Oktober 2007
Zeitschriftenlese – Oktober 2007
von Michael Braun | Saarländischer Rundfunk
Zwischen den Weltentwürfen der Literatur und den Erkenntnismodellen der Chemie gibt es die erstaunlichsten Korrespondenzen. Auf der Suche nach einem Gesetz, „das die Welt im Innersten zusammenhält“, kommen sich die beiden Sphären sehr nahe. Bereits um 1805 hat Goethe in den „Wahlverwandtschaften“ über diverse Analogien zwischen innigen menschlichen Verbindungen und chemischen Prozessen spekuliert. Sehr viel präzisere Kenntnisse über die Affinitäten und Wechselwirkungen zwischen Literatur und Chemie besaß ein heute fast vergessener Autor des späten 20. Jahrhunderts, der Schriftsteller Walter E. Richartz. Er kannte die heftigen Reaktionen, die ausgelöst werden können, wenn man sich mit dem Trennen, Absondern und Mischen ursprünglich fest vereinter Stoffe beschäftigt. „Nach kurzer Zeit kommt das Gemisch von selbst zum Sieden und der Mensch schreit.“ So steht es zu lesen in den Notizen über „Literatur-Chemische Versuche“, die Walter E. Richartz in den späten siebziger Jahren angefertigt hat. Richartz war eine Doppelbegabung, wie sie in der Gegenwartsliteratur selten geworden ist. Als Dr. Walter von Berenburg hat er viele Jahre in den Forschungsabteilungen der Pharmazeutischen Industrie gearbeitet und sich seiner naturwissenschaftlichen Karriere gewidmet. Während eines Forschungsaufenthalts in den Vereinigten Staaten verwandelte er sich dann zum Schriftsteller mit dem Pseudonym Walter E. Richartz, der in seinen Romanen den Zusammenprall naturwissenschaftlicher Hybris mit einer entzauberten Welt thematisierte. Für kurze Zeit berühmt wurde er 1976 mit seinem „Büroroman“, der hinabstieg in die Untiefen des Büro-Daseins und damit wie nebenbei den bis heute unerreichten modernen Angestelltenroman erfand. Die Lebens- Ökonomie des Doppel-Talents – tagsüber der naturwissenschaftliche Forschungsalltag, abends die literarische Arbeit – geriet aus dem Gleichgewicht, als Richartz seinen Job als Chemiker kündigte und sich als freier Schriftsteller versuchte. Jahrelang hatte er nur abends geschrieben, nun fiel ihm in der neu gewonnenen Zeit nichts mehr ein. Hinzu kamen familiäre Verwerfungen, die Scheidung von seiner Frau und eine unglückliche Liebesaffäre. Ein paar Monate nach einem missglückten Suizidversuch verschwand er im Januar 1980 aus seiner Wohnung im hessischen Neu-Isenburg. Einige Wochen später fand man ihn im Wald, vergiftet, eingeschneit in einer Kuhle.
Diesem großen Schriftsteller hat nun die Literaturzeitschrift „die horen“ ein umfangreiches Dossier gewidmet, das nebst exzellenten Essays und Porträts über den Autor viele unveröffentlichte Texte von Richartz enthält. In den autobiografischen Notizen und Briefen, die im Heft 227 der „horen“ zu lesen sind, enthüllt sich das Bild eines Menschen, der schon in der Kindheit vom unglücklichen Bewusstsein heimgesucht worden war. Seine Mutter war kurz nach dem Zweiten Weltkrieg einer schweren Psychose verfallen, sein Vater, ein bekannter Marineschriftsteller, hatte sich früh von der Familie getrennt. Im Hintergrund agierte ein berüchtigter Großvater, der Weltkriegsgeneral Erich Ludendorff, der 1920 am sogenannten „Kapp- Putsch“ gegen die Weimarer Republik teilgenommen hatte. Aus dieser familiären Gemengelage einer „paranoisch deutschtümelnden wahnwitzigen Betriebsamkeit“ war Richartz zuerst in die Naturwissenschaft, dann in die Literatur geflohen.
