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Dezember 2012
In der Auflösung aller markanten Unterschiede zwischen der Welt des ästhetischen Scheins und der empirisch greifbaren Realität sind wir inzwischen weit fortgeschritten. Die Einebnung jedweder Differenz zwischen Kunst und Leben hatte sich offenbar auch die Kuratorin der jüngsten documenta, die Kunsthistorikerin Carolyn Christov-Bakargiev, zur Aufgabe gemacht. Angetrieben von einem naiven animistischen Ehrgeiz, erklärte sie, sie sehe keinerlei Unterschied zwischen einem Mann, einer Frau und einer Tomate. Sie wolle die Erdbeeren emanzipieren, ein Wahlrecht für Hunde sei Pflichtprogramm für eine Zivilgesellschaft. Und wer Unterschiede machen wolle zwischen einem Bienenstock und einem Raffael- Gemälde, sei doch überaus „menschenzentriert“.
Angesichts solcher Verirrungen ist es wenig verwunderlich, dass auch die zeitgenössischen Vertreter der Avantgarde auf Abwege geraten sind. Besaß die historische Avantgarde noch ein Bewusstsein von den Normen der Tradition, denen sie ein radikales Gegenkonzept entgegenzusetzen wusste, so geht es bei den derzeit agierenden Schwundformen des Avantgardismus oftmals nur noch um eine hyperventilierende Exzentrik. Diese sucht in den tabuierten Zonen des Pathologischen, Obszönen, Ekelhaften oder Absurden nach wirkungsvollen Schockstrategien. Von einer besonders abstoßenden Schockstrategie weiß nun die ausgezeichnete Jubiläumsausgabe, die Nummer 60 der Literaturzeitschrift EDIT zu berichten, die eine Reihe fabelhafter Essays enthält. Der Philosoph Guillaume Paoli analysiert hier eine kannibalistische Verstümmelungs-Aktion, die in der japanischen Kunst-Szene tatsächlich als „Performance“ rezipiert wurde. Der transsexuelle Künstler Mao Sugiyama ließ sich seine Genitalien operativ entfernen, um sie anschließend, mit Pilzen und Petersilie angerichtet und gegen Zahlung einer horrenden Summe, an per Twitter geladene Gäste zu verköstigen. Der knappe Vorrat, so schreibt Paoli, reichte nur für fünf Personen; es kamen jedoch siebzig Gäste, die dann mit Krokodilfleisch vertröstet wurden. Kannibalismus, so resümiert der EDIT-Essayist trocken, ist weder in Japan noch in Deutschland gesetzlich verboten, so dass die grausige Aktion kein juristisches Nachspiel hatte. Für solche Inszenierungen einer provokativen „Asexualität“ findet der Autor des EDIT-Beitrags die Kategorie „Narzissmus-Nihilismus“. Das ist ein sehr milder Begriff für die bizarren Exhibitionismen, die in der internationalen Kunstszene als Avantgardismus herumgeistern. Ein zweites Beispiel für eine etwas autistische Versuchsanordnung untersucht die junge Romanautorin Nina Bußmann in ihrem wunderschönen EDIT-Essay über einen der zähflüssigsten Stoffe der Welt: das Pech. Vor über achtzig Jahren verfiel ein australischer Universitätsprofessor auf ein eigenartiges Experiment. Er füllte einen Trichter mit erhitztem Pech und ließ es zunächst unter einer Glasglocke erkalten. Drei Jahre später öffnete er dann den Trichter, um die dereinst zähflüssige, jetzt scheinbar feste Materie abfließen zu lassen. Alle acht bis zwölf Jahre nur entweicht ein Tropfen aus dem Trichter. Mittlerweile aber sind Anlass und Sinn des Experiments verloren gegangen, nur noch die Faszination am schwarzen, zähflüssigen Pech ist geblieben – eine Faszination, die Bußmanns Text in poetisch dicht gefügten Sätzen wiedergibt. Die Sinnlosigkeit des Experiments indes lässt sich auch als Sinnbild für die Autismen der Avantgarde verstehen, die ihre ästhetische Intelligenz in den Dienst eines Spektakulums gestellt hat.
