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Jürgen Nendza im Gespräch mit Michael Braun

Ein geheimer Sender, der weiterschabt in unserem Ohr

Ein Gespräch mit dem Lyriker Jürgen Nendza. Über Günter Eich,
die Vokabel „und“ und über Gedichte zwischen „Haut und Serpentine“


  Gespräch



Foto: privat
 
Jürgen Nendza wurde 1957 in Essen geboren. Er studierte Germanistik und Philosophie in Aachen, wo er 1992 zum Dr. phil. promoviert wurde und heute lebt. Neben Lyrik und Prosa verfasst er Features, Hörspiele und Radioerzählungen für Kinder und ist als Herausgeber tätig. Zuletzt veröffentlichte er den Gedichtband Apfel und Amsel (poetenladen Verlag 2012 sowie 2014 als Taschenbuch) und den SammelbandMikadogeäst (poetenladen Verlag 2016). Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet.


 

Michael Braun: „Wo die Beleuchtung beginnt, / bleibe ich unsichtbar. / Aus Briefen kannst Du mich nicht lesen, / und in Gedichten verstecke ich mich.“ Der sich da in Gedichten versteckt, ist der Lyriker Günter Eich, der 1907 geboren wurde und 1972 gestorben ist. Mit seinen Hörspielen und seinem Gedicht „Inventur“ ist er in die deutschen Lesebücher eingegangen. Über Günter Eich spreche ich mit dem Lyriker Jürgen Nendza, dessen Poesie aufschlussreiche Bezüge zum Werk von Günter Eich aufweist. In medias res gehen wir mit dem Gedicht „Abschließend“ von Günter Eich. Dessen erste drei Zeilen – „Und lass den Schnee durch die Türritzen kommen. / Der Wind weht, / das ist sein Geschäft.“ – eröffnen als Motto Ihren 2004 erschienenen Gedichtband „Haut und Serpentine“. Wie kam es dazu?

 

Jürgen Nendza: Die Jahre 1995/96/97 waren eine entscheidende Phase für mein poetisches Schaffen, in dieser Zeit setzte ich mich noch einmal intensiv mit den Gedichten von Günter Eich auseinander. Günter Eich hat mich in meiner Schulzeit eigentlich zur Lyrik gebracht und dazu motiviert, mich mit der Sprache der Poesie, mit seiner Sprache der Poesie intensiver zu beschäftigen. Ich kaufte mir damals, das war Mitte der 70er Jahre, den von Ilse Aichinger herausgegebenen Auswahlband „Gedichte“, der eine Zusammenschau sämtlicher Werkphasen von Günter Eichs Dichtung umfasste und 1973, kurz nach seinem Tod, erschien. Obwohl ich als Schüler nicht so viel verstanden hatte, haben mich seine Gedichte trotzdem nicht mehr losgelassen. Und in diesem Zeitraum 95/96/97, eigentlich aber bis zum Erscheinen meines Bandes „Haut und Serpentine“, der 2004 erschien, war Eich plötzlich für mich wieder von Bedeutung, natürlich zusammen mit anderen Autoren wie zum Beispiel Tomas Tranströmer, Pierre Garnier, Jan Skácel, William Carpenter und Jürgen Becker.
  Dieses Eingangszitat entstammt seinem Gedicht „Abschließend“, das mich damals sehr beeindruckt hatte. Das Thema „Vergänglichkeit“ wird hier poetisch eingebunden in einen größeren Kontext und ist grundiert mit einem melancholischen Unterton, beides war wichtig für Günter Eichs Schreiben, für sein existenzielles Schreiben und vielleicht später auch für sein So-nicht-mehr-Schreiben-Können.

 

M. Braun: Dieses Gedicht „Abschließend“ unterscheidet sich ja wesentlich von den anderen Gedichten des Bandes „Anlässe und Steingärten“ von 1966, in dem es zu finden ist. Es ist eigentlich fast gesprächig für die Verhältnisse des späten Günter Eich. Wie kommen Sie auf genau dieses Gedicht? Vergänglichkeit als Thema findet man ja in vielen Eich-Gedichten dieser Jahre ...