Die in den „horen“ erstveröffentlichten Texte zeigen nun, dass ihm diese Flucht nur dank einer fieberhaften literarischen Produktivität gelingen konnte. Nach einem Dutzend Romanen und Erzählungen landete er im Alter von 52 Jahren beim „blanken Entsetzen“: „Mir dröhnt der Kopf, mein ganzes Inneres ist wund und bloß, ich find kein Ausweg, nur immer neue Schwierigkeiten... Was quassle ich nur. Ich habe nichts zu sagen, nichts nichts. Kein Zuhause. – Grauen vor morgiger Heimkehr, nichts wie Grauen.“
Das moralistische Gegenstück zum Werk des Apokalyptikers Walter E. Richartz lieferten in der Bundesrepublik der fünfziger und sechziger Jahre die Romane Heinrich Bölls. Der Literaturnobelpreisträger, bewundert als der „gute Mensch aus Köln“, agierte zeit seines Lebens als moralisches Gewissen und kritischer Repräsentant Westdeutschlands. Sein Image als Inkarnation des Humanen bekam allerdings Kratzer, als er 1972 in einem Artikel für den „Spiegel“ über ein „freies Geleit“ für die RAF-Terroristin Ulrike Meinhof nachdachte, worauf eine beispiellose Hetzkampagne gegen ihn einsetzte. In einem ungemein spannenden Aufsatz für Heft 78 der Kulturzeitschrift „Lettre international“ hat nun Christian Linder „indiskrete Nachforschungen zur Entzifferung der Lebensschrift“ Heinrich Bölls betrieben. Es geht hier zum Glück nicht um skandalisierenden Enthüllungsjournalismus. Linder hat es sich nicht leicht gemacht, sondern hat sehr gewissenhaft recherchiert und auch schwer zugängliche Quellen ausgewertet. Bereits 1975 hatte er ein langes Gespräch mit Böll veröffentlicht, „Drei Tage im März“, dessen Thesen und Einsichten er nun dreißig Jahre später noch einmal überprüft. In „Lettre“ analysiert er mit der nötigen Gelassenheit die geheimen Abgründe und Widersprüche Bölls, ohne dem Autor den nach wie vor gebotenen Respekt zu entziehen. So kann er nachweisen, dass Böll auf dem Höhepunkt der RAF-Hysterie zu Übertreibungen neigte, wenn es galt, die Willkür polizeistaatlicher Maßnahmen zu brandmarken. Linder interessiert sich aber nicht nur für den Gesellschaftskritiker Böll, sondern auch für die Ambivalenzen seines Katholizismus und für sein zweifelhaftes Frauenbild. Dazu zitiert er nicht nur aus den aufschlussreichen Briefen aus Bölls Soldatenzeit, sondern auch aus seinen frühen Erzählungen, an denen vor allem die Verdrängung des sexuellen Begehrens auffällt. Ein sehr genaues Bild zeichnet Linder auch von der Heilssehnsucht des kritischen Katholiken Böll, der zwar 1976 aus der katholischen Amtskirche austrat, aber immer dem Sakramentalen und Spirituellen verhaftet blieb. Nach Bölls Tod im Juli 1985 kam es sogar zu einem kirchlichen Begräbnis, was die Söhne des Autors offenbar so erboste, dass sie auf alle Behauptungen einer religiösen „Umkehr“ ihres Vaters mit brüsker Distanzierung reagierten. Es ist das große Verdienst von Christian Linders Aufsatz, dass ein Schriftsteller wieder ins Licht gerückt wird, den der auf Ironie abonnierte Literaturbetrieb ins Museum abgeschoben hat.
Während ein Autor wie Böll noch von einer gewissen politischen Reputation zehren kann, scheint der amerikanische Jahrhundertdichter Ezra Pound als politische Person für immer diskreditiert zu sein. Von Beginn seines literarischen Lebens an, um 1909/1910, lag Pound quer zu allen Geboten des Zeitgeists und lancierte statt dessen eine literarische Revolution nach der anderen. Nach 1920 begann er seine Arbeit an der großen Dichtung der „Cantos“ und fixierte sich auf eine eigenartige Geldtheorie, die das Phänomen des Wuchers, die sogenannte „Usura“, zum schlechthin Bösen der modernen Zivilisation erhob. Pounds Kritik an „Usura“, der „Bestie mit den hundert Beinen“, wie es in den „Cantos“ heißt, mündete in abseitige antikapitalistische und antisemitische Theorien – und schließlich in ein öffentliches Plädoyer für den italienischen Diktator Mussolini. Diese Fraternisierung mit dem Feind Amerikas bestraften die alliierten Sieger mit der Einweisung des Dichters in eine Anstalt für kriminelle Geisteskranke, in der er dreizehn Jahre, von 1945 bis 1958, verbringen musste. Zuvor wurde der Verfemte in einen eisernen Käfig gesperrt und dem öffentlichen Gespött preisgegeben.
