|
|
|
|
Februar 2015
Es gehört zu den Vorzügen guter Literaturzeitschriften, dass sie sich nicht andächtig vor dem literarischen Kanon verneigen, sondern ihn mit guten Argumenten ins Wackeln bringen und aus veränderter Perspektive neu ordnen. Dafür liefert die neue, großartige Ausgabe der Literaturzeitschrift „ Schreibheft“ ein besonders markantes Beispiel. Erst kürzlich wurde „Schreibheft“-Herausgeber Norbert Wehr für seine langjährigen Verdienste um die Erschließung der zeitgenössischen Weltliteratur das Bundesverdienstkreuz verliehen. Tatsächlich sind die „Schreibheft“-Dossiers immer aufregende Expeditionen in unbekanntes Gelände, in jedem Heft wird ein neuer literarischer Kontinent, ein Autor oder eine literarische Gruppe in deutscher Erstübersetzung kartografiert. In der aktuellen Nummer 84 des „Schreibhefts“ wird zunächst ein literarischer Denkmalsturz vollzogen, um dann neue aufregende Strömungslinien der zeitgenössischen Dichtung freizulegen. Das erste Opfer der herben „Schreibheft“-Attacke ist der polnische Dichter und literarische Kosmopolit Adam Zagajewski. Welche literarische Wertschätzung der Weltbürger Zagajewski international genießt, verdeutlicht zum Beispiel die soeben bekannt gewordene Auszeichnung mit dem Heinrich- Mann-Preis der Berliner Akademie der Künste. Völlig zurecht verweist die Jury auf den Umstand, dass sich in Zagajewskis von metaphysischer Unruhe geprägtem Werk Poesie, Theologie und Philosophie verbinden zu einer Dichtung, die „das Sein im Ganzen fühlbar macht“.
Das neue „Schreibheft“ geht nun eher ungnädig mit Zagajewski um. Die Schriftstellerin Esther Kinsky hat hier ein Dossier mit neuer polnischer Lyrik zusammengestellt, in dem Zagajewski nur noch die Rolle des „Erhabenheitshüters“ spielt, dessen hoher Ton und Pathos ernüchtert werden muss. Die von Esther Kinsky vorgestellten Autoren sind zwischen 1968 und 1975 geboren und gehören einer Generation an, die allen Utopien den Rücken gekehrt hat und das nationale Pathos aushebelt mit Gedichten, die den rauen Alltag mit seinen unheimlichen Rätseln ins Zentrum stellen. „Dinge und Fakten haften von selbst aneinander“, heisst es in einem Gedicht von Dariusz Sosnicki, der seine Texte als „zweideutige Prophezeiungen“ versteht. Das „offene Gedicht“ der neuen polnischen Dichtung fordert eine Abkehr von dem alten Modell des politisch engagierten Gedichts, wie es Autoren wie Czeslaw Milosz und eben Adam Zagajewski verkörperten. Vorbildfunktion für die polnischen Dichter haben nunmehr die Lyriker-Kollegen der sogenannten New Yorker Schule, namentlich Frank O`Hara und John Ashbery, weil diese, wie es Jacek Gutorow sagt, „so hervorragend Zustände der Unsicherheit und Uneindeutigkeit beschreiben“, im Unterschied zur moralischen Selbsterhöhung eines Czeslaw Milosz. Dass zwischen den polnischen Adepten des offenen amerikanischen Gedichts und den Gralshütern der poetischen Tradition ein kleiner Kulturkampf entbrannt ist, dokumentiert auch die Debatte über die polnische Gegenwartslyrik, die im „Schreibheft“ abgedruckt ist. Hier echauffiert sich Andrzey Franaszek über eine Poesie, die „einzig aus sich selbst betrachtenden Wörtern“ bestehe und von einem „linguistischem Geist“ besessen sei, der nur noch um Wörter, aber nicht mehr um die Welt kreise. Allerdings ist dieser „linguistische Geist“ als fruchtbringender Impuls zu sehen, der jede Poesie belebt, da er die eigene Sprachverwendung ständig auf den Prüfstand stellt.
Der rote Faden, der sich durch die verschiedenen Schreibheft“-Dossiers zieht, ist der Gedanke des transatlantischen Dialogs zwischen europäischer und amerikanischer Poesie. Man kann das auch an dem Kapitel über den französischen Poeten Emmanuele Hocquard erkennen. Hocquards Poesie ist ebenfalls vom „linguistischen Geist“ besessen, handelt es sich doch um „detektivische Spracherkundungen“, die die Möglichkeiten und Grenzen sprachlicher Repräsentanz auszuloten versuchen. Gemeinsam mit dem amerikanischen Dichter Michael Palmer hat sich Hocquard ein imaginäres „Museum der Negativität“ erschaffen, ausgerechnet in einem riesigen Loch am Rande einer Autobahn. Ein ziemlich snobistischer Gedanke, der auch nicht näher erläutert wird.