 

J. Nendza: … weil beides in diesem Gedicht zu finden ist: Das Lakonische, Reihende, auch Assoziative, das den späten Eich in seinen Gedichten doch sehr stark auszeichnet und womit er gegen Sinnhierarchisierungen arbeitet. Andererseits ist die Gedicht gesprächig. Es hat einen bestimmten Rhythmus, es liest sich ein Stück weit wie eine Selbstansprache, oder – ich bin mir nicht ganz sicher – wie eine melancholische, etwas verbitterte Fürbitte. Es geht hier um das Vergessen, um das Erinnern, um Gedächtnis. Im Zentrum des Gedichts ist von der Milz die Rede. Milz ist ja, sprachlich gesehen, Sitz der Melancholie. Ein wichtiges Thema für Eich. Und Milz verkörpert auch das körperliche Erinnern, im Gegensatz zu Wissens- Präsentationen, die vorher im Gedicht lexikalisch aufgeführt werden. Da ist die Rede von Brehms Tierleben, vom Meyerschen Konversations-Lexikon. Das sind Wissensbestände, die klassifizieren, die systematische Ordnungen suchen. Aber Klassifikationen, systematische Ordnungen wurden dem späten Günter Eich obsolet. Er sagte: Nein, passt mal auf, es gibt eigentlich keine verlässlichen Ordnungen oder Sinnorientierungen und -festlegungen. Unter anderem aus dem Grunde, denke ich, weil er feststellte, dass in der Sprache, im sprachlichen Zeichen selber eine existenzielle Befremdung angelegt ist. Nämlich genau in der Kluft zwischen Signifikat und Signifikant. Und diese Mischung macht für mich den besonderen Reiz dieses Gedichts aus.

 

M. Braun: Sie vergleichen sehr treffend dieses Eich-Gedicht mit einer Fürbitte, mich erinnert es an eine Litanei, weil es tatsächlich mit Wiederholungen, mit der Wiederaufnahme eines zentralen Motivs arbeitet. Vielleicht lesen Sie das Gedicht ...


          



 

J. Nendza: Noch ein Wort zur Fürbitte. Fürbitte an einen doch verschwindenden, gar nicht mehr gegenwärtigen Gott, den Günter Eich vielleicht noch sehr stark suchte, aber nicht mehr finden konnte.

Abschließend

Und laß den Schnee
durch die Türritzen kommen,
der Wind weht, das ist sein Geschäft.

Und laß Lena vergessen sein,
ein Mädchen, das
Spiritus aus der Lampe trank.

Ging ein in die Ab-
bildungen aus Meyers Lexikon,
Brehms Tierleben.

Eingeweide, Gebirgsformen, gemeines Uferaas,
und laß den Schnee
durch die Türritzen kommen

bis ans Bett, bis an die Milz,
wo das Gedächtnis sitzt,
wo Lena sitzt,

der Leopard, die süchtige Möwe,
Rechenkniffe in gelben
Lieferungen und abonniert.

Und laß den Wind wehen,
weil er sonst nichts kann,
und gönne Lena

noch einen Schluck aus der Lampe
und laß den Schnee
durch die Türritzen kommen.

 

M. Braun: Ja, das Gedicht „Abschließend“ ist auch an eine Lena adressiert, könnte man fast sagen. Lena wird aufgerufen als Sehnsuchtsfigur. Dem erzählerischen Gestus, der das Gedicht trägt, verweigerte sich Eich eigentlich seit 1964, seit seinem Band „Zu den Akten“. Aber Sie haben dieses erzählerische Gedicht gewählt, das an eine Person gerichtet ist …

 

J. Nendza: Ja, weil es meinem eigenen Schreiben doch näher kommt als die sehr späten Gedichte von Günter Eich, eben vom Gestus her. Ich denke, bei Lena handelt es sich um ein junges Mädchen, das Selbstmord begangen hat. Von daher ist das Motiv des persönlichen Erinnerns, des Nicht-Vergessens, genau diesem Mädchen gegenüber im Kontext der großen, allgemeinen Wissensbestände, die in ihrer Allgemeinheit ja das Persönliche, das Einzelschicksal ausblenden, von Bedeutung. Das zeigt dieses Gedicht sehr schön auf. Das Erzählerische, auch das Litaneihafte, wie Sie sagen, wird natürlich auch vermittelt durch dieses „und“. Wir haben insgesamt 24 Verse, sechs Strophen, und sechsmal haben wir einen „und“-Auftakt, eine wirkungsstarke Anapher.

