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April 2014
Auf literarische „Manifeste“, die mit wohlfeilen Allgemeinbegriffen ästhetische Handlungsanleitungen in Umlauf bringen, reagieren Schriftsteller heute allergisch. Das war in der jüngeren Literaturgeschichte nicht immer so. Den höchsten Einschüchterungswert, den je ein literarisches Manifest erzielt hat, verdanken wir einem berühmten Aufsatz Hans Magnus Enzensbergers im legendären „Kursbuch 15“ aus dem Jahr 1968. In diesen „Gemeinplätzen, die neueste deutsche Literatur betreffend“, verhängte der damals kulturrevolutionär auftrumpfende Enzensberger de facto ein Schreibverbot für seine politisch progressiven Kollegen. „Heute“, so orakelte Enzensberger damals, „liegt die politische Harmlosigkeit aller literarischen, ja aller künstlerischen Erzeugnisse offen zutage: schon der Umstand, dass sie sich als solche definieren lassen, neutralisiert sie.“ Das klang nach kunstfeindlichem Rigorismus, war aber letztlich nur eine ästhetische Pose, die bald neue Manifeste und Gegen- Manifeste nach sich zog. Die Literatur stellte sich nur für Sekunden tot, um kurz darauf mit gefestigtem Selbstbewusstsein ihre Wiederauferstehung zu feiern.
Nun hat sich etwas überraschend die Kulturzeitschrift „Neue Rundschau“ in ihrer neuen Ausgabe, dem Heft 1 / 2014, vorgenommen, die jüngere Autorengeneration zu „Manifesten für eine Literatur der Zukunft“ zu animieren. Obwohl viele der Eingeladenen am Sinn dieses Unternehmens zweifelten, haben sich dann doch dreißig Autoren von dem Gastherausgeber Jan Brandt mehr oder weniger umfangreiche Statements zum Thema entlocken lassen. Dabei ist ein fast 400 Seiten starkes Heft herausgekommen, das sich Mühe gibt, die Beliebigkeit futurologischer Literatur-Spekulation zu vermeiden. Wer fürchtet, hier auf die Wunschbilder einer schönen neuen Welt der Vernetzung zu treffen, wird sich leider rasch bestätigt fühlen und hastig weiterblättern. Denn Autoren wie Nikola Richter, Rery Maldonado oder der Schweizer Lukas Jost Gross träumen ihre niedliche Utopie vom Triumphzug der digitalen Literatur. Allen Ernstes wird hier eine neue literarische Schwarmintelligenz ausgerufen: „Die Fünfte Internationale kann nur in freien Räumen im Netz entstehen.“ Mit solchem internet-gläubigem Naschwerk, das sich wie ein kulturpolitisches Programm der Piratenpartei liest, muss man sich aber nicht langweilen. Denn in diesem Zukunfts-Dossier der „Neuen Rundschau“ verbergen sich auch einige listige, widerständige Texte, die auf amüsante Weise die „Manifest“-Erwartung unterlaufen. Da ist etwa ein langes Gedicht von Björn Kuhligk, das Poetik-Debatten ironisch konterkariert und die hervorgehobene Position des Dichters mit dazu: „Ich weiß nicht, was ein Gedicht ist“, heißt es da, „ich weiß, dass jemand, der sich für einen großen oder wichtigen Dichter /hält, einen Knall hat.“ In einem schönen Vers wird hier die Autonomie der Poesie zusammengefasst: „Das Gedicht grenzt im Westen an die Vereinigten Staaten der Zwecklosigkeit.“ Der schönste, weil alle Zukunfts-Erwartungen vollständig negierende Text ist ein mixtum compositum aus unglaublichen Geschichten, das sich der Leipziger Autor Francis Nenik ausgedacht hat. Nenik berichtet von dem fiktiven dänischen Schriftsteller Ove Balling, der es sich, entnervt durch seinen grandiosen literarischen Misserfolg, zum Ziel setzte, seine eigene Romantrilogie zum Verschwinden zu bringen. Der Pop-Künstler Robert Rauschenberg hatte es dereinst geschafft, mit Hilfe diverser Radiergummis ein Gemälde des abstrakten Expressionisten Willem de Kooning auszuradieren. So beschloss auch der unglückliche Ove Balling, einen ähnlichen Weg zu gehen und alle Exemplare seiner Romantrilogie zurückzukaufen, sie bis auf ein Exemplar zu verbrennen und das letzte Exemplar zu zerschneiden und die einzelnen Blätter mit Hilfe von Tipp-Ex in weiße Seiten zu verwandeln. „Die Zukunft der Literatur“, so zitiert Nenik den selbstdestruktiven Dänen, „liegt nicht im Schreiben einer neuen, sondern im Löschen der alten!“
Die wirklich aufregenden Texte in der aktuellen Ausgabe der „Neuen Rundschau“ finden wir aber jenseits der Zukunfts-Manifeste. Da ist zum einen eine hübsche Ode des Berliner Lyrikers Florian Voß, in der die elektronischen Gerätschaften aus der Steinzeit des Computer-Zeitalters als ideale Medien der Poesie aufgerufen werden: „auf diesem keyboard kann man alte oden hacken“. Und als der lehrreichste Essay des Heftes darf sicherlich das schöne Porträt des hundertjährigen Surrealisten Karl Otto Götz gelten, das der bald 88jährige Dichter Franz Mon geschrieben hat. Die beiden Altmeister und Aktivisten der experimentellen Kunst und Poesie verbindet seit über sechzig Jahren eine rege Arbeitsfreundschaft. Franz Mon erinnert an die Zeit zwischen 1948 und 1953, als Karl Otto Götz die experimentelle Zeitschrift META herausgab, worin die ersten Gedichte Franz Mons erschienen. Und er resümiert die Intentionen der surrealistischen Malerei von Götz, der es vor allem darum gehe, „Anonymes und Überraschendes ins Bild zu locken“.
