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August 2012
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Zeitschriftenlese  –  August 2012
von Michael Braun | Saarländischer Rundfunk – Literatur im Gespräch


„Er war ein böser Bub, aber klasse“: Solche versöhnlichen Sätze kommen immer dann zum Einsatz, wenn es gilt, früh ver­storbene Avant­gardisten posthum zu um­armen. In diesem Fall gilt die Würdi­gung dem öster­reichi­schen Schrift­steller Konrad Bayer, dem provo­ka­tivsten und zugleich rätsel­haftesten Kopf der „Wiener Gruppe“, die in den frühen fünfziger Jahren mit auf­sehener­regenden Happenings aus dem Litera­turbetrieb ihrer Zeit ausbrach.
  Formuliert hat den Satz vom liebenswerten „bösen Buben“ die Dichterwitwe Traudl Bayer, deren aufregendes Zusammenleben mit dem grüblerischen Genius Konrad Bayer nun erstmals in einem bewegenden Briefwechsel dokumentiert wird – nämlich im Konrad Bayer-Dossier in der neuen Ausgabe, der Nummer 79 der Literatur­zeit­schrift „Schreibheft“.
  Nie zuvor hat das „Schreibheft“ so viel Sorgfalt und Mühe auf die bio­grafische Erschlie­ßung eines Schrift­steller­lebens verwendet. Frühere Hefte konzen­trierten sich auf kühle literatur­theoretische Exegesen und streng philo­logische An­nähe­rungen. Das Konrad Bayer-Dossier trägt nun in seiner Collage persön­licher Dokumente, Erin­nerungen und Bild­zeug­nisse fast hagio­grafische Züge. Der große Avant­gardist Bayer tritt uns hier als selbstquälerischer Unruhe­geist entgegen, in verzwei­fel­ten Brie­fen, Kommen­taren, faszi­nieren­den Fotos und Hand­schriften. Der nieder­ländische Essayist und Über­setzer Eric de Smedt hat gemeinsam mit dem „Schreibheft“-Heraus­geber Norbert Wehr ein Dossier zusammen­gestellt, das die Schlüssel­szenen im Leben eines kompromiss­los rebel­lischen Autors rekonstruiert.
  Konrad Bayer fehlte vollkommen das Karriere­bewusstsein seiner Mit­streiter Gerhard Rühm, H.C. Artmann und Friedrich Achleitner. Er war, in seiner völligen Hingabe an ein egomani­sches wildes Boheme-Leben, ein „böser Bub“, stets bereit zum Exzess in der Liebe und jederzeit willens, sich „an die Grenze seiner Physis zu bewegen“.
  „Das Geschwätz vermeiden“, so hat er an den oberen Rand eins seiner grapho­manisch bekrit­zelten Blätter geschrieben, die nun das „Schreibheft“ aus dem Nachlass veröffentlicht. Auf einem anderen Blatt findet sich ein weiterer pro­gramma­tischer Impe­rativ: „Die Ver­neinung nicht vergessen“.
  Konrad Bayer, im Dezember 1932 in Wien geboren, war ein Geist, der zwar nicht stets verneinte, aber kaum etwas aus unserer Sprach­ordnung gelten ließ, am aller­wenigs­ten die lite­rari­schen Konzepte seiner Zeit­genossen. Er war sechs Jahre lang Bank­ange­stellter, gezwungen von seinem Vater, der die Ambitionen seines Sohnes auf ein Studium an der Kunst-Akademie nicht akzep­tieren wollte. Als Bayer einmal das Glück beim Roulette-Spiel beschieden war, gab er seinen Job bei der Bank auf und widmete sich fortan ausschließlich der Schrift­stel­lerei. Was in seinem Fall bedeu­tete: Er beschäf­tigte sich mit Magie und scha­manis­tischen Riten, erprobte mit dem Konsum von Chloroform Rausch­zustände des Körpers, er wollte fliegen lernen und wun­derte sich, wenn er sich nicht unsichtbar machen konnte.
  Während er in seinem äußeren Erscheinungsbild gerne mit den Attitüden eines Dandys spielte, stellte er in seinen Texten das „Ich“ fortdauernd auf den Prüfstand – bis hin zur literarischen Darbietung der voll­kommenen Zer­ris­sen­heit. „Wer weiss“, schrieb er einmal, „ob wir nicht schon auf dem Wege sind, dem Iden­titäts­prinzip eines Tages zu entrinnen?“ Dieses „Iden­titäts­prinzip“ wird nicht nur in seinen beiden unvol­lendeten Haupt­werken zer­sprengt, den Roman-Collagen „der sechste sinn“ und „der kopf des vitus bering“, sondern auch in seinen kurzen experi­mentellen Prosa­texten. In einem im „Schreib­heft“ erstmals ver­öffent­lichten Radio-Essay charakte­risiert der junge Peter Handke das Prosastück „der kopf des vitus bering“ als „Montage-Porträt eines Menschen, in dessen Kopf die Zeiten ein- und ausgehen; er kann die Zukunft vorweg­nehmen und sich die nie erlebte Vergangen­heit ver­gegen­wärtigen; des­gleichen erlebt sein Bewusstsein Räume, die es selbst nie erfahren hat oder erfahren wird.“ Da Bayer in diesem Prosastück die Epilepsie mit der schamanis­tischen Ekstase gleich­setzt, spricht Thomas Harlan im Blick auf den „kopf des vitus bering“ bewundernd von einem „Hohelied der Epilepsie, der heiligen Krankheit, morbus sacer“.
  Konrad Bayer fand nie zu einer pragmatischen Balance zwischen seinen litera­rischen Obses­sionen, seinen absoluten Liebes­wünschen und seinem Bedür­fnis nach einem stabi­len Rückhalt in der Ehe mit seiner geliebten Traudl. Nachdem ihm Heinrich Maria Ledig-Rowohlt einen Vor­schuss bezahlte, um den Roman „der sechste sinn“ ab­schließen zu können, zog er sich im Sommer 1964 auf das nieder­öster­reichische Schloss Hagenberg zurück, wo er mehr mit rausch­haften Liebes- und Todes-Exer­zitien beschäf­tigt war als mit seiner Dichtung. Dass er bei der Ta­gung der Gruppe 47 im schwe­dischen Sigtuna mit Anti­semitis­mus-Vor­würfen kon­frontiert wurde, stieß ihn noch tiefer in seine Einsamkeit zurück. Als eine seiner Geliebten nicht recht­zeitig von einer nächt­lichen Party zurück­kehrte, drehte er in seinem Zimmer die Gashähne auf und starb. So er­füllte sich der Satz seines Erzählers aus dem Roman-Torso „der sechste sinn“ „frage: worauf hoffen? Es gibt nichts was zu erreichen wäre ausser dem tod.“

