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Juni 2012
Vor fast genau einhundert Jahren hat der größte amerikanische Poet des 20. Jahrhunderts, der damals siebenundzwanzigjährige Ezra Pound, einer erstaunten Öffentlichkeit sein Glaubensbekenntnis verkündet. Es war eine Absage an die herkömmlichen Rollen, die man den Dichtern der Moderne zuschreibt. „Ihr sprecht von Genie und Wahnsinn“, so spottet Pound in Richtung der „geknebelten Rezensenten“, „Ich aber werde nicht wahnsinnig werden, euch zu Gefallen, / werde euch nicht entgegenkommen mit einem frühen Tod, / Oh nein, ich werd ausharren, / spüren, wie euer Haß sich zu meinen Füßen krümmt …“
Mit dieser trotzigen Selbstbehauptung hat Pound fast prophetisch sein eigenes Dichterschicksal vorweggenommen. Er durchlief bis zu seinem Tod im Alter von 87 Jahren alle Stadien der Exzentrik und der Dissidenz, die ein Dichter in diesem Jahrhundert absolvieren konnte. Er exponierte sich als Revolutionär der Poesie, dann wandte er sich ab von der Idee der radikalen Freiheit und liebäugelte mit dem Faschismus Benito Mussolinis, bis man ihn jahrelang in eine Anstalt für kriminelle Geisteskranke einsperrte. Das Thema indes, das er in dem zitierten Gedicht „Gruss III“ abwehren wollte, holte ihn immer wieder ein: das Thema „Genie und Wahnsinn“. Dass dieser Zusammenhang in der Dichtung der Gegenwart nach wie vor große Virulenz besitzt, zeigt ein aufregendes Dossier in der neuesten Ausgabe, der Nummer 14 des Literaturmagazins „ Krachkultur“. Hier werden einige Beiträge zum Wesenszusammenhang von „Dichtung und Neurose“ und „Genie und Wahnsinn“ präsentiert.
Der amerikanische Essayist Joshua Mehigan resümiert hier in provokativer Beiläufigkeit seine Beobachtungen zu den Begleitumständen des sogenannten „visionären“ Dichtertums. Seit den Tagen Homers, so frotzelt Mehigan, erwartet man von Dichtern „einen gewissen Grad an Gestörtheit – als tatsächliches Leiden, Persona oder Pose“. Als ein Beispiel führt er den Dichter Gérard de Nerval an, der einen Hummer an einem Bändchen in den Pariser Parks spazierenführte. In einer fulminanten Privatstatistik verweist Mehigan zudem auf die Formen der Devianz, die ihm in seinen literarischen Freundeskreis begegneten. Von fünfundzwanzig Dichtern haben zwei Selbstmord begangen, zwei weitere haben es versucht, zwölf mussten sich einer Behandlung mit Medikamenten oder Elektroschocks unterziehen, einige verfielen dem Alkohol, der Rest war drogensüchtig. Joshua Mehigan ist glücklicherweise nicht so naiv, solche Phänomene der Abweichung als literarisches Adelsprädikat zu betrachten, sondern als Begleiterscheinungen eines hemmungslosen Narziss-#mus. Für viele Dichter, die in der Galerie „Genie und Wahnsinn“ keinen Platz finden, genügt es eben, ein selbstverliebter Großkotz zu sein.
Um diese etwas grobschlächtige Dichter-Psychologie zu belegen, druckt die „Krachkultur“ zwei Beiträge des Wiener Nervenarztes Wilhelm Stekel, der ursprünglich ein glühender Adept und „Apostel Sigmund Freuds“ war, bis er sich mit dem Meister überwarf und zum abtrünnigen Seelendiagnostiker wurde. Stekel bescheinigte in finsterem Pessimismus all seinen Mitmenschen, „psychische Wracks“ zu sein. Im Gegensatz zu Freud zieht Stekel eine direkte Verbindungslinie zwischen der Dichtkunst und der Neurose: „Jeder Dichter ist ein Neurotiker.“ Freilich sieht er in der neurotischen Struktur des Poeten keinen Mangel, sondern einen unerlässlichen Impuls seiner Produktivität.
