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Februar 2016
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Zeitschriftenlese  –  Dezember 2014
von Michael Braun | Saarländischer Rundfunk – Literatur im Gespräch


In der Geschichte der modernen Literatur hat es zwei turbu­lente Augen­blicke ge­geben, da sich die poetische und die politische Revo­lution für einen kurzen Moment kreuzten, nämlich bei der leib­haftigen Begeg­nung zwischen dem Dadaismus und dem Kom­munis­mus. Die erste Gele­genheit zur gemein­samen Mobi­lisierung der Energien wurde verpasst. Im Früh­jahr 1916, als in der Spiegel­gasse 1 in Zürich im „Cabaret Voltaire“ die Spektakel der Dadaisten zele­briert wurden, wohnte nur wenige Meter entfernt in derselben Spiegel­gasse ein gewisser Herr Wladimir Uljanow-Lenin. Der Revo­lutionär Lenin ignorierte jedoch das Treiben im „Cabaret Voltaire“. „Ist der Da­daismus“, fragte denn auch der Dada-Pionier Hugo Ball später in seinem Tagebuch, „wohl als Zeichen und Geste das Gegen­spiel zum Bolsche­wis­mus?“ Die zweite Möglichkeit zur wechsel­seitigen Ent­zündung revolu­tionärer Ener­gien in Poesie und Politik fand dann mehr als zwei Jahr­zehnte später statt, im November 1941. Es war wieder ein Treffen zwischen einem Da­daisten und einem Kommunisten. Aller­dings unter ganz anderen Voraus­set­zungen. In einem Inter­nierungs­lager auf der britischen Insel Isle of Man trafen hier der Dadaist Kurt Schwitters und der marxis­tische Er­kenntnis­theoretiker Alfred Sohn-Rethel auf­ein­ander. Auf der Flucht vor den Häschern der Nazis, die den als „ent­artet“ verfemten „Merz-Künstler“ noch an seinen Exil-Orten ver­folgten, hatte sich Schwitters im April 1940 auf den Weg in die Abge­schieden­heit des Nordens gemacht. Über die Insel­gruppe der Lofoten floh er nach Tromsø in den äußersten Norden Norwegens, ohne vor dem Zugriff der deut­schen Truppen sicher zu sein. Mit einem Eisbrecher gelangte er dann im Juni 1940 nach Schott­land und wurde anschlie­ßend in ver­schie­denen Lagern in England interniert. In den Lagern ent­wickelte Schwitters eine kleine ästhe­tische Subkultur, hielt Vor­träge in improvi­sierten Künst­ler­cafés und betrieb auch eine Lager­zeit­schrift. Auf der Isle of Man traf er schließ­lich auf Alfred Sohn-Rethel, der zu diesem Zeitpunkt seine marxis­tische Er­kennt­nis­theorie bereits in ihren Grund­rissen entworfen hatte, eine außer­gewöhnliche Mischung aus Theo­remen von Immanuel Kant und Karl Marx. Die beiden promi­nenten Gefan­genen lebten eine Weile in einem kleinen Haus zusammen und Schwitters fertigte einige Porträts von Sohn-Rethel an, von denen nun eines im aktuellen Februar-Heft der Kultur­zeit­schrift „Merkur“ zu finden ist, der nach wie vor scharf­sinnigs­ten und geistig beweg­lichsten Kultur­zeitschrift der Republik. Das Porträt ist ein­gebettet in einen äußerst lesens­werten Aufsatz von Matthias Rothe, der schlüssig darlegt, warum der als Außen­seiter des Marxismus gehan­delte Alfred Sohn-Rethel bis heute einen gewissen Kult-Status als Theo­retiker behalten hat. Die Gene­ration der heute Fünfzig- und Sechzig­jährigen, für die die uni­versitäre Beschäf­tigung mit der kriti­schen Gesell­schafts­theorie zu den Grund­nahrungs­mitteln gehörte, wird sich noch an ein grünes Bändchen aus der Edition Suhr­kamp erinnern, das den üblichen marxis­tischen Ever­greens widersprach. Es war die 1971 erstmals publi­zierte Studie „Wa­ren­form und Denk­form“ von Alfred Sohn-Rethel. Matthias Rothe zeigt im „Merkur“, was die Faszination dieses Bändchens ausmachte. Denn unser Denken, so eine zentrale These von Sohn-Rethel, ist bis in seine kleinsten Veräs­telungen hinein vom kapi­talis­tischen Waren­tausch geprägt, die „Warenform“ reicht bis in die „Denkform“ hinein. Um es im Theorie-Jargon der dama­ligen Zeit zu sagen: „Das Transzen­dental­subjekt ist in der Warenform.“ Was wurde aber aus der Begeg­nung von Dadaismus und Marxismus? Schwitters zog nach seiner Ent­lassung aus der Inter­nierung nach London und konstru­ierte nach 1945 in Nordengland seinen letzten „Merz-Bau“ aus Holz und Gips, den er nicht mehr vollenden konnte. Er starb 1948. Alfred Sohn-Rethel blieb ebenfalls in England, erst 1972 zog es ihn nach Deutsch­land, wo gerade sein später Ruhm als undogmatischer Marxist einsetzte.