Weitere Beispiele für eine trostlose Entgrenzung des Ästhetischen finden wir auch bei den Gegenwartskünstlern, die mit großer Geste an die Literaturrevolution des Dadaismus anschließen wollen. Im Jahr 1869 hatte der Dichter Lautréamont in seinen „Gesängen des Maldoror“ einen Satz formuliert, der die nachfolgenden Literaturrevolutionen geprägt hat wie kaum ein anderer. Etwas sei schön, heißt es bei Lautréamont, „wie die zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“. Dieses Schönheits-Konzept haben auch viele Dadaisten und Surrealisten übernommen – freilich war ihr Tun noch an konzise ästhetische Programme gebunden, nicht an die Apologie von purer Willkür.
In die Geschichte und vor allem in die Nachgeschichte der literarischen Avantgarde kann man sich nun mit Hilfe des traditionsreichen Schweizer Kulturmagazins DU vertiefen. In der grafisch und bildästhetisch originellen, aber in den Textbeiträgen nicht immer überzeugenden November-Ausgabe von „Du“ feiert man die Erfindung des Dadaismus im Zürcher „Cabaret Voltaire“ vor 96 Jahren. Die Gründung des „Cabaret Voltaire“ im Februar 1916 wird hier zum Anlass genommen, sich mit der Wirkungsgeschichte von Dada und vor allem mit dem dadaistischen Esprit der Gegenwartskunst auseinanderzusetzen. Intelligente Argumente findet man indes nur in den historischen Beiträgen, etwa wenn Bernhard Echte den einzigen genuinen Schweizer Beitrag zum Dadaismus vorstellt, den morphiumsüchtigen Schriftsteller Friedrich Glauser, der als Kleptomane und Behörden-Bluffer eine erstaunliche Lebenskunst entwickelte. Auch der „Du“-Beitrag von Stefan Zweifel führt zu einer Primärquelle des Dadaismus – zur Geburt der Poesie aus dem Rausch. „Opiumesser und Morphinisten erbauen eine Welt“, so wird hier aus dem Tagebuch von Hugo Ball zitiert, „die unserem ach so normalen Europa leider verlorenging oder ihm immer fehlte. Es scheint eine Philosophie der Rauschmittel zu geben: ihre Gesetze interessieren mich. Es ist ein verteufelter Weizen, der da blüht.“
Leider wird in anderen Beiträgen des Heftes allzu oft einem Missverständnis gehuldigt, das der Dichter Raoul Hausmann mit der Behauptung in die Welt setzte, der Dadaismus sei „eine riesige Entbindung“ gewesen. So findet man auf den „Du“-Seiten immer wieder den irreführenden Hinweis, die Dadaisten hätten gegen den „Widersinn der Zeit“ vor allem „gezielte Unlogik, Idiotie und Dilettantismus“ mobilisiert. Das ist bestenfalls eine Halbwahrheit. Denn der Dichter Hugo Ball, der intelligenteste Kopf der Dadaisten, hat stets den demonstrativen „Ernst“ betont, mit dem er nach der „innersten Alchemie des Worts“ suche. Es ging ihm nicht um bloße Gaukelei, sondern um mystische Erfahrungen auf der Suche nach dem innersten Glutkern der Wörter. Hugo Ball, der produktivste Avantgardist der kurzen Dada-Periode, hat selbst das Wort „Avantgarde“ nur in einer Randbemerkung verwendet und hat dann auch eine radikale religiöse Kehre vollzogen, als sich im „Cabaret Voltaire“ die Routine breitmachte. Völlig zurecht verweist daher Adrian Notz im „Du“-Heft auf Hugo Balls Vergleich der Dadaisten mit einer „gnostischen Sekte“, die sich im Angesicht des Bildes Jesu zurückverwandelte in „Wickelkinder“. Die selbsternannten Dada-Jünger der Gegenwart behelfen sich oft nurmehr mit Ritualen der Regression. Als ein regressiver Unfug ist auch die in „Du“ dokumentierte Aktion des Schweizer Künstlerduos Com & Com zu bewerten, die 2004 folgenden Aufruf lancierten: „Wir schenken ihrem Baby zehntausend Franken, wenn Sie ihm den Namen Dada geben.“ Leider haben sich rasch Kandidaten gefunden, die sich für diese sinnfreie Aktion begeisterten.
