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Juni 2014
„Bekenntnisse“ sind unter den jungen deutschen Autoren der Gegenwart absolute Mangelware. Der große Auftritt einer literarischen oder philosophischen Subjektivität, wofür einst die „Confessiones“ des Kirchenlehrers Augustinus das Modell bildeten, kann unter den Bedingungen metaphysischer Erschöpfung, wie sie für den heutigen Literaturbetrieb kennzeichnend sind, nicht mehr stattfinden. Der moderne Autor ist für „Bekenntnisse“ nicht mehr zuständig, allenfalls für punktuelle Perspektiven und das elegante Mischen der Diskurse und routinierte Verwalten von Prunkzitaten. Als kürzlich die Literaturstrategen des Hildesheimer Instituts für kreatives Schreiben ganz anti-zyklisch „Bekenntnisse“ auf die Agenda ihres Festivals „Prosanova“ setzten, war die Verlegenheit groß. „Wozu sollten sich die jungen Autoren denn auch bekennen?“, fragt denn auch ein zentraler Essay in der aktuellen Sonderausgabe der institutseigenen Zeitschrift „BELLA triste“. Die Literatur, so resümiert hier der Literaturwissenschaftler Christian Schärf, begegnet den jungen Autoren um die Dreißig „als Geschäftsmodell, nicht mehr als existenzielle Herausforderung, nicht mehr als Abgrund, in dem man scheitern kann.“ Und was hätten die jungen Autoren dem allgemeinen Zeitbewusstsein auch entgegenzusetzen? Inwiefern können sie überhaupt so etwas wie eine Bewusstseinsherausforderung der Gegenwart produzieren?
Schaut man nun auf die Statements, die elf junge Autoren im Sommerheft von „BELLA triste“ abgeliefert haben, so kommen einem unwillkürlich die Erkenntnisse des immer noch aktuellen „Medizynikers“ Gottfried Benn in den Sinn, die er im August 1950 in einem Vortrag im Nordwestdeutschen Rundfunk formuliert hatte. Im Rückblick auf sein großes Vorbild Nietzsche beschrieb Benn damals die Voraussetzungen der Kunstproduktion, die Grundlagen der „Ausdruckswelt“ so: „Der Mensch ohne moralischen und philosophischen Inhalt, der den Form- und Ausdrucksprinzipien lebt. Es ist ein Irrtum anzunehmen, der Mensch habe noch einen Inhalt oder müsse einen haben. Der Mensch hat Nahrungssorgen, Familiensorgen, Fortkommenssorgen, Ehrgeiz, Neurosen, aber das ist kein Inhalt im metaphysischen Sinne mehr.“ Mit dieser Diagnose, die auch in „BELLA triste“ zitiert wird, hat Benn im Grunde auch eine aktuelle literarische Lageanalyse für das Jahr 2014 vorgelegt. Denn der junge Autor von heute schreibt ebenfalls als ein „Mensch ohne moralischen und philosophischen Inhalt“, der allenfalls alltagspragmatische Sorgen hat, aber kein großes metaphysisches Thema mehr – und leider auch nur noch Rudimente von Ausdruckskunst.
Sehr auffällig ist die Ratlosigkeit und ästhetische Schwäche, die bei den befragten Autoren in „BELLA triste“ auf der Suche nach „Bekenntnissen“ offenbar wird. Den erzählerischen Realismus scheut man aus Angst, der Gestrigkeit bezichtigt zu werden, gefragt sind dagegen „hybride Textkörper“ und „polytope Crossover- Verschaltungen“, wie Christian Schärf beobachtet hat.
Ebenfalls in „BELLA triste“ zeigt sich die Literaturkritikerin Ina Hartwig irritiert durch die Sehnsucht der jungen Autoren nach einem permanenten Community-Erleben in einer auf Dauer gestellten „Party“. Ein seltsam diffuses „Wir“-Gefühl geistere, so Hartwig, durch die „Bekenntnisse“ der jungen Literatur, „eine Mischung aus Jargon und Poesie“. In dem interessantesten Beitrag des Heftes konfrontiert Florian Kessler, selbst ein Absolvent des Hildesheimer Instituts und mittlerweile auch ein gefragter Literaturkritiker, die Bekenntnis-Abstinenz seiner Kollegen mit der Klandestinitäts-Poetik des mittlerweile vergessenen Schriftstellers Gert Neumann. Weder in der DDR, die den 1942 geborenen Wortartisten Neumann schikanierte, noch in der Bundesrepublik fand die komplizierte Wort-Artistik Neumanns die ihr gebührende Anerkennung. Gert Neumanns mittlerweile vergriffene Prosabücher „Elf Uhr“ oder „Die Klandestinität der Kesselreiniger“ umkreisen in großen Satzschleifen die Schwierigkeiten des Schriftstellers, überhaupt zu einer angemessenen, von Stereotypen freien Sprache zu finden. Seine Prosasprache hat nichts vom Mitteilungsdrang deutscher Durchschnittsepik – sie verstört durch ihre verschlungene Syntax und den fast schon quälenden Zweifel an der Möglichkeit des Sprechens. Diese komplexe sprachreflexive Literatur hat in Deutschland keinen Verleger mehr. Florian Kessler resümiert lapidar auch das Fehlen dieser Erfahrung unter seinen jungen Kollegen: „Die Erfahrung des Scheiterns, jene Neumann-Erfahrung des verzweifelten Verstummens.“
Tatsächlich sind es solche großen Autoren wie Gert Neumann oder der 2001 verstorbene Klaus Schlesinger, die für ihren literarischen Eigensinn im Osten wie im Westen mit unterschiedlichsten Strategien der Ausgrenzung bestraft wurden.
