poetenladen    poet    web

●  Sächsische AutobiographieEine Serie von
Gerhard Zwerenz

●  Lyrik-KonferenzDieter M. Gräf und
Alessandro De Francesco

●  UmkreisungenJan Kuhlbrodt und
Jürgen Brôcan (Hg.)

●  Stelen – lyrische GedenksteineHerausgegeben
von Hans Thill

●  Americana – Lyrik aus den USAHrsg. von Annette Kühn
& Christian Lux

●  ZeitschriftenleseMichael Braun und Michael Buselmeier

●  SitemapÜberblick über
alle Seiten

●  Buchladenpoetenladen Bücher
Magazin poet ordern

●  ForumForum

●  poetenladen et ceteraBeitrag in der Presse (wechselnd)

 
Dezember 2015
zS-Lese      
Zeitschriftenlese  –  Dezember 2015
von Michael Braun | Saarländischer Rundfunk – Literatur im Gespräch


„Es wäre schön, kein Schriftsteller zu sein“: Diese paradox anmutende Formel hat der 2006 ver­storbene öster­reichi­sche Autor Gerhard Amans­hauser als Titel seiner Tage­bücher gewählt. „Es wäre schön, kein Schrift­stel­ler zu sein“: Natür­lich steht ein solches Bekennt­nis sogleich unter dem Verdacht der Koket­terie, ist doch Amans­hauser bis in seine letzten Lebensjahre hinein ein Mann der Schrift geblie­ben, auch wenn er am Ende die wenigen Seiten, die er noch schrieb, mit Wasser­farben übermalte. Und doch ist sein Satz von tiefer Ernst­haftig­keit. Denn auch wenn sie ihre ganze Existenz auf das Schreiben ausge­rich­tet haben, werden die Autoren der Moderne irgend­wann von einem melan­choli­schen Bewusst­sein befallen, das die Zweifel am Sinn des Schreibens wie auch des Lebens immer größer werden lässt. Solche Denk­figuren des Zweifels, die als subtile ästhe­tische Unter­wande­rungen der eigenen lite­rari­schen Tätig­keit daher­kommen, hat nun auch der mittler­weile 83­jährige Dichter und Kritiker Harald Har­tung in den Mittel­punkt seiner jüngs­ten Auf­zeich­nungen gerückt. Unter dem Titel „Provi­sorische Schlüsse“ hat Hartung in der aktuel­len Novem­ber / Dezember-Ausgabe der Lite­ratur­zeit­schrift „Sinn und Form“ eine sehr fein­sinnige Samm­lung von Prosa­minia­turen vor­gelegt, die Ger­hard Amans­hausers Selbst­zweifel auf­nehmen und sie neben weitere Abschieds­gesten stellen. Aber klar ist auch hier: Auch dieser große ästhe­tische Schluss-Gong ist „provi­sorisch“, es werden noch weitere Fuß­noten zum Lebens­buch des Schrift­stellers Hartung hinzukommen.
  An emphatischen Abschiedsgesten und Null­ansagen mangelt es derzeit nicht in den Diskus­sionen über gegen­wärtige Kunst und Literatur. „Es gibt in der Gegenwart keine Kunstkritik.“ Mit dieser apodik­tischen These eröffnet etwa der als Schrift­steller wie als Unternehmer erfolgreiche Ernst-Wilhelm Händler seine General­abrech­nung mit den hohlen Diskursen über Gegen­warts­kunst. In seinem angriffs­lustigen Essay im November-Heft der Kultur­zeit­schrift „Merkur“ stellt Händler den Theo­retikern der Kunst ein mise­rables Zeugnis aus. „In keinem anderen Feld“, so Händler, „gibt es so viele inkon­sistente und vor allem triviale Texte wie in der Literatur über Kunst.