  Über einen anderen Meisterdenker der Philosophie hat sich das Januar-Heft des „Merkur“ gebeugt: Es ist Martin Heidegger, der sich selber gerne als Jahrhundert-Philosoph deklarierte und all seinen Kollegen, etwa seinem Lehrer Edmund Husserl, seinem Rivalen Karl Jaspers oder auch Jean-Paul Sartre jede Fähigkeit zum Denken absprach. Die posthume Veröffentlichung der sogenannten „Schwarzen Hefte“ Heideggers hat vor drei Jahren seine Rezipienten noch einmal in großen Aufruhr versetzt. Denn was darin an Invektiven gegen die neuzeitliche Wissenschaft, an Weltverschwörungstheorien und antisemitischen Parolen verhandelt wird, erscheint als extrem unappetitlicher Theoriewust, um es freundlich zu sagen. Die Heidegger-Lektüre, die der Philosoph Heiner Klemme im Januar-„Merkur“ vornimmt, kommt jedenfalls zu sehr unerfreulichen Ergebnissen. Heidegger stehe für „die selbstverschuldete Unmündigkeit als Essenz des Denkens“, so resümiert Klemme, und verweist auf unfassbare Äußerungen des Philosophen. Größer als das „Greuelhafte der Gaskammern“, so lamentierte Heidegger etwa nach dem Zusammenbruch des Nazi-Reiches, sei der Umstand zu bewerten, „daß die Welt seynsvergessen ins Nichts rollt und die Menschheit hinter ihrer eigenen Verblendung herrennt“.
  Die Selbstverblendungen dieses trotz allem epochalen Philosophen haben die ganze Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts geprägt. Das geistige Eremitentum, wie es der Bewohner der legendären Hütte in Todtnauberg im Schwarzwald predigte, hat auch der Komponist, Übersetzer und Universalgelehrte Hans Jürgen von der Wense zum Lebenselixier erklärt. 1894 in Ostpreußen geboren, führte Hans Jürgen von der Wense gleich drei Künstler-Leben. Das erste als futuristischer Komponist in Berlin in den Jahren der dadaistischen Revolte, das zweite als Übersetzer aus über 100 Sprachen und Dialekten und das dritte als ekstatischer Wanderer in Hessen und Niedersachsen, wo er in winzigen Mansarden und Kammern wohnte. Zu Lebzeiten hat der 1966 gestorbene Weltenwandler gerade mal 80 Seiten veröffentlicht; in seinem Nachlass befinden sich dagegen etwa 25.000 enzyklopädisch geordnete Blätter, mehrere tausend Briefe, 40 Tagebücher und etwa hundert Notizbücher. Wense war ein Graphomane, der all seine ausschweifenden Wanderungen akribisch notierte und darin seine Erfahrungen in den einzelnen Landschaften als mystische Offenbarungen beschrieb. Nun hat die aktuelle Nummer 70 der Literaturzeitschrift „Am Erker“ ein faszinierendes Dossier zu dem eigensinnigen Landschaftsforscher und Skriptomanen Wense vorgelegt, zusammengestellt von den Literaturwissenschaftlern Reiner Niehoff und Valeska Bertoncini. Es handelt sich um die Briefe, die Hans Jürgen von der Wense an seine zeitweiligen Göttinger Vermieter Ruth und Peter Ritzenfeld geschrieben hat. Von 1959 bis 1963 lebte Wense in einer winzigen Kammer im Haus der Ritzenfelds und schrieb an das Ehepaar, als Peter Ritzenfeld wegen einer schweren Erkrankung längere Zeit in einer Klinik im Schwarzwald zubringen musste. In diesen Briefen äußert sich ein Schiftsteller, der von der Verzauberung der Welt und der Vollendung eines großen Landschaftserforschungsbuchs träumt und doch immer wieder auf seine elenden Lebensbedingungen zurückgeworfen wird. „Der Sinn des Wanderns ist, sich in der Schöpfung zu vergessen“, notiert Wense an einer Stelle- und er bewegt sich in virtuosen Satzperioden immer wieder zwischen einem romantischen Enthusiasmus und tiefer Verzweiflung. „Ich lebe ganz still und im Tiefsten“, schreibt Wense im August 1961, „ – in jener Stille die ein Pfeil hat in seiner schnellsten Bewegung, nämlich im Feuer meiner immer aufwärts stürmenden Arbeit, in meinem großen Gedanken…Jetzt ordne ich meine Lieder der uralischen Wogulen, Gebilde von großer Seelenzartheit, gleichsam Sommerfäden der Poesie, im Fliegen erhascht und doch von einer geheimnisvollen Energie der Empfindung, aufleuchtend wie der goldene Saum einer vergehenden Wolke.“
