Dezember 2008
Zeitschriftenlese – Dezember 2008
von Michael Braun | Saarländischer Rundfunk
In der Geschichte der politischen Ideen ist das sogenannte „wilde Denken“ stets von der linken Intelligenz als eine Art Erkenntnisprivileg für sich reklamiert worden. Was ist davon heute noch übrig geblieben, da es kaum mehr Versuche gibt, das Territorium des Denkens nach den alten Frontlinien von „Aufklärung“ und „Gegenaufklärung“ zu ordnen?
„Wir brauchen ganz neue Amalgame des Denkens und Erzählens“, glaubt der Filmemacher Alexander Kluge, der noch immer als wortmächtiger Stichwortgeber für eine postmarxistische Theoriebildung verehrt wird. Im neuen Sonderheft, der Nummer 4/2008 der Kulturzeitschrift „Neue Rundschau“, die ein sehr lesenswertes Dossier über „Film und Erzählen“ enthält, erläutert Kluge sein Konzept, heterogene Geschichten zusammenzuführen und daraus exemplarische „Konstellationen“ zu bilden. Als ein Beispiel für diese offene assoziative Form der „Konstellationen“ nennt Kluge eine Zeichnung des französischen Romantikers Grandville. Sie zeigt eine Planetenbrücke aus Eisen, die alle planetarischen Himmelskörper verbindet und bis zum Saturn führt. Das ist zwar eine durch und durch fantastische Konstruktion, die einer astrophysikalischen Realitätsprüfung nie standhalten würde. Aber es sind, glaubt Kluge, solche Bilder phantastischer Brückenkonstruktionen, die unserem ermatteten Begreifen der Wirklichkeit und unserem erloschenen Bedürfnis nach Utopie wieder aufhelfen könnten.
Wenn man nun das neue, überaus anregende Heft der „Zeitschrift für Ideengeschichte“ studiert, entsteht der Eindruck, dass eine solche phantastische Transfusion von Utopien in das politische Denken bis in die Achtzigerjahre hinein gar nicht nötig war. Das Heft 4/2008 der „Zeitschrift für Ideengeschichte“ untersucht nämlich die Substanzen jener ideenpolitischen „Turbulenz“, die sich bis zum Fall der Mauer im linken Soziotop West-Berlin ausagierte. In brillanten Aufsätzen beschäftigen sich Gert Mattenklott und Philipp Felisch mit den Metamorphosen des linken Denkens, das sich in West-Berlin immer neue theoretische Gründungsurkunden für die Verbesserung der Welt ausstellte. Als ein besonders exklusiver Ort für die Ausbildung „wilden Denkens“ wird hier noch einmal die Geschichte des Merve Verlags rekonstruiert. Der Merve Verlag, 1970 gegründet von Peter Gente und seiner ersten Frau Merve Lowien, definierte sich zunächst als ein Forum für die „Internationale Marxistische Diskussion“, bevor er 1977 unter dem Einfluss französischer Philosophen zum Umschlagplatz sogenannter „Diskurse“ mutierte. In den Schlüsseljahren 1977 und 1978 erschienen dort jene Kultbücher im Postkartenformat, die als Erkennungszeichen in den akademischen Zirkeln der linken Intelligenz herumgereicht wurden: Jean-Francois Lyotard legte sein „Patchwork der Minderheiten“ vor, eine Bekenntnisschrift für die „kleinen Kämpfe“ der gesellschaftlichen Minderheiten: der Frauen, der Homosexuellen oder der Arbeitslosen. Ein Buchtitel von Gilles Deleuze wurde in jedes zweite Referat angehender linker Hedonisten hineinzitiert. Er lautet: „Rhizom“. Ein dritter Pariser Meister war der Simulations-Theoretiker Jean Baudrillard, der nahezu alle aktuellen Phänomene von Watergate bis Stammheim mit der Formel von der „Agonie des Realen“ traktierte. Irgendwann verflog der frankophile Theorie-Rausch – und heute schaut man eher verwundert auf die erloschenen Vulkane der politischen Theorie.
