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August 2015
Der Kult der Metropole, der eine bestimmte Großstadt zum exklusiven Ort der Auserwählten erhebt, an dem die ästhetische Existenz gegen das spießige Bürgerdasein verteidigt wird, hat in der literarischen Bohème eine lange Tradition. Auf diesem Feld gibt es seit je eine hartnäckige Konkurrenz zwischen Berlin und München – und ein schrilles Pathos, das zu zweifelhaften Unterscheidungen gelangt. „München“, so tönte etwa Stefan George im April 1905, „ist die einzige stadt der erde ohne ›den bürger‹ hier giebt es nur volk und jugend. Niemand sagt, dass diese immer angenehm sind. Aber tausendmal besser als dieser Berliner mischmasch von unterbeamten, juden und huren!“ Mit solchen kraftmeierischen Sätzen überboten sich in den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg die literarischen Propheten, Weltverbesserer, Erlöser und Heilsbringer gegenseitig. München galt zwischen 1900 und 1930 als autonomer Künstlerstaat, auch ein erfolgloser Maler namens Adolf Hitler pries den Münchner genius loci als „magischen Zauber eines Mekka oder Rom“. 1935 dann, als die Nazis die Macht erobert hatten, ernannte Hitler die bayrische Metropole gleich zur „Hauptstadt der Bewegung“ – ein verhängnisvolles geistiges Erbe, mit dem die Chronisten der Stadtgeschichte bis heute ihre Schwierigkeiten haben. In einem instruktiven Essay im August-Heft der Zeitschrift „Merkur“ hat nun der Literaturwissenschaftler Wolfgang Martynkewicz gewisse Defizite der Stadt bei der Auseinandersetzung mit ihrer faschistischen Vergangenheit benannt. In den einschlägigen Ausstellungen und Ritualen der Gedenkkultur werde gerne, so Martynkewicz, der Umstand relativiert, dass München auch ein besonders markantes Beispiel dafür ist, wie Kultur und Barbarei zusammengefunden haben. Erst das „zeitweilige Bündnis von Mob und Elite“, so schrieb etwa Hannah Arendt, habe das Phänomen „München“ erst möglich gemacht.
Und trotz dieser nachhaltigen Imprägnierung des städtischen Geistes gibt es auch heute noch reichlich Anhänger des München-Enthusiasmus. An die Zeiten eines großen kritischen Geistes in München hat im Juli-Heft des „ Merkur“ in einem famosen Essay Michael Rutschky erinnert, als er seine Zeit als „Merkur“-Redakteur im Jahr 1979 beschrieb, wo man sich in den Münchner Redaktionsräumen noch wie im „Generalsekretariat der Genauigkeit und Seele“ fühlen konnte.
Zur heutigen literarischen Boheme in München darf man Hans-Peter Söder rechnen, den Herausgeber der Zeitschrift „Wendepunkt“, die ihren Titel der Autobiographie von Klaus Mann entlehnt hat. Söder hat für sein unregelmäßig erscheinendes Periodikum eine Reihe exzentrischer junger Künstler um sich versammelt, denen er in seinem Editorial für das aktuelle Heft 3 die große Aufgabe einer „neuen Leichtigkeit“ stellt: „Das Schrifttum der Nachkriegsdemokratie, die Deklarationen der Gründungsväter, aber auch die Literatur der Wiedergutmachung ist verbraucht. Die Jugend will jetzt mitreden ... Beide, die Jugend und die neue Leichtigkeit, sollen sich hier ohne Zensor und ohne Norm zu Wort melden.“ Das ist in seiner pathetischen Bombastik nicht fern von den Manifesten der Müncher Bohème um 1915. Die „neue Leichtigkeit“, die Söder propagiert, blitzt im „Wendepunkt“ indes nur an einigen Stellen auf. So entwickelt hier etwa die kroatische Autorin Dragica Rajcic eine faszinierende Poetik der grammatischen Inkorrektheit, die ihrer poetischen Annäherung an den Schriftsteller Hermann Broch einen großen Reiz verleiht. Die Sprache wird durch die vorsätzliche Verwandlung der normierten Syntax und Orthografie wieder fremd, sie wird wieder zu einer Materie, die neu erarbeitet werden muss.
Zu den intelligenten Periodika aus der jungen Literatur-Szene zählt neben dem „Wendepunkt“ auch die Zeitschrift „Otium“, die von jungen Dichtern und Übersetzern aus Frankfurt zusammengestellt wird. Die auffälligste Erscheinung im jungen „Otium“- Team ist sicher der Dichter und Essayist Alexandru Bulucz, der kürzlich einen hervorragenden Gesprächsband mit dem Philosophen Dieter Henrich publiziert hat. In der aktuellen Nummer 10 von „Otium“ ist Bulucz gemeinsam mit seinen Redaktionskollegen auf die Idee verfallen, neben Gedichten und „Miscellen“ auch „Rezensionen zu nicht gedruckten Texten“ vorzustellen. Und hier findet man einige schöne ästhetische Brosamen, die sich zu einer fragmentarischen Poetik zeitgenössischer Dichtung montieren lassen. „Meine Leib- und Magen-/ Sätze ziehen nicht mehr“, heißt es an einer Stelle – und das ist ja seit Hugo von Hofmannsthals berühmtem „Chandos-Brief“ die Grunderfahrung jedes substantiellen Dichters: dass nämlich die vertrauten Wörter und Satzfügungen wie „modrige Pilze“ im Mund zerfallen.
Zum Schluss noch ein Hinweis auf eine Zeitschrift, die abseits der Turbulenzen des Literaturbetriebs durch Konzentration auf das Wesentliche eine schöne Tradition gebildet hat. Ich meine die zweimonatlich erscheinende Zeitschrift „Das Plateau“, die seit 26 Jahren im Stuttgarter Radius Verlag erscheint und neben Erstveröffentlichungen renommierter Gegenwartsautoren immer auch sorgfältig edierte Arbeiten zeitgenössischer Künstler publiziert. Im aktuellen Jubiläumsheft mit der Nummer 150 ist ein Auszug aus einem noch unveröffentlichten, autobiografisch inspirierten Schelmenroman von Ingo Schulze abgedruckt. Der zwölfjährige Held ist aus einem Kinderheim in der DDR entwichen und konfrontiert nun seine staunende Umwelt mit den Ideen eines utopischen Sozialismus. „Das abenteuerliche Leben des Peter Holtz“ – Man darf gespannt sein, wohin es diesen modernen Simplicissimus verschlagen wird.
Merkur 7/8(2015)
Klett-Cotta Verlag. Redaktion: Mommsenstr. 127, 10629 Berlin, 102 u. 104 Seiten, 12 Euro.
Wendepunkt 3 (2015)
Richard-Wagner-Str. 27, 80333 München. 86 Seiten, 12 Euro.
Otium, Heft 10
Axel Dielmann Verlag, Donnersbergstr. 12, 60528 Frankfurt, 84 Seiten, 16 Euro.
Das Plateau, Heft 150 (2015)
Radius Verlag, Alexanderstr. 162, 70180 Stuttgart. 48 Seiten, 15 Euro.
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Michael Braun
Bericht
Archiv
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