Von der schlimmsten Zeit der Verfemung im Leben Klaus Schlesingers, der 1980 aus der DDR in den Westen gegangen war, berichtet nun ein Dossier in der aktuellen Ausgabe, dem Heft 3/2014 der Literaturzeitschrift „Sinn und Form“. Er habe lange vergeblich versucht, sein „Doppelleben als Ostler und Westler zu vereinigen“, notiert Klaus Schlesinger in seinen Tagebuchaufzeichnungen vom Oktober und November 1991, die erstmals in „Sinn und Form“ veröffentlicht werden. Es war die Zeit kurz nach der Enthüllung von Sascha Andersons Spitzel-Tätigkeit für die Staatssicherheit, eine Phase der politischen Erregung, da sich Künstler und Intellektuelle der untergegangenen DDR zuweilen gegenseitig der Kollaboration mit dem SED-Staat bezichtigten. Durch ein von der Dichterin Helga Novak lanciertes Gerücht war Klaus Schlesinger plötzlich in den Verdacht geraten, ebenfalls der Stasi gedient zu haben. Die Behauptung war frei erfunden, ein böswilliger Racheakt der Dichterin, die mit Schlesinger ein paar Jahre liiert gewesen war und ihm nach der Trennung mit Vergeltung gedroht hatte. Schlesinger verweist in seinem Tagebuch auf die „Diskrepanz zwischen Talent und Charakter“ bei Helga Novak, ein Charakterzug, der in diesem Fall fast existenzvernichtende Folgen für den denunzierten Schlesinger hatte. Helga Novak selbst war ursprünglich eine begeisterte Jungkommunistin, fiel aber wegen ihrer politischen und ästhetischen Renitenz bei den DDR-Kulturpolitikern rasch in Ungnade. So kam es, dass die Dichterin 1966, zehn Jahre vor der Biermann-Ausbürgerung, als erste Schriftstellerin der DDR ihr Land verlassen musste – und ihre märkische Heimat ein Vierteljahrhundert lang nicht mehr betreten durfte. Seither fand diese Dichterin keinen Ruhepunkt mehr, zog sich in die polnischen Wälder zurück, bis sie vor ein paar Jahren schwerkrank nach Deutschland zurückkehrte, an den östlichen Stadtrand Berlins, wo sie im Dezember 2013 starb. Gert Loschütz hat ihr in „Sinn und Form“ einen einfühlsamen Nachruf gewidmet und an das prägnante Credo der Dichterin erinnert: „Ich wurde ungebunden“, schrieb sie nach ihrer Trennung von der Partei, „ unbeherrscht, unwillig, unhöflich....unzugehörig, unverantwortlich, ungenießbar ...“ Im Blick auf ihre Denunziation Klaus Schlesingers bleibt hinzuzufügen: Leider blieb sie auch in jeder Hinsicht „unversöhnlich“.
Unversöhnlichkeit ist in Fragen der literarischen Form jedoch eine Tugend. Wie weit eine produktive ästhetische Renitenz gehen kann, dokumentiert mal wieder die aktuelle Nummer 9 der Zeitschrift „Idiome“. Die von Florian Neuner herausgegebenen „Hefte für neue Prosa“ versammeln drei besonders markante Exempel experimenteller Prosakunstwerke, die zunächst einmal die konventionelle Romanform aus den Angeln heben müssen, um die Sprache in Freiheit zu setzen. Im Gespräch mit dem österreichischen Künstler und Schriftsteller Walter Pilar, der sein Prosa-Projekt „Lebenssee“ buchstäblich als „Wandel-Altar“ angelegt hat, formuliert Florian Neuner so etwas wie das Evangelium experimenteller Prosakunst. „Das Herstellen einer (epischen) Totalität geht heute wahrscheinlich nur über extreme Heterogenität.“ Das Extremfall literarischer Heterogenität analysiert dann der angriffslustige Essayist Sebastian Kiefer im Blick auf das monumentale Prosawerk von Ulrich Schlotmann, „Die Freuden der Jagd“. Schlotmanns Elfhundert Seiten-Werk gilt als Musterbeispiel eines Erzählens, in dem es kein ordnendes Zentrum mehr gibt, kein Oben und Unten, sondern nur eine kunstvolle Komposition von Redefloskeln, Zitaten, Erinnerungen und Echos. Der dritte im Bunde dieser ästhetisch dissidenten Prosakunst ist der aus Völklingen stammende und in Berlin lebende Dichter Konstantin Ames, der hier unter dem Titel „Tage, da letztmalig geweint wurde“ einen staunenswerten Ausschnitt aus einem neuen Romanprojekt vorlegt.