Was in diesen dreizehn Jahren der Internierung und Demütigung mit Pound geschah, hat nun das aktuelle Heft, die Nummer 69 der Literaturzeitschrift „Schreibheft“ in einem grandiosen Dossier dokumentiert. Gerd Schäfer und Norbert Wehr haben in diesem Dossier zahlreiche, auf Deutsch erstmals veröffentlichte Briefe, Berichte und Essays zusammengetragen, die von der fortdauernden Strahlkraft des Poundschen Werks zeugen. Die größten dichterischen Geister dieser Zeit, von T.S. Eliot und William Carlos Williams bis hin zu dem damals aufstrebenden Medientheoretiker Marshall McLuhan, haben dem inhaftierten Pound gehuldigt und sich von den politischen Verblendungen des Dichters nicht die literarische Bewunderung austreiben lassen. Zu den bewegendsten Zeugnissen dieses Dossiers gehört sicherlich der Briefwechsel zwischen Pound und dem amerikanischen Dichterarzt William Carlos Williams. Hier hauen sich die Dichter ihre extrem gegensätzlichen Dichtungskonzepte um die Ohren und geizen dabei auch nicht mit herben Beschimpfungen. „Du lieber alter Mistkäfer“, spottet hier etwa Ezra Pound, „du unsäglicher alter Esel“, woraufhin der so Angesprochene kontert: „Du armer dummer Depp, statt auf deiner kläglichen kleinen Ego-Hupe herumzututen, solltest du das, was von deinem Kopf noch übrig ist, besser mal zu einem bisschen Nachdenken benutzen... Halb schäme ich mich, wenn ich dich beschimpfe, denn ich kenne ja Deine unbezweifelbaren Fähigkeiten, Dein Genie – aber deine Anmaßung ist zu groß.“ Faszinierend zu lesen sind auch die Briefe Marshall McLuhans, der in den Gedichten Pounds „kinematographische“ und „polyphonische“ Effekte zu entdecken glaubt und damit Pound zum medientheoretisch inspirierten Dichter adelt. Ein „Schreibheft“-Kapitel ist auch der Pound-Rezeption unter den poetischen Zeitgenossen gewidmet. Benedikt Ledebur untersucht zum Beispiel die fortdauernde Mussolini-Verehrung Pounds in den sogenannten „Pisaner Cantos“, die während seiner Haftzeit entstanden und 1949 mit einem bedeutenden Literaturpreis bedacht wurden. Der Fall Ezra Pound, so belegt diese eindrucksvolle „Schreibheft“-Ausgabe, ist noch nicht abgeschlossen.
Mit unerledigten Fällen der Geistesgeschichte hat es auch die interessanteste Zeitschriftengründung der letzten Jahre zu tun, die „Zeitschrift für Ideengeschichte“. Dieses vierteljährlich erscheinende Periodikum ist ein Gemeinschaftsunternehmen des Deutschen Literaturarchivs Marbach, der Klassik-Stiftung Weimar und der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel – und es erkundet in überaus eleganten Essays, Gesprächen und „Denkbildern“ die derzeit virulenten Themen auf den Terrains der Philosophie, der Erkenntnistheorie und ihrer geisteswissenschaftlichen Nachbardisziplinen. Das erste Heft widmet sich ironischerweise den „Alten Hüten“ der Ideengeschichte – und im aktuellen Heft 3 ist man schon bei der tatsächlichen oder nur vermeintlichen „Rückkehr der Wahrheit“ angelangt. Der englische Philosophieprofessor Simon Blackburn eröffnet hier den Themenschwerpunkt mit einem ironischen Seitenblick auf die zu Ende gegangene Periode des postmodernen Relativismus. Das Ziel seiner Überlegungen ist durchaus, die angeschlagene Wahrheit zu rehabilitieren – ohne freilich auf priesterliche Geltungsansprüche absoluter Autorität zurückgreifen zu müssen. Den brisantesten Beitrag des neuen Heftes findet man in der Rubrik „Archiv“. Thomas Meyer hat einen unbekannten Brief des Religionsphilosophen Gershom Scholem ausgegraben, der eine überfällige Klärung im Streit um das „Trauerspiel“-Buch des Philosophen Walter Benjamin herbeiführt. Der italienische Mode-Philosoph Giorgio Agamben hatte vor einiger Zeit eine etwas abenteuerliche These zur geistigen Wahlverwandtschaft zwischen Walter Benjamin und dem autoritären Staatsphilosophen Carl Schmitt entwickelt. Agambens unabgestützte Spekulation wird hier gründlich widerlegt. Allein dieser Beitrag zeigt, dass der „Merkur“, die bislang alles überragende Zeitschrift für „europäisches Denken“, ernsthafte Konkurrenz bekommen hat: nämlich just durch die „Zeitschrift für Ideengeschichte“.
die horen, Nr. 227
Johann P. Tammen, Wurster Str. 380, 27580 Bremerhaven
368 Seiten, 16,50 Euro
Lettre International, Nr. 78
Erkelenzdamm 59/61, 10999 Berlin
130 Seiten, 11 Euro
Schreibheft 69
Rigodon Verlag, Nieberdingstr. 18, 45147 Essen
220 Seiten, 12 Euro
Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft 3
Deutsches Literaturarchiv Marbach
Schillerhöhe 8-10, 71672 Marbach am Neckar
C.H. Beck Verlag, 128 Seiten, 12 Euro
Michael Braun25.10.2007
Saarländischer Rundfunk | Zeitschriftenlese Oktober 2007
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Michael Braun
Bericht
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