Mit solchen vulgärpsychologischen Thesen zur Affinität von Genie und Wahnsinn bleibt die „Krachkultur“ ihrem ursprünglichen Programm treu, die Literatur aus der Perspektive einer radikalen Dissidenz zu betrachten. Den ketzerischen Treibstoff hierzu liefert auch ein erstmals 1967 publizierter Essay des norwegischen Autors Jens Bjørneboe, der sich dem etwas expansiv angelegten Thema „Pornographie in Norwegen von der Wikingerzeit bis heute“ widmet. Es stellt sich rasch heraus, dass Bjørneboe in seinem höchst sarkastischen Essay in Adolf Hitler den „bedeutendsten großgermanischen Wikinger“ sieht, dessen Programm des Körperpanzers darauf abzielte, alle unkontrollierten Triebregungen im Menschen auszulöschen. Gegen diesen Faschismus der Körperfeindschaft setzt Bjørneboe seine Ethik des Hedonismus: „Wir brauchen einen üppigen gutgeschriebenen Garten von unsittlicher Literatur, gutgeschrieben und liederlich…wir brauchen eine Literatur, die dazu beitragen kann, das Schuldgefühl (und das Schamgefühl) abzuschaffen…“
Bjørneboe konnte seine hedonistische Ethik in seiner eigenen Lebenswelt im Übrigen nicht umsetzen. Seinen Beruf als Lehrer an einer Rudolf-Steiner-Schule in Oslo musste er frühzeitig aufgeben, seine Depressionen und Alkoholismus vermochte er nur vorübergehend mit seinem Schreiben aufzulösen. 1976 wählte er den Freitod.
Während der eingangs zitierte Ezra Pound in England und Amerika die Ordnung der Dinge und die fundamentalen Codes der herrschenden Kultur aus den Angeln heben wollte, versuchte das zur gleichen Zeit im Exilland Schweiz der Dadaist und ketzerische Mystiker Hugo Ball. Bis heute verwirrt Hugo Ball seine Anhänger mit der Gleichzeitigkeit von ästhetischem Extremismus und religiösem Konservatismus. Im aktuellen, überaus lesenswerten „Hugo-Ball-Almanach“ für das Jahr 2012 verweist der italienische Literaturwissenschaftler Mauro Ponzi auf das Doppel-Motiv von „Anarchie und Askese“ bei Hugo Ball. Selbst bei seinen berühmten dadaistischen Performances in der Zürcher Künstlerkneipe „Cabaret Voltaire“ habe Ball immer „den Rhythmus des Psalmodierens der missa solemnis der katholischen Kirche“ mit einbezogen. Bei aller literarischen Radikalität der Sprachzertrümmerung, so glaubt Ponzi, ging es dem Dadaisten Ball doch darum, „die geistige Einfachheit und die gewählte Armut des heiligen Franziskus“ zurückzugewinnen. Was bei den Auftritten von Ball, Hans Arp und Richard Huelsenbeck als „euphorisches Wortgelage“ erscheinen mochte, war immer auch ein religiöses Ritual. Mit den ästhetischen und sprachlichen Details dieses „euphorischen Wortgelages“ beschäftigt sich im „Hugo-Ball-Almanach“ der Literaturwissenschaftler Klaus H. Kiefer. Kiefer möchte in den „Wort-Spielen“ des Dichters Ball primär „regressive Rituale“ erkennen, an denen ihn offenbar der religiöse Background stört. Die berühmten Lautgedichte Balls finden vor den Augen des Kritikers keine Gnade. Kiefer erkennt nur „schlichteste Lautmalereien“, die zudem wenig originell seien und der Auftritt im kubistischen Pappkostüm bezeichnet er als „ekstatische Übersprungshandlung von profan zu sakral“, ohne jede metaphysische Tiefe. In seine Analyse hat Kiefer auch ein paar despektierliche Bemerkungen zu Balls Katholizismus eingeschmuggelt, will er doch nicht einsehen, dass dessen Dadaismus nicht ohne „Pfaffensegen“ auskommen will.
Den brisantesten Beitrag im „Hugo-Ball-Almanach“ hat freilich Hubert van den Berg vorgelegt, der die alte Legende vom antimilitaristischen Konsens der deutschen Avantgarde gründlich zerpflückt. Am Beispiel von Herwarth Walden, dem Herausgeber der Zeitschrift „Der Sturm“, einem Zentralorgan des deutschen Expressionismus, kann van den Berg zeigen, dass eben nicht alle Aktivitäten der Avantgarde gegen den Krieg gerichtet waren. Im Gegenteil: Die Wanderausstellungen zum deutschen Expressionismus, die Walden während des Ersten Weltkriegs in Den Haag, Kopenhagen und eben auch in Zürich organisierte, waren im Grunde Aktionen der deutschen Kulturpropaganda. Herwarth Walden trat nachweislich als Agent und Kurier in die Dienste des Auswärtigen Amts – und so liegt die Schlussfolgerung nahe, dass auch die Expressionismus- Ausstellung in der Zürcher „Galerie Dada“ im März und April 1917 unfreiwillig „eine deutsche Propagandaschau“ war.