 

M. Braun: Jetzt haben Sie eine wichtige Eich-Vokabel erwähnt, die Konjunktion, die Kopula „und“. Es mag seltsam erscheinen, dass man sich über diese Konjunktion „und“ unterhalten möchte. Es hat natürlich einen poetischen Grund, warum das „und“ eine so große Rolle spielt. Es gibt ja zwei Gedichte von Eich, die den Titel „Und“ tragen. Mit beiden beschäftigen wir uns. Und im ersten dieser Gedichte gibt es zwei programmatische Eingangszeilen: „Und / macht die Welt begreiflich“. Ich bin nicht sicher, ob das als Deskription zu lesen ist, oder als etwas, das dementiert wird. Was meinen Sie?

 

J. Nendza: Das „und“ macht die Welt begreiflich, doch nicht im Sinne des intellektuellen Begreifens, aber vielleicht des haptischen Begreifens. Das wäre eine Möglichkeit. Es ist sehr bemerkenswert, dass der späte Günter Eich sich in mehreren Gedichten mit dieser Konjunktion „und“ auseinandersetzt. Zwei seiner Gedichte heißen schlicht und einfach „und“, auch in einer seiner Prosaminiaturen, den Maulwürfen, geht es um die gleichgültig addierende Allgegenwärtigkeit dieser Konjunktion, „und, überall und“ lesen wir da. Je länger ich darüber nachdenke, desto deutlicher wird mir die doppelte Funktion dieser Konjunktion. Denn einerseits stellt sie bei Günter Eich ein Leerzeichen dar, das zwar Verbindungen und Relationen schafft, aber aus einer sinnenthobenen und –entleerten Welt, damit eine große Gleich-Gültigkeit auch von Beziehungen ermöglicht und einen antiteleologischen Aspekt besitzt. Zum anderen ist dieses „und“ auch ein Freizeichen, das poetische Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet. die tatsächlich auch Disparates zueinander führen können, ohne dass das als eine Art der Kohärenz begriffen wird, so, wie wir normalerweise verstandesmäßig-rational Dinge oder Wahrnehmungen zusammenführen. Das „und“ ermöglicht plötzlich Spielräume und Freiräume, wird vielleicht zu einer archimedischen Vokabel bei Eich. Das ist erstaunlich. Ich kenne keinen anderen Autor, der sich in seinen Gedichten so intensiv mit dieser Konjunktion beschäftigt.

 

M. Braun: Vielleicht lesen Sie uns diese beiden „und“-Gedichte vor, wobei das zweite „und“-Gedicht ganz am Ende seines Werkes steht.

 

J. Nendza:

Günter Eich
UND

Und
macht die Welt begreiflich:
Der Schlieffenplan und
eine Klingelanlage für Scheintote.


UND

Nebel Nebel Nebel
und in den Ohren
Haare, eine
unverbindliche
Freundlichkeit
und
und
Rajissas süßes Gelächter.

Was zusammengehört,
eine Erfahrung,
was mit und zusammengehört
nur mit und,
keine Begründungen.

Das wird anhalten
wenn mir das und nicht
mit den andern Wörtern entfällt.
Es reicht, es reicht, danke, es reicht.

 

M. Braun: Bei dem sehr späten „Und“-Gedicht aus dem Jahr 1971 oder 1972 scheint mir beim wiederholten Lesen eine Zurückweisung der „und“-Funktion vorzuliegen. Vielleicht steht mir dabei ein Text von Günter Eichs Ehefrau Ilse Aichinger vor Augen, der Text „Schlechte Wörter“, in dem es heißt, es gehe darum, der „Bildung von Zusammenhängen“ aus dem Weg zu gehen. Der Zusammenherstellungs-Zwang wird doch auch von Günter Eich verweigert, er zieht sich doch auf eine Negation zurück: Leute, „es reicht“.

 

J. Nendza: Ja, das Gedicht endet mit einer abwinkenden Geste. Aber wir wissen, Günter Eich hat weitergeschrieben. Der ursprüngliche Wahrheitssucher Günter Eich, den finden wir hier poetisch nicht mehr wieder. Die Wahrheit ist suspekt geworden, sie ist nicht sprachlich, poetisch erreichbar. Doch der Dichter Günter Eich schreibt ja weiter. Dieses „und“ ist sehr ambivalent, das sehe ich auch. Eich bleibt sich durchaus treu, er ist konsequent auch in dieser Ambivalenz. Und das ist faszinierend. Es wird zum Schluss bei Günter Eich immer wichtiger, gegen die Sprachlenkung zu schreiben, gegen die Herrschaft, die Macht des vorschnell identifizierenden Denkens. Dadurch werden auf poetische Art und Weise Dementi erreicht. Es wird aber auch neu konstelliert, das heißt: Wir haben die Möglichkeit, Ordnungen neu zu überdenken, vielleicht auch sinnentleerte, entfernte Räume neu zu sehen, wahrzunehmen. Oder, wie er auch vorschlägt: zu meditieren, indem wir die Verstandesleistung der Interpretation, des Verstehens erst einmal suspendieren und einen Schritt zurückgehen, um die Sprache wirken lassen jenseits der für uns geltenden Sinnkontexte und Sinnvorstellungen.