Statt mit Spekulationen über die Literatur der Zukunft versucht sich „BELLA Triste“, die „Zeitschrift für junge Literatur“, in ihrer aktuellen Nummer 38 diesmal mit einem Streitgespräch über die lyrische Gegenwart. Allein die Ankündigung, dass hier Ann Cotten, die nach eigener Auskunft „den Extremen zugeneigte“ Poetin, mit ihrem Kollegen Marius Hulpe über „Schönheit, Politik und Lyrik“ debattiert, weckt hohe Erwartungen. Leider schleichen die beiden Kontrahenten begrifflich um den heißen Brei herum und es werden nur ganz skizzenhaft Positionen sichtbar. Etwa Hulpes Misstrauen gegenüber einer „sprachexorzierenden“ Dichtung, die sich nur „intern verhakt“ oder Ann Cottens Bekenntnis zu einer „pragmatischen Anarchie“. Das bleibt aber alles im Ungefähren, das ganze Gespräch liest sich wie eine bewusste Flucht vor Eindeutigkeit.
Wer lehrreiche Gespräche und instruktive Essays über Poesie bevorzugt, der muss dann doch zur Kulturzeitschrift „Sinn und Form“ greifen. In der aktuellen März / April-Ausgabe von „Sinn und Form“ spricht die französische Schriftstellerin Cécile Wajsbrot mit der Philosophin Hélène Cixous über deren deutsche Wurzeln. „In Algerien wurde ich geboren“, so resümiert die bedeutende Poststrukturalistin Cixous, „und von Deutschland stamme ich ab, ... ich sog aus zwei Böden Kraft und Bedeutung.“ Cixous' Mutter stammte aus Osnabrück, eine aschkenasische Jüdin, und die Philosophin verspürte seit je die doppelte Herkunft, die „mein Ohr mit der gleichen Anfangssilbe umschmeicheln (Allemagne/Algérie)“. Und diese Erfahrung einer Herkunft aus zwei Kulturen beschreibt Cixous als „Urszene von Genuß“: nämlich als Gewissheit, zu zweit zu sein, „stets zu etwas anderem Zuflucht nehmen können, nicht in der Zelle des Eigenen, des Nationalen eingeschlossen zu sein“.
In einem glänzenden Essay nähert sich Sebastian Kleinschmidt in „Sinn und Form“ den akustischen Quellen der Poesie Jürgen Beckers. Ein Grundelement der Dichtung Jürgen Beckers ist ja seine Begegnung mit dem Rundfunk, mit den Stimmen, die aus dem Radio an sein Ohr gelangten, die er dann später in sein Klangkino der Gedichte und Hörspiele verwandelte: in eine akustische Landschaft aus Stimmen, Tonfetzen und Geräuschen, verflochten zu simultanen Bewusstseinsstenogrammen. Kleinschmidt zeigt das alles mit einer ruhigen Genauigkeit und Sorgfalt, die er in den langen Jahren seiner Arbeit als Herausgeber von „Sinn und Form“ immer weiter verfeinert hat.
Tatsächlich gehört es seit je zum Reiz dieser Zeitschrift, dass sie eine spannungsreiche Koexistenz unterschiedlichster Denktraditionen angestrebt hat – das Nebeneinander postmarxistischer Ansätze mit den Denkfiguren einer konservativen Intelligenz, die sich aus der Philosophie Hans Georg Gadamers speist. Diese Vergegenwärtigung einer großen Ideengeschichte war die große Passion Sebastian Kleinschmidts – und wird auch vom neuen „Sinn und Form“-Herausgeber Matthias Weichelt fortgeführt.
