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Februar 2015
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Zeitschriftenlese  –  Dezember 2014
von Michael Braun | Saarländischer Rundfunk – Literatur im Gespräch


Es gehört zu den Vorzügen guter Literaturzeitschriften, dass sie sich nicht andächtig vor dem literarischen Kanon verneigen, sondern ihn mit guten Argumenten ins Wackeln bringen und aus veränderter Perspektive neu ordnen. Dafür liefert die neue, groß­artige Ausgabe der Lite­ratur­zeit­schrift „Schreibheft“ ein beson­ders markantes Bei­spiel. Erst kürzlich wurde „Schreib­heft“-Heraus­geber Norbert Wehr für seine langjährigen Ver­dienste um die Erschließung der zeit­genös­sischen Welt­literatur das Bundes­verdienst­kreuz verliehen. Tatsächlich sind die „Schreib­heft“-Dos­siers immer aufregende Expeditionen in unbe­kanntes Gelän­de, in jedem Heft wird ein neuer literarischer Kontinent, ein Autor oder eine lite­rari­sche Gruppe in deutscher Erst­über­setzung karto­grafiert. In der aktuellen Nummer 84 des „Schreib­hefts“ wird zunächst ein lite­rarischer Denkmalsturz vollzogen, um dann neue auf­regende Strö­mungs­linien der zeit­genös­sischen Dich­tung frei­zu­legen. Das erste Opfer der herben „Schreib­heft“-Attacke ist der polni­sche Dichter und lite­rari­sche Kosmo­polit Adam Zagajewski. Welche lite­rarische Wert­schät­zung der Welt­bürger Zagajews­ki inter­national genießt, ver­deut­licht zum Bei­spiel die soeben bekannt gewordene Aus­zeichnung mit dem Hein­rich-Mann-Preis der Ber­liner Akademie der Künste. Völlig zurecht verweist die Jury auf den Umstand, dass sich in Zagajews­kis von meta­physischer Unruhe gepräg­tem Werk Poesie, Theo­logie und Philo­sophie verbinden zu einer Dichtung, die „das Sein im Ganzen fühlbar macht“.
  Das neue „Schreibheft“ geht nun eher ungnädig mit Zagajewski um. Die Schrift­stellerin Esther Kinsky hat hier ein Dossier mit neuer polnischer Lyrik zu­sammen­gestellt, in dem Zagajewski nur noch die Rolle des „Erhabenheitshüters“ spielt, dessen hoher Ton und Pathos ernüchtert werden muss. Die von Esther Kinsky vorge­stellten Autoren sind zwischen 1968 und 1975 geboren und gehören einer Generation an, die allen Utopien den Rücken gekehrt hat und das nationale Pathos aushebelt mit Gedich­ten, die den rauen Alltag mit seinen unheim­lichen Rätseln ins Zentrum stellen. „Dinge und Fakten haften von selbst an­einander“, heisst es in einem Gedicht von Dariusz Sosnicki, der seine Texte als „zweideutige Prophe­zeiungen“ ver­steht. Das „offene Gedicht“ der neuen polni­schen Dichtung fordert eine Abkehr von dem alten Modell des politisch engagierten Gedichts, wie es Autoren wie Czeslaw Milosz und eben Adam Zagajewski verkörperten. Vor­bild­funk­tion für die polnischen Dichter haben nunmehr die Lyriker-Kollegen der so­genann­ten New Yorker Schule, nament­lich Frank O`Hara und John Ashbery, weil diese, wie es Jacek Gutorow sagt, „so hervor­ragend Zustände der Unsicher­heit und Unein­deutig­keit beschreiben“, im Unter­schied zur moralischen Selbst­erhöhung eines Czeslaw Milosz. Dass zwischen den polnischen Adepten des offenen ameri­kanischen Gedichts und den Grals­hütern der poetischen Tradition ein kleiner Kultur­kampf entbrannt ist, doku­mentiert auch die Debatte über die polnische Gegen­warts­lyrik, die im „Schreibheft“ abge­druckt ist. Hier echauf­fiert sich Andrzey Franaszek über eine Poesie, die „einzig aus sich selbst betrach­tenden Wörtern“ bestehe und von einem „linguis­tischem Geist“ besessen sei, der nur noch um Wörter, aber nicht mehr um die Welt kreise. Allerdings ist dieser „linguistische Geist“ als fruchtbringender Impuls zu sehen, der jede Poesie belebt, da er die eigene Sprachverwendung ständig auf den Prüfstand stellt.
  Der rote Faden, der sich durch die verschiedenen Schreibheft“-Dossiers zieht, ist der Gedanke des transatlantischen Dialogs zwischen euro­päischer und amerikanischer Poesie. Man kann das auch an dem Kapitel über den fran­zö­sischen Poeten Emmanuele Hocquard erkennen. Hocquards Poesie ist ebenfalls vom „linguis­tischen Geist“ be­sessen, handelt es sich doch um „detekti­vische Sprach­erkun­dungen“, die die Möglich­keiten und Grenzen sprach­licher Reprä­sentanz auszu­loten versuchen. Gemeinsam mit dem amerikanischen Dichter Michael Palmer hat sich Hocquard ein ima­ginäres „Museum der Negati­vität“ erschaffen, ausgerechnet in einem riesi­gen Loch am Rande einer Autobahn. Ein ziemlich snobistischer Gedanke, der auch nicht näher erläutert wird.
  Die aufregendste Verbindung zwischen europäischer und amerikanischer Dichtung stiften im neuen „Schreibheft“ zwei früh ver­storbene Dichter. Auf den ersten Seiten der neuen Ausgabe sehen wir Fotos des jungen Rolf Dieter Brink­mann, der in Deutsch­land ab 1968 die Brücke schlug zu den Pop-Dichtern und All­tags­realis­ten aus den USA. Auf den Fotos posiert der 19jährige Brinkmann als Narr mit Schel­len­kappe, der sich seiner Rebellen-Rolle durch­aus bewusst ist. Und im dritten Teil des „Schreib­hefts“ entdecken wir den nieder­ländi­schen Poeten und leiden­schaft­lichen Blogger Jeroen Mettes, der einen neuen Begriff von politischer Poesie entwickelt hat, bevor er sich 2006 im Alter von 28 Jahren das Leben nahm. Politische Dich­tung definiert er als „intensiv rhythmi­sierte Sprache“, in der sich ein Ich in all­tägliche Sätze ver­strickt und sich zu­gleich gegen die allüberall drohenden Klischees auflehnt. „Und wo sich Sätze in die Quere kommen“, so schrieb Mettes, „findet so etwas wie ein Sprach­krieg der Weltbürger statt.“ Als Jeroen Mettes bemerkte, dass dieser Sprach­krieg nicht zu gewinnen ist, wählte er den Freitod.