 

M. Braun: Das Wort „Sprachlenkung“ stammt aus Eichs Büchnerpreisrede von 1959, wo er eine zentrale These seiner Poetik variiert: Poesie spricht nicht die Sprache der Macht. das ist ihr verborgener Sprengstoff. 1959, da gibt es noch einen Eich, der glaubt, Poesie könne sich der Sprachlenkung entziehen. In den „Maulwürfen“ sind doch die Zweifel daran, dass der Akt der Poesie als Akt der Verweigerung innerhalb der Poesie möglich ist, sehr groß geworden. Der späte Günter Eich geht nah ans Verstummen.

 

J. Nendza: Das würde ich auch so sehen. Nah am Verstummen, gerade in den Gedichten, die ja immer lakonischer, immer knapper werden, die sich immer stärker auch kaleidoskopartig organisieren. Man hat das Gefühl: Er spielt sehr viel stärker mit der Sprache, mit sich selbst auch als dichterisches Ich. Dennoch denke ich, das Verstummen setzt als poetologischer Schachzug ein, tatsächlich handelt es sich ja nicht um ein grundsätzliches Verstummen des Dichters. Es geht ja immer wieder darum, neu auszureizen: Wohin bringt mich die Sprache, die ja eigentlich positiv gar nichts identifizieren kann. Ich kann auch durch die sprachlichen Kombinationen nur das aufzeigen, was ich eigentlich nicht bin. Man muss sozusagen ein umgekehrtes Denken annehmen und aus diesen Negationen heraus folgern und fragen: Was macht Eich hier? Und wo entdeckt er sich? Er kann sich eigentlich sprachlich gar nicht entdecken. Denn alle Wege, die er einschlägt, führen notwendig – ich will nicht sagen in die Irre, aber jedenfalls nicht zu dem, was er ursprünglich als Wahrheit ansah. Wir haben keine positive Beziehung zwischen sprachlichem Zeichen und Bezeichnetem, zwischen Wort und Ding. Die Konsequenz, die Günter Eich daraus zieht, hat oft absurden Charakter – und hohe poetische Wertigkeit.

 

M. Braun: Günter Eich und Ilse Aichinger sind in einer bestimmten Phase ihres Werks einer „Poetik des Schweigens“ gefolgt. Bei beiden finden sich immer wieder Sätze zum Schweigen und zum Verschwiegen-Sein. Zum Beispiel wenn Eich notiert: „Die Sprache, die ich sprechen möchte, müsste verbergen.“ Wenn Sie auf ihr eigenes Werk schauen, würden Sie sich einer solchen These nahe fühlen oder gar anschließen?

 

J. Nendza: Ich denke, dass die poetische Sprache beides leisten sollte. Aber vielleicht nicht im Sinne eines Versteckspiels wie bei Günter Eich, sondern mehr im Sinne des Aufscheinen-Lassens noch nicht mit Sinn besetzter Orte. Dass begriffliche Ordnungen lyrisch aufgebrochen werden, um eine Welt des Unbegriffenen aufscheinen zu lassen. Das geht nur mit der Sprache, die wir kennen. Wir sind ja nicht in der Lage, eine Privatsprache zu entwickeln und uns darauf zu beziehen. Wir müssen uns also mit dem Allgemeinen der Sprache befassen, um durch Kombination allgemeiner Sprachzeichen das Besondere, Übersehene aufzuzeigen, um dadurch vielleicht einen grenzüberschreitenden, poetischen Augenblick zu ermöglichen. Von daher ist dieser Doppelgedanke jedem poetischen Akt eingeschrieben. Es ist ein Wechselspiel zwischen Aufzeigen, Sichtbarwerden und doch wieder Verdecktsein, auch weil die Sprache mehr weiß als man selber.

 

M. Braun: Wir sprechen über diese beiden „Und“-Gedichte auch deshalb, weil Sie selbst ein Gedicht geschrieben haben, das sich mit dem „und“-Motiv bei Eich auseinandersetzt. Lesen Sie uns diese poetische Antwort doch vor ...