Zu den Passionen der Literaturzeitung „Volltext“ gehört seit einiger Zeit die eingehende Beschäftigung mit einer Theorie der literarischen Übersetzung. In den letzten drei Ausgaben hat hier der Schweizer Dichter, Übersetzer und Slawist Felix Philipp Ingold ein Plädoyer für einen „erweiterten Übersetzungsbegriff“ vorgelegt, der sich bewusst ist, dass eine Übersetzung stets einen notwendigen Verrat am literarischen Original mit einschließt. Noch bei größter Texttreue, so Ingold, lässt sich ein Gedicht in keiner Zielsprache adäquat nachbilden; so dass letztlich viel von der Freiheit und dem eigenschöpferischen Ehrgeiz des Übersetzers abhängt. Ingold plädiert leidenschaftlich für eine Aufwertung des Übersetzers und für eine Relativierung der Autor-Position, die Grenzen zwischen Poesie und Übersetzung beginnen bei ihm zu verschwimmen. Im aktuellen Heft 1/2014 von „Volltext“ entwickelt Ingold eine ebenso penible wie schlüssige Kritik an der Übersetzung der Gedichte des italienischen Weltpoeten Andrea Zanzotto. Den Zanzotto-Übersetzern um Peter Waterhouse und Ludwig Paulmichl vermag er einige Schwächen und zweifelhafte Entscheidungen nachzuweisen. Mit seiner Kritik dementiert er jedoch auch unwillentlich seine Maximen einer freien, erweiterten Übersetzung.
Den Wanderungsbewegungen der Wörter folgen seit je die Übersetzer; der Wanderungsbewegung einer religiösen Utopie hat seit einiger Zeit der Dichter Ulf Stolterfoht nachgespürt. In seinem zyklisch gebauten Gedicht „neu-jerusalem“,aus dem Stolterfoht erstmals einige Auszüge in Heft 6 der Literaturzeitschrift „Mütze“ präsentiert, folgt er den Fluchtlinien schwäbischer Pietisten, die es im frühen 18. Jahrhundert nach Amerika verschlug, wo sie die Wiederkunft Christi erwarteten. Stolterfoht blättert also in Heft 6 der „Mütze“ ein Kapitel aus der Religionsgeschichte und der schwäbischen Historie auf und verknüpft das mit einer entfesselten Sprachkomik, die aus der Erforschung der regionalen Wurzeln der frommen Pilgerströme ein großes Sprachvergnügen gewinnt. Und das klingt dann so: „sie alle waren damals gleichfalls auf der straße...speckschweizer erweckte; ... / laupheimer mucker; ledige mütter; sodomiten; böhme-versöhnte; / radikale marien und freie susannen (zum teil mit gliedpfannen); / versprengte gerenkte; die gelinden bringer von singen; klempe-/ rer; schweinfurter künder der durft...“ Das zweite hochinteressante Projekt in der „Mütze“ hat der Dichter Hans Thill gestartet: Er wirft uns „Ein Brocken Barock“ vor die Füße, nämlich eine poetische Überschreibung eines großartigen Bären-Gedichts des Barockdichters Paul Fleming. Der Mediziner, Psalmen-Dichter und Weltreisende Paul Fleming, der 1640 im Alter von nur 31 Jahren starb, hat uns einige Barock-Gedichte hinterlassen, die im Unterschied zur christlichen Demutshaltung vergleichbarer Barock-Poeten eine eindeutig weltliche Position einnehmen und die auch ein selbstbewusstes Ich installieren. Flemings „Grabschrifft eines jungen Bähren / der gehetzet worden war“ wird von Hans Thill mit einem Gedicht überschrieben, das die Emanzipation eines renitenten Ich noch weiter treibt und den „steten langen Tanz“ von Flemmings Bären in einen wilden Tanz der Wörter transformiert: „ Ich steh als Flemm vor / einer Wildnis auf der Hut / mit mir die Axt schütz mich / vor eurem Mut“.
Neue Rundschau, Heft 1/2014.
S. Fischer Verlag, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt a.M. 398 Seiten, 15 Euro.
BELLA triste 38 (2014).
Neustädter Markt 3-4, 31134 Hildesheim. 96 Seiten, 5,35 Euro.
Sinn und Form, H. 2/2014.
Redaktion, Postfach 21 02 50, 10502 Berlin. 130 Seiten, 9 Euro.
Volltext, H. 1/2014
Porzellangasse 1/69, A-1090 Wien. 40 Seiten, 2,90 Euro.
Mütze, H. 6
Urs Engeler, Obere Steingrubenstr. 50, CH-4500 Solothurn. 52 Seiten, 6 Euro.
Michael Braun 17.04.2014
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Michael Braun
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