Die aufregendste Verbindung zwischen europäischer und amerikanischer Dichtung stiften im neuen „Schreibheft“ zwei früh verstorbene Dichter. Auf den ersten Seiten der neuen Ausgabe sehen wir Fotos des jungen Rolf Dieter Brinkmann, der in Deutschland ab 1968 die Brücke schlug zu den Pop-Dichtern und Alltagsrealisten aus den USA. Auf den Fotos posiert der 19jährige Brinkmann als Narr mit Schellenkappe, der sich seiner Rebellen-Rolle durchaus bewusst ist. Und im dritten Teil des „Schreibhefts“ entdecken wir den niederländischen Poeten und leidenschaftlichen Blogger Jeroen Mettes, der einen neuen Begriff von politischer Poesie entwickelt hat, bevor er sich 2006 im Alter von 28 Jahren das Leben nahm. Politische Dichtung definiert er als „intensiv rhythmisierte Sprache“, in der sich ein Ich in alltägliche Sätze verstrickt und sich zugleich gegen die allüberall drohenden Klischees auflehnt. „Und wo sich Sätze in die Quere kommen“, so schrieb Mettes, „findet so etwas wie ein Sprachkrieg der Weltbürger statt.“ Als Jeroen Mettes bemerkte, dass dieser Sprachkrieg nicht zu gewinnen ist, wählte er den Freitod.
Wie sich Gedichte in diesem „Sprachkrieg der Weltbürger“ produktiv situieren können, zeigt auch die aktuelle Nummer 212 der Zeitschrift „Sprache im technischen Zeitalter“. Hier demonstriert Marcel Beyer in einer fantastischen Detail-Interpretation eines Gedichts von Oskar Pastior, dass Gedichte eben nicht raunend metaphysische Weisheiten absondern, sondern Geschichtsspeicher sind. Gedichte, so Marcel Beyer, sind „Erkundungen von Nachbarschaften“, und sie untersuchen das „prekäre Verhältnis von Klangbetörung und Sinnbetörung“. Im Fall des Oskar Pastior-Poems „Kniefrei 43“ wird Beyer zum Spracharchäologen, der behutsam die geschichtlichen Hintergründe der einzelnen Ortsnamen und Anspielungen freilegt und dabei auch Querbezüge zu Texten von Ossip Mandelstam und Paul Celan zu erkennen vermag. Das Gedicht wird zum historischen Zeugnis – und Marcel Beyers Betrachtung der Dichtung von Oskar Pastior zum Meisterwerk der Lyrik-Interpretation.
Auf ein ganz anderes Feld von Sprachverwendung in der Lyrik führt uns der „Sprache im technischen Zeitalter“-Beitrag von Daniel Graf zur Übersetzungs-Poetik bei Ulf Stolterfoht und Uljana Wolf. Die Dichtung von Ulf Stolterfoht, so Grafs These, interessiert sich vorwiegend für die instabilen Verhältnisse zwischen den Wörtern und ihren Bedeutungen; und sie arbeitet stetig an einer Auflösung aller festen semantischen Bindungen. Für Stolterfoht ist es ein großes Sprachvergnügen, den Transformationen und Kollisionen der Wörter bei ihrer Übersetzung in eine andere Sprache zuzusehen und auch aus Zufallseffekten Poesie zu generieren. Das geht so weit, dass sich Stolterfoht selbst fragt, ob „Fehlerhaftigkeit womöglich eine Existenzbedingung“ für die Poesie darstellt? All diese sprachkritischen Überlegungen passen aber nicht so recht zu Stolterfohts neuem Gedichtprojekt, von dem längere Abschnitte in „Sprache im technischen Zeitalter“ veröffentlicht sind. Sein Gedicht-Zyklus „neu-jerusalem“ behandelt ein großes Thema – nämlich die Auswanderungsbewegung schwäbischer Pietisten im 18. und 19. Jahrhundert nach Amerika, wo sie ihr neues Himmelreich errichten wollten. Stolterfoht folgt den Ritualen und Sprachgebräuchen der Pietisten in langen erzählerischen Bögen, präsentiert also geschichtlichen Stoff, ohne die Erzählung rein sprachkritisch zu sezieren.