 

J. Nendza:

NA, UND? Mag sein, du hältst die Welt
zusammen, uns. Und wären weiter nichts

als die Kulissen unsrer Taschenuhr,
silbenuhrig, zeitgemäß gefügt auf die Minute,

uns alles was der Fall ist: zweibeinig, Tretmine
und Versfuß. Eine feine Regung. Die gute Stunde

verkümmert im Archiv
der Wünsche, die Genitiv-Metapher war

verdächtig. Es regnet. Risse
zieht die Witterung durch Stirn

und jegliche Verbindung, Kalk rinnt uns aus
Knochen und Beton, unter Brücken

kauert ausgehärtet Schlaf. Es reicht.
ich weiß, es regnet immerzu,

und was sich hier zusammenfügt
gibt keine Antwort, redet weiter.

 

M. Braun: „Und was sich hier zusammenfügt, gibt keine Antwort.“: Das klingt absolut nach einem Günter Eich-Gedicht ...

 

J. Nendza: Na, ich hoffe, es bleibt ein Jürgen Nendza-Gedicht. Durchaus auch mit Reminiszenzen an Günter Eich, auf jeden Fall. Für Günter Eich ging es ja nicht darum, Antworten zu geben, sondern Fragen zu stellen. Das ist ja ein entscheidender Aspekt. Seine Formen des poetischen Sprechens haben sich ja im Laufe der Zeit immer wieder neu aufgestellt, radikalisiert zum Schluss. Er war eigentlich in ständiger Bewegung, auch was die Identität seines dichterischen Ichs angeht. Er hat weitergesprochen. Das ist ja ein wesentliches Moment auch von Lebendigkeit, trotz Schwermut, die er durchlebte, trotz des Verlustes eines sinnhaften Seinshintergrunds. Das poetische Sprechen ist ein Kapitel des Lebendigen.

 

M. Braun: Die Kopula „und“ findet sich bei gleich drei Gedichtbänden von Günter Eich und Jürgen Nendza im Titel: „Anlässe und Steingärten“ – Eich 1966, „Haut und Serpentine“, Nendza 2004 und „Apfel und Amsel“, Nendza 2012. Auch Sie scheinen eine große Vorliebe für das „und“ zu besitzen?

 

J. Nendza: Das „und“ hat schon seine Bedeutung. Aber nicht in dem Sinne des völlig Gleichgültigen, sondern mehr als Möglichkeit, Räume zu eröffnen, zu kombinieren, neue Verbindungen und Gleichzeitigkeiten zu suchen, Disparates aufeinander zu beziehen und so zum Sprechen zu bringen, also eher die Freizeichen-Perspektive. Dazu gehört auch, Erzählerisches aufscheinen zu lassen, einzubeziehen. In meinem Zyklus „Hinterland“ zum Beispiel beginnt jedes Gedicht mit „und“. Für mich ist das ein Auftakt von Plötzlichkeit, starker Unmittelbarkeit, als würde eine unterbrochene, vergessene Rede fortgesetzt, so, als hätte untergründig diese Unterbrechung gar nicht stattgefunden. Ich bin als Leser unmittelbar einbezogen in Text und Bild, hier in eine Gegenwart des Gehens, das u.a. Wahrnehmung und Geschichte durchschreitet, miteinander synchronisiert, verbindet und dadurch Landschaftsgefüge umschichtet, körperlicher macht.

 

M. Braun: Eine programmatische Formel in Ihrem Gedicht lautet: „Tretmine und Versfuß“. Die „Tretmine“, da könnte man an den anarchistisch motivierten Dichter Günter Eich anschließen, der sich ja sehr für Michail Bakunin interessiert hat. Und was den „Versfuß“ betrifft. Da gibt es in den „Maulwürfen“ sehr lustige Beschreibungen. Etwa diese: „Eine Mischung aus Whisky und Schmerztabletten hat mir geholfen, als ich Schmerzen an den Versfüßen hatte.“ Wenn also „Tretmine und Versfuß“ zusammenkommen, dann vermute ich: Hier kommt die Anarchie zu dem, was die lebenslange Aufgabe des Dichters ist - nämlich Versfüße zu entwerfen.
  Kommen wir zu weiteren Nendza-Gedichten. Zum Beispiel zum Schluss-Gedicht in „Mikadogeäst“.

