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„Ich denke daran, Gott zu beweisen“
Zu Adam Zagajewski und Nora Bossong

Von Michael Braun
  Rede im Literaturhaus Frankfurt


„Es ist Sonntag, ich denke daran, Gott zu beweisen“: Diese Sentenz ist nicht etwa der Auftakt zu einem theologischen Traktat, sondern eine Zeile aus einem zeit­genös­sischen Gedicht, eine Zeile nämlich aus einem Gedicht von Nora Bossong. In den zurück­liegenden Dezennien der Ironie und der for­schen Säkula­risie­rung hatten wir uns doch gerade an die Erkennt­nis gewöhnt, dass Dichtung für Gottes­beweise nicht zuständig und ganz selbst­verständ­lich aus allen Kirchen ausge­treten ist. Und nun das: „Es ist Sonntag, ich denke daran, Gott zu beweisen“: Es ist eine Zeile aus einem Rollen­gedicht über den britischen Reli­gions­philo­sophen Richard Swinburne – aber sie zeigt, dass Gott wieder eine nach­denkens­werte Größe ist im Diskurs der Poesie.
  Um das Korrespondenz­verhältnis zwischen Dichtung und Religion weiß auch unser Gast Adam Zagajewski, der Dichter aus Krakau. In den autobiografischen Denkbildern seines Buches „Ich schwebe über Krakau“ hat er seine litera­rische Urszene beschrieben: wie er sich als junger Mann in einen Dichter verwandelte – nämlich durch die Einsicht in die Wesens­verwandt­schaft von Gedicht und Gebet. Die Initiation des Dichters, so Zagajewski, vollziehe sich, so wörtlich, „wenn den in katholi­schem Glauben erzo­genen jungen Mann die Erleuch­tung überkommt, daß er beim Beten nicht unbedingt die Worte im Gebetbuch wieder­holen muß, sondern ›mit eigenen Worten‹ beten kann. Er kann selbst das Gebet formen. Er kann selbst die Worte formen.“
  Was geschieht also bei der Begegnung der beiden Sphären Poesie und Religion? Das Ausloten dieser Beziehung ist der Angelpunkt des Gesprächs, das unsere kleine Veran­staltungs­reihe „Reli­gionen sind Gedichte“ hier im Frankfurter Literatur­haus anstiften will: Welche Anzie­hungs­kräfte und wechselseitigen Affini­täten gibt es im Verhältnis von Dichtung und Religion – und gibt es innerhalb der modernen Dichtung noch einen Ort für das Heilige?
  Im Mai haben Les Murray und Christian Lehnert hier im Literaturhaus über das Arkanum der Religion gesprochen. An diesem September­abend nun eröffnen uns Adam Zagajewski und Nora Bossong neue Perspek­tiven auf dieses Thema – und es ist eine sehr lehrreiche Expedition, wenn sie uns in den zer­splitterten Spiegel der Religion blicken lassen.
  Da ist zunächst der „im katho­lischen Glauben“ erzogene Dichter aus Krakau, der sich als junger Mann in einen enthu­siasti­schen Philosophen und später in einen weltlichen Mystiker verwandelt hat – und da ist eine katholisch auf­ge­wach­sene Poetin, die sich, wie es ein Kapitel ihres neuen Buches sagt, „im Protes­tantenland“ behaupten musste – gemeint ist ihre Her­kunfts­stadt Bremen. Wenn wir die Werke von Adam Zagajewski und Nora Bossong näher betrachten, so finden wir im Blick auf Religion manche überraschende Überein­stimmung, obwohl beide Autoren doch gene­rations­mäßig und von ihrem Erfahrungs­hinter­grund weit auseinanderliegen. Der 1945 in Lemberg geborene Adam Zagajewski und die 1982 in Bremen zur Welt gekommene Nora Bossong haben, so scheint es, eine gemein­same Schule des Sehens durchlaufen, zumindest was die Ausbildung ihres ästhetischen Sensoriums betrifft.
  Zagajewski, dieser große Europäer und Kosmopolit, hat Polen 1982 verlassen, um in Paris zu leben. Im Sommer 2002 ist er in seine Heimat zurückgekehrt – nach Krakau, die von ihm so genannte „Stadt der Einbil­dungs­kraft“, wo er seither lebt. Nora Bossong wiederum ging aus dem norddeutschen „Protestantenland“ nach Berlin.
  Die Geburt der Poesie vollzieht sich in den Gedichten der beiden Autoren nicht selten beim Erkunden sakraler Orte – beim Betrachten von Kirchenfenstern oder beim innigen Dialog mit Ikono­grafien des Reli­giösen. In seinem Essay „Verteidigung der Leiden­schaft“ hat Adam Zagajewski vor einigen Jahren sein ästhe­tisches Credo formuliert: Eine Kultur, die den Sinn für das „Sacrum“, das Heilige verliere, so heißt es da, habe ihr Funda­ment schon preis­gegeben. In seinem Erin­nerungs­buch „Ich schwebe über Krakau“ rekon­struiert er, wie ihm das genaue Betrach­ten von Kirchen­fenstern in Krakau, Paris und anderswo die Augen geöffnet hat für Phäno­mene der Kunst. Die Begeg­nung mit diesen Kirchen­fens­tern ist ihm gerade­zu zur prägenden ästheti­schen Erfah­rung geworden. In gewisser Weise korre­spon­diert mit dieser Medita­tion vor Kirchen­fenstern ein Gedichtzyklus Nora Bossongs, der ihrem neuen Gedicht­band den Titel gegeben hat. „Sommer vor den Mauern“: Dieser Zyklus reflektiert auf einen Rundgang der Autorin durch die römische Basilika San Paolo fuori le Mura, in der sich Mosaik­porträts aller 265 Päpste finden. Die Gedichte von Nora Bossong versuchen anhand historisch verbürgter Szenen die Eigenarten dieser Päpste und die Charakte­ristika ihres Ponti­fikats poetisch zu veran­schaulichen. Und man darf sagen: Das ist eine lyrische Verfahrens­weise, wie sie in moderner Dichtung absolut aus der Mode gekommen ist. Wenn sich moderne Literatur mit dem Papsttum beschäftigte, dann waren das meist Belegstücke zur Kriminal­geschichte des Christentums. Ganz anders bei Nora Bossong, die sich mit großer Ernsthaftigkeit den Ikonografien des Heiligen widmet.
  Wie sieht es also aus, das Verhältnis von Dichtung und Religion bei Adam Zagajewski und Nora Bossong?
  Zagajewski, der weltliche Mystiker, sucht in seiner Poesie nach einer haltbaren Synthese zwischen poetischer Verzau­berung und nüchterner philo­sophischer Reflexion. Nora Bossong erkennt wie Zagajewski die Ambivalenz der religiösen Zeichen, von denen manchmal nur noch schadhafte Reste zurückgeblieben sind, „Heilands­imitate“, wie es in einem ihrer Gedichte heißt.
  „Große Exer­zitien“: So ist – durchaus programma­tisch – das erste Kapitel in Nora Bossongs Gedicht­buch überschrieben. Auf dem Weg zu diesen „großen Exerzitien“, zu diesen Übungen in Selbst­besinnung, und auf dem Weg zu den Versuchen, „die verstümmelte Welt zu besingen“, sollten wir Adam Zagajewski und Nora Bossong, begleiten.

Michael Braun    27.09.2011   

 

 
Michael Braun
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