Wie sich Gedichte in diesem „Sprachkrieg der Weltbürger“ produktiv situ­ieren kön­nen, zeigt auch die aktuelle Nummer 212 der Zeitschrift „Sprache im tech­nischen Zeit­alter“. Hier demonstriert Marcel Beyer in einer fantastischen Detail-Interpretation eines Gedichts von Oskar Pastior, dass Gedichte eben nicht raunend meta­physische Weis­heiten absondern, sondern Geschichts­speicher sind. Gedichte, so Marcel Beyer, sind „Erkun­dungen von Nach­bar­schaften“, und sie untersuchen das „prekäre Verhältnis von Klang­betörung und Sinn­betörung“. Im Fall des Oskar Pastior-Poems „Kniefrei 43“ wird Beyer zum Spracharchäologen, der behut­sam die geschichtlichen Hinter­gründe der einzelnen Ortsnamen und Anspielungen freilegt und dabei auch Querbezüge zu Texten von Ossip Mandelstam und Paul Celan zu erkennen vermag. Das Gedicht wird zum historischen Zeugnis – und Marcel Beyers Betrach­tung der Dichtung von Oskar Pastior zum Meisterwerk der Lyrik-Inter­pre­tation.
  Auf ein ganz anderes Feld von Sprach­ver­wendung in der Lyrik führt uns der „Sprache im tech­ni­schen Zeit­alter“-Beitrag von Daniel Graf zur Übersetzungs-Poetik bei Ulf Stolterfoht und Uljana Wolf. Die Dichtung von Ulf Stolterfoht, so Grafs These, interes­siert sich vor­wiegend für die insta­bilen Ver­hält­nisse zwischen den Wörtern und ihren Bedeu­tungen; und sie arbeitet stetig an einer Auflösung aller festen se­man­tischen Bindungen. Für Stolter­foht ist es ein großes Sprach­ver­gnügen, den Trans­forma­tionen und Kolli­sionen der Wörter bei ihrer Über­setzung in eine andere Sprache zuzu­sehen und auch aus Zufalls­effek­ten Poesie zu generieren. Das geht so weit, dass sich Stolter­foht selbst fragt, ob „Fehler­haftig­keit womög­lich eine Exis­tenz­be­dingung“ für die Poesie darstellt? All diese sprach­kriti­schen Über­legungen passen aber nicht so recht zu Stol­ter­fohts neuem Gedicht­projekt, von dem längere Ab­schnitte in „Sprache im tech­nischen Zeitalter“ ver­öffent­licht sind. Sein Gedicht-Zyk­lus „neu-jerusalem“ behandelt ein großes Thema – nämlich die Aus­wande­rungs­bewe­gung schwäbischer Pietisten im 18. und 19. Jahr­hundert nach Amerika, wo sie ihr neues Himmel­reich errichten wollten. Stolterfoht folgt den Ritualen und Sprach­gebräuchen der Pie­tisten in langen erzähle­rischen Bögen, präsentiert also ge­schicht­lichen Stoff, ohne die Erzählung rein sprach­kritisch zu sezieren.
  Proben aus Stolterfohts „neu-jerusalem“ findet man auch in der neuen Ausgabe, der Nummer 7 des Online-Magazins „karawa.net“, das sich diesmal ein Gruppen­porträt vorge­nommen hat – nämlich ein ästhe­tisches Profil von „Captain Morgen­stern“, was sich rasch als eine poeti­sche Fusion des skurrilen Reim­künstlers Christian Morgen­stern mit dem kanadi­schen Buch­staben­spieler Barrie Phillip Nichol ent­puppt. Der eigen­sinnige Kana­dier Nichol hat in den sechziger und sieb­ziger Jahren bizarre Formen des visuel­len Gedichts ent­wickelt, eine Mischung zwischen Text, Comic und konkreter Poesie. In „karawa.net“ 7 werden nun Remi­nis­zen­zen an Nichols „Captain Poetry“ mit Über­ma­lungen von Morgenstern-Gedichten zu­sammen­geführt. Norbert Lange über­setzt einige Beispiele aus dem „Captain Poetry“-Projekt: „lieber Captain Poetry/ deine texte ordinär/ kein sonett / papier bleibt leer / egal wie oft du´s versuchtest / in nächten seit ich dich kenne / rutsch mir von der pelle!“