 

J. Nendza:

WIR TREFFEN UNS im Apfel, erzählen uns
in seinem Haus, wo kleine Amseln reifen

und erwarten einen Baum, der sich mit der Erde
dreht, die wir aufsagen und trinken,

weil wir durstig sind: Ein ganzes Meer,
das in uns schweigt, wie das Fruchtfleisch

schweigt im Apfel, wie das Schweigen in der Stille
schweigt und anfragt und mit dem Jawort

in sich trägt sein Weiß wie eine Braut. Wir sind es,
die einkaufen im Zentrum. Nach dem Frühstück

ist das Fenster ein Regal. Wir stehen auf. Wir
räumen ein. Wir sind es. Sind es nicht.

 

M. Braun: „Wir treffen uns im Apfel“, ist ein Gedicht aus einer ganzen Reihe von Texten, die das Apfel-Motiv zusammen mit dem Amsel-Motiv exponieren. Das hat sie über viele Jahre beschäftigt. Welche Bedeutung haben diese beiden Motive für Sie?

 

J. Nendza: Das Apfel-Motiv ist ein sehr vielfältiges Motiv, ein paradiesisches Motiv zum Beispiel, obwohl in der Bibel nur von der verbotenen Frucht die Rede ist. Es ist das Motiv der Erkenntnis, der vermeintlichen Rationalität, von Gut und Böse. Es ist ein sinnliches Prinzip, wenn auch geerdet. Wir kennen den Liebesapfel, den Zankapfel. Apfel steht für Sinnlichkeit und Erkenntnis. Das Amsel-Motiv spielt auf das Flüchtige an, das Ätherische und Luftige, auch ein Stück weit auf das Verschwindende. Es hat etwas Leichtes, auch Transzendentes, und das Zusammenspiel dieser beiden Motive, ihre Variationen und Neuschattierungen waren für mich sehr anregend; Apfel und Amsel öffneten sich und wurden auf neue Art geheimnisvoll.

 

M. Braun: Hier wird auch die schöne Differenz zwischen dem Schweigen und der Stille hergestellt. Was die Gedichte auch auszeichnet, dass sie die Stille hörbar machen und eine Gegenbewegung stattfindet, wenn es heißt: Und „wir sind es. Sind es nicht.“ Denn ein Geschlossensein, ein formales Verriegelungsprinzip, ein resümierender, abschließender Gestus sind für Gedichte untauglich. Auf eine Bewegung muss immer eine Gegenbewegung folgen, die nichts Abschließendes hat ...

 

J. Nendza: Das ist eine Anspielung auf Heraklit. Es geht um die Zeit, den Fluss der Zeit und um die Veränderungen von uns.

 

M. Braun: Nähern wir uns noch einem vielinterpretierten Gedicht von Ihnen, „Welthölzer“, ein Text, der die Welt in einer Streichholzschachtel fassen kann.

 

J. Nendza: Jeder Autor hat seine Lieblingsgedichte. „Welthölzer“ ist ein sehr kurzes Gedicht. Es gehört wirklich zu den Gedichten, die ich sehr mag. Doch dann war es anfangs irgendwie verschwunden, bei Lesungen bevorzugte ich andere Gedichte. Durch seine Wahrnehmung in Rezensionen wurde es für mich quasi wiederentdeckt. Es sprach mich plötzlich von neuem an, auch aus anderer Perspektive, und ich habe gefreut über diesen Entdeckungszusammenhang an einem eigenen Gedicht.

WELTHÖLZER

Es wird nicht schwarz vor Augen. Die Akustik
aus dem Nachbarhaus, ein Würfelspiel, ein Spieler
ohne Worte. Wie der Käfer in der Weltholz-

Schachtel. Ein Foto davon gibt es nicht. Nur
den geheimen Sender, der weiterschabt in deinem Ohr.

 

M. Braun: So ist das mit Gedichten. Sie begleiten uns ein Leben lang als geheimer Sender, der weiterschabt in unserem Ohr.

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Quellen:
Günter Eich: Sämtliche Gedichte. Hrsg. von Jörg Drews. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006.
Günter Eich: Gesammelte Werke. Bd. IV. Vermischte Schriften. Hrsg. v. Heinz G. Schafroth. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1973.
Günter Eich: Gesammelte Maulwürfe. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016
Jürgen Nendza: Mikadogeäst. Gedichte. Verlag Poetenladen, Leipzig 2015

 

 
Michael Braun
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