“ Zu einer plumpen Negation der Werke Gerhard Richters oder Jeff Koons´ lässt er sich natürlich nicht hinreißen. Aber die seit längerem schwelende Frage, wie plau­sibel zu machen ist, dass eine mono­chrome Leinwand, ein auf den Kopf gestelltes Pissoir oder eine Fettecke Kunst sind, befeuert auch seine scharfe Kritik an der Kunst­debatte. Letztlich überrascht Händler dann mit der These, dass es bei allen berech­tigten Ein­wänden gegen die Ökono­misie­rung des Kunst­markts doch einen Zu­sammen­hang zwischen dem pekuniären und dem ästhetischen Wert des Kunst­werks gibt. Händ­ler lapidar: „Wenn ein Künstler sehr berühmt und sehr teuer ist, dann hat das etwas mit seinem Werk zu tun.“ Einen ähnlich kühnen Rund­um­schlag wie zur Kunst­debatte hat Ernst-Wilhelm Händler übrigens auch zu den Strate­gien der Gegen­warts­lite­ratur gestartet. Dieser sehr anfecht­bare Text, zu lesen in Heft 3/2015 der Lite­ratur­zeitung „Volltext“, entwirft sehr skizzen­haft eine lite­rarische Typo­logie, über die zu disku­tieren wäre. Etwa über das von Händler beobachtete „Prinzip der Gesell­schafts­ferne“ oder den „Widerspruch von verkün­deter und gelebter Moral“. Dass es freilich im Gegensatz zu Händlers Auffassung sehr wohl Texte gibt, die sehr lehr­reiche und gerade­zu beglückende Erkenntnisse über Kunst vortragen, kann man in den aktuellen Ausgaben der Zeit­schriften „Mütze“ und „Park“ sehen. Der Schweizer Lyrik-Editor Urs Engeler hat für die neue Ausgabe, das Heft 10 seiner seit drei Jahren erschei­nenden Zeit­schrift „Mütze#“ einen herrlichen Essay des franzö­sischen Poeten Jean Daive über den öster­reichi­schen Maler Joerg Ortner über­setzt. Beide, Jean Daive und Joerg Ortner, waren mit Paul Celan befreundet und lernten sich bei Celans Beerdigung im April 1970 kennen. In seinem poetischen Essay beschreibt Daive den Maler­freund Ortner als einen Künstler, der seine Kunst „bis zum Gipfel des Desas­ters“ gelebt habe. Das letzte Jahrzehnt seines Lebens arbeitete Ortner mit obses­siver Inten­sität an einem Fresko im ober­italienischen Lucca; ein Fresko, das er en detail skiz­ziert hatte, ohne seine Vollendung je zu erreichen. In den sehr sinnlich geschrie­benen Erin­nerungen, Anek­doten und Szenen, die Jean Daive zu einem Porträt Joerg Ortners verflochten hat, steht eine Geschichte im Mittel­punkt, in dem das Imagi­nations­vermögen des Künstlers in der Art eines Mysteriums auf­blitzt. Bei einem Abend­essen mit Freunden findet Ortner zu einer magischen Formel, die er unab­lässig wieder­holt, bis er schließ­lich wie in Ekstase in Tränen ausbricht. Fast litanei­artig repetiert der Künstler einen Satz: „Man muss das Herz von Rimbaud waschen.“ Die stärksten Momente hat dieser exzellente Essay, wenn Daive in poetischen Evo­kationen von Licht und Wasser über seine ästhe­tische Erfahrung berichtet. Der Dichter wird zu einer Art „Licht­schreiber“, der die Inten­sitäten der Elemente beim Blick auf den nächtlichen Fluss darstellt: „Ein Mysterium, wahr­haftig – was sich in der Nacht auf der Ober­fläche des Wassers kräuselt – eine Frage der Reflexion, eine Frage des Wetters, eine Frage des Lichtes, eine Frage der Strömung – unbeweg­lich und bewegt – am selben Ort, es fließt und es fließt nicht, rückwärts oder an Ort und Stelle. …Nicht immer ist es nötig zu sprechen [enoncé], um die Hauptsache zu zeigen.“