Proben aus Stolterfohts „neu-jerusalem“ findet man auch in der neuen Ausgabe, der Nummer 7 des Online-Magazins „karawa.net“, das sich diesmal ein Gruppenporträt vorgenommen hat – nämlich ein ästhetisches Profil von „Captain Morgenstern“, was sich rasch als eine poetische Fusion des skurrilen Reimkünstlers Christian Morgenstern mit dem kanadischen Buchstabenspieler Barrie Phillip Nichol entpuppt. Der eigensinnige Kanadier Nichol hat in den sechziger und siebziger Jahren bizarre Formen des visuellen Gedichts entwickelt, eine Mischung zwischen Text, Comic und konkreter Poesie. In „karawa.net“ 7 werden nun Reminiszenzen an Nichols „Captain Poetry“ mit Übermalungen von Morgenstern-Gedichten zusammengeführt. Norbert Lange übersetzt einige Beispiele aus dem „Captain Poetry“-Projekt: „lieber Captain Poetry/ deine texte ordinär/ kein sonett / papier bleibt leer / egal wie oft du´s versuchtest / in nächten seit ich dich kenne / rutsch mir von der pelle!“
„Das Gedicht strebt danach“, so hat es einst der schwedische Poet Gunnar Ekelöf definiert, „das Wort aus seinem definierten Sinn freizusetzen und ihm einen neuen Klang, einen neuen Platz im Bewusstsein des Lesers, einen neuen Duft zu geben. Die Grundbedeutungen bleiben, aber dazwischen spannt sich eine Membran von Nuancen, Abstufungen, Andeutungen zwischen den Wörtern. Die Stärke des Gedichts liegt nicht in den Wörtern als solchen, sondern in der sentimentalen Spannung zwischen den Wörtern.“ Und dieser Poetik der Freisetzung von Sinn und der Generierung sprachlicher Spannungszustände, wie sie der 1968 verstorbene Ekelöf vertritt, dokumentiert nun das neue herrliche Heft der Zeitschrift „Park“, die der Berliner Lyriker und Celan-Spezialist Michael Speier seit bald 40 Jahren im Alleingang herausgibt. In der aktuellen Nummer 67 von „Park“ ist Speier nun eine besonders inspirierte Zusammenstellung poetischer Stimmen gelungen, eine Begegnung unterschiedlichster lyrischer Traditionen, denen das Vertrauen in die musikalischen Energien poetischer Sprache noch nicht abhanden gekommen ist. Im Mittelpunkt steht dabei ein Dossier über den Mystiker Gunnar Ekelöf, zu dem Nico Bleutge und Norbert Lange schöne Beiträge beigesteuert haben. „Sie (die Ekelöf-Gedichte) sind sehr schön“, hat einst Hans Magnus Enzensberger seiner Kollegin Nelly Sachs bestätigt, „orientalisch wie die meisten bücher der weisheit. (aber es ist eine wilde weisheit.)“ Kostproben dieser „wilden weisheit“ stehen neben einem Gespräch zwischen den luxemburgischen Dichter Jean Portante und Pierre Joris, die sich über die Vielsprachigkeit und den „nomadischen Atem“ ihrer Poesie austauschen. Glanzstücke des neuen Heftes sind die neuen Gedichte des bald achtzigjährigen Christoph Meckel, der hier eine Lyrik vorliegt, die man als metaphysische „Wahrnehmung der Weltzeit“ beschreiben könnte. Die Welt tritt als „leuchtendes Gestirn“ vor die Augen des Dichters, und die Toten aus unserer Familie ziehen noch einmal am Horizont vorbei. In einem der schönsten Gedichte Meckels warten die Bewohner des Schattenreichs, das hier eher profan als „Camp“ klassifiziert wird, auf ihren großen Auftritt. Dabei wird auch nach einem Engel gerufen, der ja eigentlich als eine Art Kurier zwischen Himmel und Erde gilt. Eine Zukunft oder gar ein paradiesisches Dasein kommt allerdings nicht in Sicht.
Camp
Vor der Auferstehung
brach große Unruhe aus im Camp.
Einer schrie nach seinem Engel.
Der Taschendieb wechselte Bart und Handschuh.
Der Märchenerzähler verstummte,
verschwand in den Toiletten.
War ich an der Reihe, nicht an der Reihe?
Mich erwartete nichts – ich hatte
von einer Zukunft nichts gehört.
Wie immer verschwanden alle außer mir.
Schreibheft 84
Rigodon Verlag, Nieberdingstr. 18, 45147 Essen. 196 Seiten, 13 Euro.
Sprache im technischen Zeitalter, H. 212
c/o Thomas Geiger, Am Sandwerder 5, 14109 Berlin. 120 Seiten, 14 Euro.
karawa.net 7, „Captain Morgenstern“
Park 67
Michael Speier, Titel-Wardenberg-Str. 18, 10555 Berlin. 102 Seiten, 7 Euro.
|
|
|
Michael Braun
Bericht
Archiv
|
|