Dezember 2009
Der boshafteste Provokateur und unberechenbarste Schriftsteller, den die DDR je hervorgebracht hat, war der Dichter und Dramatiker Peter Hacks.
Für die große Betroffenheitswolke, die zum 20. Jahrestag des Mauerfalls in diesen Tagen alle relevanten Meinungsbildner des Landes einhüllte, hätte der vor sechs Jahren verstorbene Autor nur Verachtung und Spott übrig gehabt. Bereits kurz nach der Öffnung der Mauer verfasste er sein freches Bekenntnisgedicht „Das Vaterland“, in dem er die Mauer nicht als furchtbares Monument des Unrechts beschrieb, sondern im Gegenteil als großartiges Erdenwunder: „Wer kann die Pyramiden überstrahlen? / Den Kreml, Sanssouci, Versailles, den Tower? / Von allen Schlössern, Burgen, Kathedralen / Der Erdenwunder schönstes war die Mauer. / Mit ihren schmucken Türmen, festen Toren. / Ich glaub, ich hab mein Herz an sie verloren.“
Die Respektlosigkeit, mit der Hacks, der linksaristokratische Dandy, über das Ende der deutschen Zweistaatlichkeit schrieb, beginnt man heute schmerzlich zu vermissen. Zwanzig Jahre nach dem Untergang der DDR gibt es zwar allerorten pflichtschuldige Stellungnahmen zum Thema, aber kaum noch irgendwo eine leidenschaftliche Debatte.
Man reibt sich allerdings verwundert die Augen, wenn man registriert, welche Anstrengungen die linke Essayistin Daniela Dahn in der Nummer 156 der Literaturzeitschrift „Wespennest“ unternimmt, um die DDR gegen das wohlfeile Etikett „Unrechtsstaat“ zu verteidigen. Daniela Dahn war in den Wende-Tagen Mitbegründerin des „Demokratischen Aufbruchs“ und Aktivistin einer Untersuchungskommission, die sich mit den Übergriffen von Polizeit und Staatssicherheit im Oktober 1989 beschäftigte. Mittlerweile arbeitet die Autorin an der Korrektur verzerrter Geschichtsbilder und letztlich an einer Image-Aufbesserung des untergegangenen Einparteien-Regimes. In einer sehr detaillierten Untersuchung zum juristischen Umgang mit DDR-Unrecht kommt Dahn im „Wespennest“ zu dem Schluss, dass die DDR „mit dem pauschalisierenden Begriff ›Unrechtsstaat‹ nicht zu beschreiben“ sei. In der 15 Jahre währenden Aufarbeitung von DDR-Verbrechen sei kaum „pure Regierungskriminalität“ festgestellt worden. Und niemals sei auch nur erwogen worden, eine Institution der DDR oder auch die SED als „kriminelle Vereinigung“ einzustufen. Was will uns Daniela Dahn damit sagen? Was ist damit gewonnen, wenn wir wissen, dass die DDR kein „totalitärer Unrechtsstaat“ war, sondern der „Verrat“ der SED-Parteibonzen allenfalls darin bestand, „die sozialistischen Kritiker an den nichtsozialistischen Zuständen als Feinde behandelt zu haben und die Bürger wie eine verfügbare Masse“? Was Daniela Dahn an Differenzierungen anstrebt, sieht Beschwichtigungen verteufelt ähnlich.