Wenn man von diesen bedenklichen Fehlleistungen im Zeichen von Dada absieht, bietet das „Du“-Heft doch auch viel Hilfreiches zum Kontext der dadaistischen Revolte. Der russisch-deutsche Dichter Valeri Scherstjanoi zieht zum Beispiel einige Verbindungslinien zwischen der Lautpoesie Hugo Balls und der experimentellen Dichtung des russischen Futuristen Alexej Kruchtschonych, einem Freund und Weggefährten des radikalsten Avantgardisten Russlands, Welimir Chlebnikow.
Aus welcher materiellen Substanz und topografischen Erfahrung der Futurist Welimir Chlebikow seine futuristische „Sternensprache“ schöpfte, untersucht nun ein Essay in der aktuellen Ausgabe, der Nummer 99 der Kulturzeitschrift „Lettre International“. Der Schriftsteller Wassili Golowanow kann hier zeigen, dass Chlebnikows Wortschöpfungen elementar verbunden sind mit der Landschaft, in der er aufwuchs. Das poetische Koordinatensystem Chlebnikows ist die Landschaft rund um das Kaspische Meer – das Wolgaudelta, das seit je nicht nur ein uralter Transitraum von Waren aus allen Kontinenten war, sondern auch ein kultureller Geschichtsort, an dem die Kraftlinien vieler Kulturen zusammenlaufen. Welimir Chlebnikow, der Sohn eines Vogelkundlers, hat nicht nur ornithologische Begrifflichkeiten, sondern auch die botanischen und geologischen Merkmale des kaspischen Raumes in die Sprache seiner Poesie integriert. Daraus entstand dann der Entwurf seiner sogenannten „Zaum“-Sprache, eine magische, nach allen Seiten hin offene, Grenzen sprengende „Sternensprache“. Nach der Oktoberrevolution irrlichterte Chlebnikow zwischen den Fronten, wurde zweimal inhaftiert, erkrankte an Typhus und starb schließlich, von Krankheit und Hunger ausgezehrt, im Mai 1922 auf einer abgelegenen Station im russischen Norden. Erst ein halbes Jahrhundert später wurde er europaweit zur Kultfigur der literarischen Avantgarde.
Wenn man heute in Literaturzeitschriften nach radikaler und auch substantieller Dichtung im Geiste der Avantgarde Ausschau hält, muss man an die Ränder gehen, hin zu den kleinen Lyrik-Zeitschriften, die kompromisslos ihren Weg gehen. Da ist in erster Linie die „Mütze“ zu nennen, die neue Zeitschrift des sich immer wieder neu erfindenden Lyrik-Editors Urs Engeler, der sein neues Blatt nun auch für Essays und aufregende Prosa-Projekte geöffnet hat. Die aktuelle September- und Dezember-Ausgabe, also die Nummer 2 und 3 der „Mütze“, sollte sich unbedingt aufsetzen, wer die neuesten Strömungslinien sprachreflexiver Dichtung kennenlernen will. Hier finden sich zum Beispiel bewegende Gedichte aus dem Nachlass des Dichters und Übersetzers Wolfgang Schlenker, der sich vor Jahresfrist das Leben genommen hat. Es sind Gedichte, die das Melancholie-Motiv auf dem berühmten Stich Albrecht Dürers aufnehmen und es in ein Mosaik aus Verlorenheits-Bildern eintragen. „stichwort minimieren“ heißt da ein Text, der von der fortschreitenden Schrumpfung des Lebens-Horizonts spricht und von dem paradoxen Daseinsgefühl des Ich, „ein eigenständiger und völlig korrekter teil / einer größeren entfernung zu sein“. Das schönste Gedicht aus dem „bruder morpheus“-Manuskript Wolfgang Schlenkers ist die „freilaufende geschichte“, ein Text, der eine Meditation über Dürers Bild „Kleines Rasenstück“ mit dem Bienen-Motiv der amerikanischen Poetin Emily Dickinson zusammenführt. Nicht zufällig hat Schlenker viele Jahre seines Lebens darauf verwendet, eine ganz eigene Tonlage für seine Übersetzungen der Gedichte Emily Dickinsons zu finden. Einige Meisterstücke lyrischer Prosa liefert in der Nummer 3 der „Mütze“ die Dichterin Jayne-Ann Igel, die mit ihren poetisch sehr fein gewebten Traumwanderungen ein phantamagorisches Flimmern erzeugt. Es entsteht – wie in ihren früheren Gedichten – ein „gären von bildern in allen teilen des körpers“. Ein schwer zu enträtselndes, gleichwohl faszinierendes Stück hermetische Poesie, in dem sich die Wörter zu verselbständigen scheinen, sind schließlich die „Quadratgedichte“ von Jean-René Lasalle, die in der „Mütze“ erstmals einem deutschen Publikum präsentiert werden. Übersetzt hat diese „Quadratgedichte“ der wohl sprachbesessenste Poet der Gegenwart, der Österreicher Franz-Josef Czernin.
Die verlässlichste Zeitschrift für die Erkundung neuer dichterischer Sprechweisen ist aber seit über dreieinhalb Jahrzehnten der „Park“, im Alleingang herausgegeben von dem Lyriker und Übersetzer Michael Speier. In der jüngsten Ausgabe, der Nummer 65 des „Park“, hat Speier wieder zauberhafte Gedichte von Kerstin Preiwuß und Christoph Meckel versammelt, neben Texten finnischer Dichter. Das darf schon deshalb als editorische Großtat gerühmt werden, weil finnische Dichtung nach dem Tod von Paavo Haavikko von der Landkarte der modernen Poesie verschwunden scheint. Einen Auftritt im „Park“ wie auch in der „Mütze“ hat der Dichter Ron Winkler, der kurz vor seinem vierzigsten Lebensjahr neue Möglichkeiten des Sprechens für sich entdeckt hat, die ihn von den stark technizistischen Bewusstseinsgedichten seiner frühen Jahre wegführen. Wörter – so darf man vielleicht im Rückgriff auf ein Winkler-Gedicht sagen – sind bei diesem Dichter „Animierwesen“ in bestem Sinne, sie suchen nach einer Möglichkeit, uns gleichsam mitten im Wort zu wecken, uns loszureißen vom bloß funktionalen Gebrauch der Sprache. In der „Mütze“ wagt sich Winkler nun auf das schwierigste Feld der Dichtung – er erprobt die Erkundung des eigenen Ich. In seinen Erinnerungsbildern aus einer DDR-Kindheit blitzen da und dort noch einige manieriert wirkende Substantive auf, die aber zurücktreten hinter einer Kunst der poetischen Vergegenwärtigung: „heute weiß man: Geschichtsbücherjahre wurden eingebracht, -geweckt, / und von den Stoppeln ging ein Glosen / aus, das in die Sonne fand / und von dem die kleine Schwester sagte: doch, ich habe das gehört bis in die Puppen noch…..und es war Frieden, friedlich, hinter der Augenrändergrenze / wuchsen die Träume, wuchsen Träume nach.“
EDIT Heft 60
Gerichtsweg 28, 04103 Leipzig, 144 Seiten, 5 Euro.
Du 11 (2012)
Du Kulturmedien, Stadelhoferstr. 25, CH-8001 Zürich. 114 Seiten, 15 Euro.
Lettre International 99
Erkelenzdamm 59/60, 10999 Berlin. 140 Seiten, 11,90 Euro.
Mütze 2 (2012) und 3 (2012)
Urs Engeler, Obere Steingrubenstr. 50, CH-4500 Solothurn. 52 Seiten, 6 Euro.
Park 65
Michael Speier, Tile-Wardenberg-Str. 18, 10555 Berlin. 96 Seiten, 7 Euro.
Michael Braun 12.12.2012
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Michael Braun
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