Die „Zeitschrift für Ideengeschichte“ publiziert noch zwei weitere symbolträchtige Rückblicke auf das „wilde Denken“. Der kürzlich verstorbene Historiker Heinz Dieter Kittsteiner, ein Gründungsmitglied der Zeitschrift, erinnert sich in seinem letzten Text an seine marxistisch verbissenen Interpretationen von Walter Benjamin-Texten und an seine Mitarbeit an der seinerzeit hoch angesehenen Zeitschrift „alternative“. Zu den radikalsten Autoren der „alternative“ gehörte um 1968 auch der damalige Kommunist Thomas Schmid, der heute als Chefredakteur für die zum Springer-Konzern gehörende Tageszeitung „Die Welt“ tätig ist. Ein anderer ehemaliger beinharter Kommunist und „alternative“-Autor führt in der „Zeitschrift für Ideengeschichte“ die subtile Verschiebung seiner Erkenntnisinteressen vor: Der Literaturwissenschaftler Helmut Lethen untersucht in einer Mischung aus Faszination und Schauder das stoizistische Weltbild Gottfried Benns. „Sich abfinden und gelegentlich auf Wasser sehn!“ – Diese Selbstverpflichtung Benns auf eine Position des geduldigen Ausharrens und des insularen Rückzugs animiert heute weite Teile der einstmals aktivistischen Linken.
Gegen diesen dandyistischen Individualismus mobilisiert die in der expressionistischen Epoche gegründete und heute entschlossen antikapitalistische Zeitschrift „Die Aktion“ ihr grimmiges Bekenntnis zur – so wörtlich – „libertären Linken“. „Politisch wie ästhetisch“, so heißt es im Editorial des neugestalteten Heftes mit der Nummer 214, „ist diese Zeitschrift Teil des Kampfes für eine Gesellschaft, aus der die Macht des Kapitals verschwunden ist, und stattdessen Kooperation, Solidarität und gegenseitige Hilfe die Produktionsweise der Menschen bestimmen.“ Dass die „Aktion“ einer der letzten intelligenten Bastionen des Linksradikalismus bleibt, demonstrieren die Beiträge zu den antikapitalistischen Bewegungen in Bolivien und Mexiko. In einer aufwühlenden Reportage analysiert zudem der Journalist Marc Thörner den Kampf am Hindukusch, der um die zivile Neubildung einer Staatsordnung in Afghanistan bemüht ist, aber – so der Tenor der Reportage – immer tiefer in die Barbarei führt. Thörner erinnert nicht nur an den Umstand, dass die Taliban und die Mudschaheddin in Afghanistan von der amerikanischen Administration in den Achtzigerjahren als „konservative Brüder im Geiste“ willkommen geheißen wurden. Weit erschreckender ist sein Befund, dass die Regierung Karzai auf eine neue „dritte Art des Fundamentalismus“ zusteuere. Als Indizien benennt der Autor die Einschränkungen der Rede- und Pressefreiheit und die Annäherungen seitens der Regierung an die konservativen Warlords. Ein besonders abscheuliches Detail dieser Mehrfrontenkriege zwischen unterschiedlichen Machtpolen in Afghanistan ist ein Tauschgeschäft, das von einigen Warlords kultiviert wird. Offenbar haben einige dieser Milizenführer Gefallen daran gefunden, Kampfhunde gegen minderjährige Mädchen einzutauschen. Und umgekehrt.