An Unberechenbarkeit und prinzipieller Dissidenz ist Hugo Ball vermutlich nur noch von Peter Hacks zu überbieten, dem selbsternannten Goethe der DDR, der sich durch seine Koketterie mit dem real existierenden Sozialismus viele Feinde gemacht hat. Im aktuellen Mai/Juni-Heft der Kulturzeitschrift „Sinn und Form“ werden die neuesten Funde der Hacks-Exegese ausgebreitet. Gunther Nickel präsentiert Auszüge aus Hacks' Briefwechsel mit seiner Mutter, der zwar wenig spektakuläre Dinge enthält, aber Hacks auf der Höhe seines nonkonformistischen Virtuosentums zeigt. Bereits in einem seiner ersten Briefe nach seiner Übersiedlung aus Bayern in die DDR im Sommer 1955 mokiert sich Hacks über das westliche Klischee, das sich einen DDR-Autor nur so vorzustellen vermag, dass „er mit gedrückten Gesichtern auf einem Ruinenhaufen“ sitzt und „vom Staatssicherheitsdienst mit Kaviar gefüttert“ wird. Im Blick auf die erhitzten Ästhetik-Debatten spottet Hacks: „Aber so weit ich das sehe, sind Kurswechsel bloß was für die Unbegabten: die Begabten haben vorher gemacht, was sie wollten, und machen es nachher auch. Im Moment herrscht ein ganz läppischer Liberalismus. Aber natürlich rührt sich das und dies.“
Unter den literarischen Texten im neuen „Sinn und Form“-Heft fällt eine unheimliche Erzählung Michael Buselmeiers auf, die von einer Episode aus dem finsteren Herzen des Dritten Reiches handelt. Buselmeier rekonstruiert in einer subtilen Mixtur aus biografischen und fiktionalen Elementen einige Szenen aus dem Leben von Martin Bormann, des legendenumwobenen Reichsleiters der NSDAP und Privatsekretärs von Adolf Hitler. Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht zweier weiblicher Nebenfiguren, einer Köchin, die auf dem Obersalzberg für die Verköstigung von Hitlers Elite sorgte, und ihrer Tochter. Am Ende der Geschichte wird ein Mysterium noch weiter verstärkt, das zu den Lieblingsobsessionen der Hitler-Forschung gehört: Es wird suggeriert, dass Bormann nicht – wie es die offizielle Geschichtsschreibung sagt – kurz vor Kriegsende ums Leben kam, sondern unter falschem Namen in München weiterlebte und erst im Mai 1975 starb. Zu den kleinen Provokationen des Textes gehört auch sein Titel. „Der Herr des Berges“: Dieser Titel, der ursprünglich aus einem biblischen Kontext, nämlich dem Johannes-Evangelium stammt, gibt dem ganzen Geschehen eine gleichsam mythische Rätselhaftigkeit.
Eine Provokation der politischen Korrektheit lässt auch der Titel von Thomas Hettches Essay im Juni-Heft der Zeitschrift „Merkur“ erwarten. Er lautet: „Über die vergessene Kunst des Soldatischen“. Man glaubt zunächst, einen Text vor sich zu haben, der an einige intellektuelle Passionen des früheren „Merkur“-Herausgebers Karl Heinz Bohrer anknüpft, nämlich das leidenschaftliche Interesse am Werk Ernst Jüngers. Tatsächlich gehören zu den Grundfiguren des Essays einige Jünger-Zitate und ein Besuch im Ernst Jünger-Haus im schwäbischen Wilflingen. Der Schriftsteller Thomas Hettche ist aber viel zu intelligent, um hier nur andächtig Thesen Ernst Jüngers oder Carl Schmitts nachzubeten. Hettche beschreibt einen Besuch am Ehrenmal für deutsche Soldaten in Berlin, jenem zentralen Gedenkort für Soldaten, die bei Auslandseinsätzen ums Leben gekommen sind. Und er nimmt die erschreckende Anonymität dieses Ehrenmals zum Anlass, nach einem Begriff von Gewalt zu suchen, der nicht nur den Triumph der Sieger in einem Krieg wahrnimmt, sondern auch das Leid der Besiegten. Und Hettche findet diesen Gewaltbegriff bei der Betrachtung des Pergamonaltars auf der Berliner Museumsinsel – denn hier geht es um den je einzelnen Tod der dargestellten Kämpfer. Jeder Sterbliche, der im Kampf getötet wird, erhält hier die Würde eines Einzelnen zurück, der keiner Armee mehr angehört, sondern in seinem individuellen Tod allein ist und uns, die Betrachter, gerade in dieser Einsamkeit ergreift.
Krachkultur, Ausgabe 14 (2012)
Martin Brinkmann, Steinstraße 12, 81667 München. 200 Seiten, 12 Euro.
Hugo Ball Almanach, Neue Folge 3 (2012)
edition text + kritik, Levelingstr. 6a, 81673 München, 184 Seiten, 16 Euro.
Sinn und Form, Heft 3/2012
Postfach 210250, 10502 Berlin, 130 Seiten, 9 Euro.
Merkur, Heft 6/2012
Mommsenstr. 27, 10629 Berlin. 96 Seiten, 12 Euro.
Michael Braun 13.06.2012
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Michael Braun
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