„Das Gedicht strebt danach“, so hat es einst der schwedische Poet Gunnar Ekelöf definiert, „das Wort aus seinem definierten Sinn frei­zu­setzen und ihm einen neuen Klang, einen neuen Platz im Bewusst­sein des Lesers, einen neuen Duft zu geben. Die Grund­bedeu­tungen bleiben, aber dazwi­schen spannt sich eine Membran von Nuancen, Abstu­fungen, Andeu­tungen zwischen den Wörtern. Die Stärke des Gedichts liegt nicht in den Wörtern als solchen, sondern in der senti­men­talen Spannung zwischen den Wörtern.“ Und dieser Poetik der Frei­setzung von Sinn und der Generierung sprach­licher Span­nungs­zustände, wie sie der 1968 ver­storbene Ekelöf vertritt, doku­men­tiert nun das neue herr­liche Heft der Zeits­chrift „Park“, die der Berliner Lyriker und Celan-Spezia­list Michael Speier seit bald 40 Jahren im Alleingang heraus­gibt. In der aktuel­len Nummer 67 von „Park“ ist Speier nun eine besonders inspi­rierte Zu­sammen­stellung poetischer Stimmen gelungen, eine Begeg­nung unter­schied­lichster lyri­scher Tradi­tionen, denen das Ver­trauen in die musika­li­schen Ener­gien poetischer Sprache noch nicht abhanden gekommen ist. Im Mittel­punkt steht dabei ein Dossier über den Mystiker Gunnar Ekelöf, zu dem Nico Bleutge und Norbert Lange schöne Beiträge bei­ge­steuert haben. „Sie (die Ekelöf-Gedichte) sind sehr schön“, hat einst Hans Magnus Enzens­berger seiner Kolle­gin Nelly Sachs bestä­tigt, „orienta­lisch wie die meis­ten bücher der weisheit. (aber es ist eine wilde weisheit.)“ Kost­proben dieser „wilden weisheit“ stehen neben einem Gespräch zwischen den luxem­burgi­schen Dichter Jean Portante und Pierre Joris, die sich über die Viel­sprachig­keit und den „noma­dischen Atem“ ihrer Poesie aus­tauschen. Glanz­stücke des neuen Heftes sind die neuen Gedichte des bald achtzig­jährigen Christoph Meckel, der hier eine Lyrik vorliegt, die man als meta­physische „Wahr­nehmung der Weltzeit“ beschrei­ben könnte. Die Welt tritt als „leuch­tendes Gestirn“ vor die Augen des Dichters, und die Toten aus unse­rer Familie ziehen noch einmal am Horizont vorbei. In einem der schöns­ten Gedichte Meckels warten die Bewoh­ner des Schatten­reichs, das hier eher profan als „Camp“ klassi­fiziert wird, auf ihren großen Auf­tritt. Dabei wird auch nach einem Engel gerufen, der ja eigentlich als eine Art Kurier zwischen Himmel und Erde gilt. Eine Zukunft oder gar ein para­die­sisches Dasein kommt aller­dings nicht in Sicht.

Camp

Vor der Auferstehung
brach große Unruhe aus im Camp.

Einer schrie nach seinem Engel.
Der Taschendieb wechselte Bart und Handschuh.
Der Märchenerzähler verstummte,
verschwand in den Toiletten.

War ich an der Reihe, nicht an der Reihe?
Mich erwartete nichts – ich hatte
von einer Zukunft nichts gehört.

Wie immer verschwanden alle außer mir.


Schreibheft 84  externer Link
Rigodon Verlag, Nieberdingstr. 18, 45147 Essen. 196 Seiten, 13 Euro.

Sprache im technischen Zeitalter, H. 212  externer Link
c/o Thomas Geiger, Am Sandwerder 5, 14109 Berlin. 120 Seiten, 14 Euro.

karawa.net 7, „Captain Morgenstern“  externer Link

Park 67  externer Link
Michael Speier, Titel-Wardenberg-Str. 18, 10555 Berlin. 102 Seiten, 7 Euro.

 

 
Michael Braun
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