  Ein zweites Beispiel für eine poetische Essayistik, in der sich Reflexionen auf Poesie und auf Bildende Kunst gegenseitig beflügeln, ist die große Rede auf das Werk des Dichters und Grafi­kers Christoph Meckel, die soeben Heft 68 der Poesie­zeit­schrift „Park“ ver­öf­fent­licht hat. Volker Bauer­meister be­schreibt hier die Radie­rungen und Zeich­nungen Meckels als phan­tas­tische Architek­tonik der großen „Welt­komödie“. Diese „Welt­komö­die“ erscheint als ein dyna­misches Gebäude aller erdenk­baren Lebens­visionen, in dem die Menschen und die Dinge aus den alten Ordnun­gen erlöst sind, ohne auf eine neue sinn­volle kosmische Ord­nung zuzu­steuern. Im Ra­dierungs-Zyklus „Der Turm“, von dem wir ein Beispiel in „Park“ sehen, ist die Ordnung aus den Fugen geraten. Im Zentrum des Bildes ist ein babylonischer Turm zu sehen, bei dem disparateste Elemente auf­ein­ander­gestapelt worden sind. Die Menschen, die sich vor dem Bauwerk ver­sammeln, er­schei­nen auch nicht als autonome, freie Wesen; auf einem ver­gitterten Karren wird offenbar ein Gefa­ngener am Turm vorbei­gezogen. „Ich zeichne den Himmel des 20. Jahr­hun­derts“, hat Meckel selbst zu seiner „Welt­komö­die“ geschrieben, „es ist ein zerstörter Raum, ein technischer Limbo, Schauplatz von Macht und Zer­störung aller Art, Kloake des Erdballs.“ Neben dem lesens­werten Essay über Meckel sind auch außer­ordent­lich gute Gedichte von Jan Koneffke, Kathrin Schmidt und Ron Winkler in „Park“ zu lesen.
  Und noch ein Abschied ist dieser Tage zu vermelden: Der Abschied vom Glau­ben an die geistige Hege­monie und Wirkungs­kraft fran­zö­sischer Intel­lek­tueller. Als im Januar dieses Jahres eine terr­oristische Zelle die Mitarbeiter der fran­zö­sischen Satire­zeit­schrift „Charlie Hebdo“ ermordete, waren von den einstigen fran­zö­sischen Meister­denkern wie Alain Finkielkraut fast nur noch islam­feind­liche Töne zu hören. Das Maß aller intel­lektuel­len Dinge in Frankreich ist im Moment nur ein Autor – Michel Houellebecq, dessen neuer Roman „Soumis­sion“, auf deutsch: „Unter­wer­fung“ am Tag des Attentats auf „Charlie Hebdo“ erschien. In „Die Wie­der­holung“, einer neuen Zeitschrift für Litera­tur­kritik, die der Heidel­berger Lite­ratu­rwissen­schaftler Leonard Keidel ins Leben gerufen hat, findet man zu Houel­lebecqs Roman „Soumis­sion“ eine mikros­kopische Text­analyse. Verfasst hat sie die Lite­ratur­wissen­schaft­le­rin Chiara Caradonna, und zwar durch­aus im Geiste des fran­zösischen Struk­tura­lismus. Caradonna stützt ihre feinsinnige Analyse auf die „Danks­agung“ am Ende des Romans, die an eine franzö­sische Profes­sorin adres­siert ist. Daraus leitet sie eine folgenreiche Verschiebung vom männ­lichen „Ich“ der Erzäh­lung, einem Lite­ratur­forscher und Frauen­eroberer, zum weib­lichen Adres­saten der „Dank­sagung“ ab. In einem Exkurs über den Liebesbegriff Houellebecqs und die Vor­stel­lungen seines Helden von Erotik und Begehren führt Caradonna aus, dass Houel­lebecqs Held François einäußerst „durch­schnitt­lichen“, lang­weiligen Liebes­praxis folge. Am Ende wird gar die Frage aufge­worfen, ob im Roman, der schon im Titel die „Unterwerfung“ als Merk­mal von Religion und Sexua­lität aufruft, letztlich sogar „die Erotik des Mannes aus der Sicht einer Frau“ dargestellt werde. Das ist eine durch und durch über­raschende Les­art, zumal Houellebecqs Roman­helden bislang immer als eine „Mischung aus exis­tentiel­ler Nieder­gedrückt­heit und hormo­neller Über­pro­duktion“ auftraten und an der Mas­kulinität seiner Perspektive kein Zweifel bestand.
  Im aktuellen Dezemberheft des „Merkur“ zeigt nun Danilo Scholz in einem großartigen Essay die unglaubliche intellektuelle Wand­lungs­fähig­keit des Michel Houellebecq, der eine ebenso aufgeregte wie wider­sprüch­liche Rezeption seiner Werke entspricht. Scholz verweist auf die die noch unent­deckten Fa­cetten des Autors Houel­lebecq wie auf die kuriosen Ver­suche seiner Rivalen, mit bos­haften Pole­miken die Wir­kungs­kraft dieses Autors zu unter­binden. Im Blick auf den Roman­titel „Soumis­sion“ fügt Scholz noch eine Inter­pretation hinzu, die in Caradonnas Aufsatz fehlt. „Soumission“, so Scholz, lässt sich nicht nur mit „Unter­wer­fung“ über­setzen, sondern auch als „Unter­worfenh­eit“, eine Kate­gorie, die nicht nur ins Reli­giöse und Poli­tische führt, sondern auch einen Grund­zustand des Künstlers be­zeich­net. Der Erzäh­ler in Houellebecqs Roman „Karte und Gebiet“, so argu­mentiert Scholz, ist zum Beispiel den „mys­teriösen und un­vor­her­sehbaren Bot­schaf­ten“ der In­tuition „unter­worfen“.
  Eines ist Michel Houellebecq bei aller Anfecht­barkeit seiner Werke und seiner poli­tischen Hal­tungen gewiss nicht – ein Mit­glied der „Champagner-Linken“ oder ein „Chardonnay Socialist“, Lebensstile, wie sie in einer herr­lichen Glosse im neuen „Merkur“ ironisch seziert werden. Wenn in der politi­schen Kuli­narik der Deutschen stets die Haus­manns­kost domi­nierte: der Saumagen bei Helmut Kohl oder die Dicken Bohnen bei Adenauer – in der franzö­sischen Republik liebte man stets die Üppigkeit. Bei einem offi­ziellen Schau­essen im Frühjahr dieses Jahres in Versailles, so berichtet Philipp Manow im „Merkur“, wurde ein opulentes Menü ange­boten – aus diversen Fisch- und Käse­spezia­litäten, ergänzt von 18 Kilogramm Trüffeln, fünf Kilo Kaviar, dazu natürlich Wein und Champagner im großen Stil. Auch das poli­tische Essen hat eben seine Ästhetik.

Sinn und Form, Heft 6/2015   externer Link
Postfach 210250, 10502 Berlin. 140 Seiten, 11 Euro.

Merkur 11/12(2015)  externer Link
Klett-Cotta Verlag. Redaktion: Mommsenstr. 27, 10629 Berlin. Je 112 Seiten, je 12 Euro.

Volltext, Heft 3/2015  externer Link
Porzellangasse 11/69, A-1090 Wien. 40 Seiten, 3,90 Euro.

Mütze# 10  externer Link
Turnhallenstr. 166, CH-4325 Schupfart. urs@engeler.de, 52 Seiten, 6 Euro.

Park 68 (2015)  externer Link
Tile-Wardenberg-Str. 18, 10555 Berlin. 116 Seiten, 7 Euro.

Die Wiederholung, Heft 1(2015)  externer Link
Leonard Keidel, Zwingerstr.11, 69117 Heidelberg.
info@diewiederholung.de, 80 Seiten, 13 Euro.

 

 
Michael Braun
Bericht
Archiv