  Die Idee eines aufgeklärten Lebens – diese Idee verstand der große Einsame Wense als Aufforderung zu einer Erkundung der Landschaft und der poetischen Kartierung der Welt. Welche Schwierigkeiten die europäischen Intellektuellen heute haben, die Idee eines aufgeklärten Lebens auf die große Migrations- und Flüchtlingsbewegung dieser Tage anzuwenden, zeigt das aktuelle Februar/März-Heft des „Philosophie Magazins“. Dort wurden 27 Philosophen, Sozial- und Geisteswissenschaftler und Publizisten mit der Bitte konfrontiert, je eine zentrale Frage der Flüchtlingskrise zu beantworten. Nur wenige Befragte riskieren konkrete und pragmatische Antworten. Wie zum Beispiel Rupert Neudeck, der eine Integrationspflicht und selbstverständliches Tätigsein im Sinne der Allgemeinheit für Flüchtlinge anmahnt. Oder der Sozialwissenschaftler Claus Leggewie, der völlig zurecht die große Lebenslüge des Westens als Ursache für die derzeitige Migrationsbewegung markiert: „Wir haben uns mit Diktatoren arrangiert, die uns die Flüchtlinge vom Hals halten sollten, und wir haben die Erderwärmung geschehen lassen, die…weitere Millionen Menschen aufbrechen lassen wird. Das Leben auf der ethnisch und (a)religiös homogenen Wohlstandsinsel ist passé, die Welt steht in Flammen.“
  Angesichts solcher gesellschaftlichen Umwälzungen hat es die zeitgenössische Literatur schwer, mit den epochalen Umbrüchen Schritt zu halten. Es ist vor allem die digitale und postdigitale Literaturtheorie, die allerlei Absurditäten hervorbringt. Im Januar-Heft des „Merkur“ finden wir gleich zwei Aufsätze, die sich Gedanken machen über die neuen Formen digitalen Schreibens, die von „Kürzestschreibweisen“ einer durch Twitter inspirierten Literatur bis zu rein medientechnisch interessierten Schreibformen reicht. Es geht hier zum Beispiel um kombinatorische Texte, die sich einem rein formellen Kalkül mit computerlinguistisch generierten Mustern verdanken, also um eine Computer-Literatur der Algorithmen und Binärcodes. Man liest die Aufsätze von Hannes Bajohr und Holger Schulze mit einiger Verwunderung, wird doch als dernier cri der postdigitalen Literatur das „Black Book“ des Autors Jean Keller vorgestellt, wobei es dem Autor einzig und allein darum geht, ein Buch mit der höchstmöglichen Anzahl schwarz bedruckter Seiten herzustellen.
  Das mag man als dürftigen „Witz“ empfinden, ist aber wohl ernst gemeint. Um den „Witz“ will sich dagegen die aktuelle Ausgabe der „Akzente“ kümmern, ein Heft, das so manchen Fan der Zeitschrift wegen seiner thematischen Beliebigkeit zu Abo-Kündigungen veranlasst hat. Immerhin findet man hier eine sehr heitere Vision der zukünftigen Literaturwettbewerbe. Marc Degens skizziert die Zukunft des Ingeborg Bachmann-Wettbewerbs, in dem er sich den Sieger-Text des Jahres 2023 als einen sehr experimentellen Beitrag vorstellt, der ausschließlich aus Satzzeichen besteht. Nicht gegen den Text, so Degens, „jedoch gegen seine Vortragsweise, der aus einem fünfundzwanzigminütigen Schweigen bestand, wurden nach der Auszeichnung sogleich Plagiatsvorwürfe erhoben“ – da im selben Jahr ein Lyriker „den Leonce-Lena-Preis mit siebzehnminütigem Schweigen gewonnen hatte.“

Merkur, Heft 1 und 2 /2016  externer Link
Klett-Cotta, Redaktion: Mommsenstr. 29, 10629 Berlin. Je 110 Seiten, je 12 Euro

Am Erker 70 (2016)  externer Link
c/o Frank Lingnau, Rudolfstr. 8, 48145 Münster. 148 Seiten, 9 Euro

Philosophie-Magazin, Februar/März 2016  externer Link
Brunnenstr. 143, 10115 Berlin. 100 Seiten. 6,90 Euro

Akzente, Heft 4/2015  externer Link
Carl Hanser Verlag, Postfach 860420, 81631 München. 96 Seiten, 9,60 Euro

 

 
Michael Braun
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