachgrenzen überschreiten und auf internationale Autoren aufmerksam machen. Im August-Heft beschäftigt sich die Dichterin Uljana Wolf mit der kanadischen Poetin Erin Moure, die den Versuch unternommen hat, mittelalterliche Troubadour-Lyrik in portugiesisch-galizischer Sprache in ein zeitgemäßes Englisch zu bringen. Moures Gedichtübertragungen orientieren sich, so Uljana Wolf in ihrem „Merkur“-Essay, „an den „klanglichen >Tapisserien› der Worte, ihren Wiederholungen und Mustern“.
Im September-Heft des „Merkur“ macht sich Dagmara Kraus Gedanken über eine ganz spezifische Art von Schöpfungs-Poesie – über Dichterinnen, die ihre Mutterschaft thematisieren. Denn mit einem brüllenden Säugling vermögen Dichterinnen kaum mehr zu schreiben. Mit der polnischen Dichterkollegin Joanna Mueller stellt Dagmara Kraus indes eine Autorin vor, die ihre Mutterschaft auch poetisch fruchtbar macht, als „intima thule“ und dadurch eine Urszene schafft, so wie sie auch die Dichterin Kerstin Preiwuß schildert: „Was ist Gebären anderes als Anfang und Ende von allem.“
Es zeigt sich: Der „Merkur“, der sich lange Jahre sehr zurückhaltend zeigte in Sachen Dichtkunst, ist nun wieder Pflichtlektüre für Freunde der Poesie.
Merkur, Heft 8, 9, 10 /2016
Klett-Cotta, Redaktion: Mommsenstr. 29, 10629 Berlin. Je 110 Seiten, je 12 Euro
Edit, Heft 69 (2016)
Edit e.V., Kästhe-Kollwitz-Str. 12, 04109 Leipzig, 128 Seiten, 5 Euro
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Michael Braun
Bericht
Archiv
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