„Also was ist der Expressionismus?“, fragte vor sechzig Jahren der bereits zitierte Gottfried Benn, „Ein Konglomerat, eine Seeschlange, das Ungeheuer von Loch Ness, eine Art Ku-Klux-Klan?“ Eine gültige Antwort auf diese Frage schien 1919 Kurt Pinthus´ berühmte Anthologie „Menschheitsdämmerung“ zu geben, die bis heute als kanonische Anthologie des Expressionismus gilt. In der aktuellen Ausgabe des „Hugo Ball-Almanachs“ ist nun nachzulesen, welche verheerenden Fehldeutungen sich mit der „Menschheitsdämmerung“ verbunden haben. In einer rezeptionsgeschichtlichen Untersuchung zur „Wirkmacht“ der „Menschheitsdämmerung“ analysiert die Literaturwissenschaftlerin Sandra Beck die ästhetischen Verzerrungen, die von dieser Anthologie stimuliert wurden. Kurt Pinthus´ Auswahl konzentrierte sich auf den pathetischen messianischen Expressionismus – und unterschlug die sprachrevolutionären und gesellschaftskritischen Schreibansätze. Die unmittelbaren Folgen dieser Ausblendung benennt der Redakteur des Hugo Ball-Almanachs, der Literaturwissenschaftler Eckhard Faul, in seiner Einleitung. Hugo Ball und Emmy Hennings, die Gründerfiguren des Dadaismus, sind in der „Menschheitsdämmerung“ ebenso wenig vertreten wie ihre kulturrevolutionären Kollegen Ferdinand Hardekopf, Richard Huelsenbeck oder Franz Richard Behrens. Und das hat nicht nur die öffentliche Anerkennung von Hugo Ball und Emmy Hennings verzögert, sondern auch die Wahrnehmung ihrer expressionistischen Texte blockiert. Der neue Hugo Ball-Almanach setzt gegen solche Verkennung seine aufregenden literaturarchäologischen Ausgrabungen. Im Zentrum steht der erstmals veröffentlichte Briefwechsel zwischen dem ungarischen Bohemien Emil Szittya mit dem Dichterpaar Hugo Ball und Emmy Hennings. Der durch Europa vagabundierende Szittya teilte mit Hugo Ball in den Jahren 1915/1916 eine anarchistische Grundhaltung und versuchte später, nach dem Tod Balls, Emmy Hennings bei der Publikation von Gedichtbänden zu unterstützen. Ein weiterer freischwebender Intellektueller aus den aktivistischen Jahren Hugo Balls war der umtriebige österreichische Anarchist Pierre Ramus, der im Hugo Ball-Almanach von Walter Fähnders porträtiert wird. Pierre Ramus schrieb 1928 einen Nachruf auf Ball, der als repräsentativ für die linke Hugo Ball-Rezeption gelten kann. Denn auch von Ramus wird zutiefst bedauert, dass sich der unberechenbare Ex-Dadaist nach seinen gesellschaftskritischen Jahren als Redakteur der „Freien Zeitung“ in die Mystik zurückzog. Mit seiner einzigartigen Verbindung anarchistischer und christlicher, dadaistischer und mystischer Impulse hat sich Hugo Balls Werk bis heute allen Vereinnahmungsversuchen entzogen.
BELLA triste 39 (2014).
Neustädter Markt 3-4, 31134 Hildesheim. 96 Seiten, 5,35 Euro.
Sinn und Form, H. 2/2014.
Redaktion, Postfach 21 02 50, 10502 Berlin. 130 Seiten, 9 Euro.
Idiome No 7 (2014)
c/o Florian Neuner, Lübecker Str. 3, 10559 Berlin. 9,90 Euro.
Hugo Ball-Almanach 2014 (Neue Folge 5)
Edition Text+Kritik, München 2014. 252 Seiten, 18,50 Euro.
Michael Braun 18.06.2014
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Michael Braun
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