„Die Auferstehung des Konrad Bayer“ ist in fast religiösem Ver­heißungs­ton das neue „Schreibheft“ überschrieben. Für eine Wieder­auf­er­stehung poeti­scher Energien sorgt auch die über­raschendste Zeit­schriften-Neu­gründung dieser Tage. Nach zwanzig Jahren hat der Schweizer Lyrik-Editor Urs Engeler seine exzellente Poesie-Zeit­schrift „Zwischen den Zeilen“ einge­stellt. Zum Glück hat er jedoch eine her­vor­ragende Alter­native parat: Urs Engelers neue Zeit­schrift nennt sich „Mütze“ – und diese neue „Mütze“ setzt man sich gerne auf, belebt sie doch den Kopf mit auf­regenden Texten. Ein poeti­scher Essay von Werner Hamacher thema­ti­siert die Ver­bindung von Sprache und Feuer. Bereits in der Genesis kam die Sprache der Offen­barung ja aus dem Feuer – aus dem bren­nenden Dornbusch sprach Gott zu Moses. In der „Mütze“ finden sich noch weitere Texte, die brennen: Eine erste Über­set­zungs­probe eines radikal obszö­nen Epos des franzö­si­schen Avant­gar­disten Pierre Guyotat. Krieg und Begehren, Gewalt und Sexua­lität werden hier ver­bunden wie einst in den Schrif­ten des Philo­sophen Georges Bataille. Hinzu kommen noch Gedichte von Simone Kornappel und Tim Turnbull, letztere in der hervor­ragenden Über­setzung von Dagmara Kraus. Was in den kommenden Aus­gaben der Zeit­schrift folgt, sagt der Titel eines Lyrik­bands von Ernst Jandl. Er lautet: „Die Bearbeitung der Mütze.“

Schreibheft 79  externer Link  
Rigodon Verlag, Nieberdingstr. 18, 45147 Essen. 192 Seiten, 13 Euro.

Mütze 1  externer Link
Urs Engeler, Obere Steingruppenstr. 30, CH-4500 Solothurn. 52 Seiten, 6 Euro.

Michael Braun    13.08.2012       

 

 
Michael Braun
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