Der erschütterndste Text in der neuen „Aktion“ ist eine Erzählung der Marburger Autorin Anna Rheinsberg, die von der ebenso absoluten wie heillosen Liebe zwischen zwei modernen Großstadtnomaden handelt. Jo und Netti, das Traumpaar aus der Alternativszene, waren 1978 einander verfallen, und fanden nach vielen Jahren der Entfremdung im 21. Jahrhundert wieder zusammen – unter dem Vorzeichen des nahen Todes. Denn der Hirntumor des Mannes hatte die Aussicht auf eine gemeinsame Zukunft zerstört. In atemlosen Sätzen rekonstruiert die Erzählerin die Torturen und Heillosigkeiten dieser todgeweihten Liebe – bis zu dem Augenblick, da der Schmerz übermächtig wird. Anna Rheinsberg gehörte einst zu einem Autorenkreis vorwiegend aus Hamburg und Umgebung, der sich den Parolen und Poetiken der amerikanischen Beat Generation verpflichtet fühlte. Aus diesem Kreis heraus, der in den achtziger Jahren die großartige Zeitschrift „Falk“ hervorgebracht hat, ist nun vor Jahresfrist wieder eine Zeitschrift gegründet worden, die in bislang zwei Ausgaben in der Edition Michael Kellner vorliegt: Es ist die von Peer Schröder, Theo Köppen und Katja Töpfer gegründete „Trompete“, ein kleines Journal für rebellische Lyrismen, poetische Obsessionen, Essays und Collagen, das die versprengte community der deutschen Beat-Autoren wieder zusammenbringt. Im ersten Heft hat Friedrich W. Block, der Theoretiker einer visuellen Poesie und digitalen Literatur, einige bemerkenswerte poetologische Notate veröffentlicht. Das Heft 2 der „Trompete“ konzentriert sich nun auf Collagen, deren ästhetische Risikobereitschaft aber eher gering ist.
Zum Schluss noch ein Hinweis auf das neue Heft der Kulturzeitschrift „Sinn und Form“, das unter anderem ein fesselndes Doppel-Porträt der so gegensätzlichen Autoren Johannes R. Becher und Hans Fallada enthält. Es gibt indes interessante Verbindungslinien zwischen diesen beiden Schriftstellern: Beide sind Juristensöhne, beide haben einen spektakulären Selbstmordversuch unternommen, und beide waren auf ruinöse Weise harten Drogen wie Kokain und Morphium verfallen. Heft 6/2008 von „Sinn und Form“ publiziert daneben noch einen bewegenden Text des kürzlich verstorbenen Publizisten Peter Bender: Er ist einem der bedeutendsten Journalisten des 20. Jahrhunderts gewidmet, dem politisch stets unberechenbaren Sebastian Haffner. Der als Raimund Pretzel geborene Haffner wollte unter den Nazis keine juristische Karriere machen, verließ 1936 den Staatsdienst und ging 1938 nach England. In den späten Sechzigerjahren startete er ein publizistisches Comeback in Deutschland und verblüffte seine Auftraggeber immer wieder mit überraschenden politischen Kehrtwendungen, die er mit stets überzeugenden Argumenten zu begründen wusste. Haffners stilistische Brillanz ist bis heute unerreicht – seine unglaublich kompakte und lakonische Biografie über Winston Churchill sollte zur Pflichtlektüre für jeden Journalisten erhoben werden.
Neue Rundschau, Heft 4/2008
S. Fischer Verlag, Hedderichstraße 114, 60596 Frankfurt/Main
248 Seiten, 12 Euro
Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft II/4-2008
Deutsches Literaturarchiv Marbach, Schillerhöhe 8-10, 71672 Marbach/Neckar
126 Seiten, 12 Euro
Die Aktion, Heft 214
Edition Nautilus, Alte Holstenstraße22, 21031 Hamburg
112 Seiten, 8 Euro
Trompete, 1 + 2
c/o Peer Schröder, Sopheinstraße 7, 34117 Kassel
je 48 Seiten, ca. 5 Euro
Sinn und Form, Heft 6/2008
Postfach 210250, 10502 Berlin
140 Seiten, 9 Euro
Michael Braun17.12.2008
Saarländischer Rundfunk | Zeitschriftenlese Dezember 2008
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