Da ist es schon viel lehrreicher, wenn man zum Thema DDR-Kultur das aktuelle Heft, die Nummer 5/2009 der Zeitschrift „ Sinn und Form“ heranzieht. Darin wird zum Beispiel der 100. Geburtstag des Autors Louis Fürnberg gewürdigt, dessen ganze Existenz aus erzwungenen Fluchtbewegungen bestand. Der als Dichter heute vollkommen vergessene Fürnberg stammte aus einer jüdischen Familie aus Prag und gehörte zu den letzten Protagonisten des deutsch-böhmischen Kulturkreises, in dem auch die geniale Literatur Kafkas entstand. Als 19jähriger hatte sich Fürnberg in Berlin, wo er als Barpianist und Lektor arbeitete, der Kommunistischen Partei angeschlossen. Nach dem Sieg des Nationalsozialismus ging er zurück nach Prag. Dort wurde er 1939 interniert und gefoltert, bis es der Familie seiner Frau Lotte Wertheimer gelang, ihn durch Bestechung aus der Haft freizukaufen. Danach begann seine Odyssee über sieben Grenzen bis nach Palästina, wo er als Mitarbeiter der deutschen antifaschistischen Zeitung „Orient“ bei militanten Juden in Ungnade fiel. Als er nach dem Krieg in die Tschechoslowakei zurückkehrte, erfüllte sich erneut die Tragik verlorengegangener Zugehörigkeit. Die deutsche Bevölkerung war weitgehend vertrieben worden, Fürnberg hatte keinen Resonanzraum mehr. Er arbeitete einige Jahre als Kulturattaché der kommunistischen Tschechoslowakei in der DDR und entging dann nur knapp den Terror-Prozessen des stalinistischen Regimes. Auch in der DDR, wo er unter anderem die Zeitschrift „Weimarer Beiträge“ gründete, fand er keinen Ort mehr, wo er hätte unbehelligt arbeiten und schreiben können. Fürnberg, der romantisierende Naturdichter, hat zwar für die SED die berühmte Partei-Hymne gedichtet, also das Lied von der Partei, die angeblich „immer recht“ hat. Dennoch ist es ihm – nach einem Wort von Hans Mayer – nie gelungen, „wider seine bessere Überzeugung aus sich einen orthodoxen Stalinisten zu machen“. 1957, im Alter von 48 Jahren, starb er an einem Herzinfarkt.
Auf eine zerrissene DDR-Biografie wie die von Louis Fürnberg kann auch der Schriftsteller Christoph Hein verweisen, der 1982 mit seiner Erfolgs-Novelle „Der fremde Freund“, innerhalb und außerhalb seines Landes Aufsehen erregte, weil in diesem Text sämtliche Tabus der autoritär formierten DDR-Gesellschaft berührt wurden. 1987 hielt er auf dem vorletzten Schriftstellerkongress der DDR eine radikale Rede, in der er das Ende der Zensur forderte und damit ein Fundament der repressiven Literaturpolitik des Staates in Frage stellte. In „Sinn und Form“ finden wir nun ein sehr lehrreiches Gespräch mit Christoph Hein, das Ralph Schock geführt hat. Ralph Schock dechiffriert hier die Novelle vom „fremden Freund“ als einen Text von unerhörter Aktualität. Denn die Wesenszüge der DDR-Gesellschaft, die in der Novelle thematisiert werden, weisen verblüffende Parallelen auf zu den Eigenschaften der individualisierten Lebenswelt unserer Tage: So trifft man in der Novelle auf aggressive Jugendliche, die aus Langeweile töten und auf jene unheilvolle Melange aus politischem Desinteresse, Egoismus und verkrüppelter Emotionalität, die auch das Klima in der globalisierten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts kennzeichnet.
Wenn man sich über das „Sinn und Form“-Heft hinaus nach Kulturzeitschriften umsieht, die sich detailliert an einem Rückblick auf die Literatur der DDR versuchen, entdeckt man nur Magerkost. Einen beharrlichen Blick nach Osten, nicht nur auf die Literatur der Ex-DDR, sondern auch auf die Tschechiens, Polen, Ungarns oder Russlands richtet einzig das „Ostragehege“, die Dresdner Zeitschrift für Literatur und Kunst. Die aktuelle „Ostragehege“-Ausgabe, das Heft 3/2009, diskutiert eine Anthologie aus der subliterarischen Szene, die systematisch die Lebenslinien und künstlerischen Konzepte von literarischen Grenzgängern aus dem Osten nachzeichnet. Der Titel dieser Anthologie lautet „Beim Verlassen des Untergrunds“. Dieses Buch markiert demonstrativ das radikale Außenseitertum von zwei Dutzend ost- und mitteldeutscher Schriftsteller und Künstler, die in der Zeit zwischen dem Mauerfall und der Gegenwart sehr eigensinnigen Konzepten folgten, die im Literaturbetrieb kaum wahrgenommen worden sind. Einer der Herausgeber dieser Anthologie ist der 1962 geborene Schriftsteller Tom Pohlmann, ein Leipziger Urgewächs und schwarzer Phantastiker, der wie Wolfgang Hilbig in der finsteren Lebenswelt der Braunkohlenreviere aufwuchs und ganz andere Erfahrungen vorzuweisen hat als jene leichtfüßigen Metropolen-Poeten, die sich etwa in der Berliner Dichterszene tummeln. Ein exzellenter Autor wie Pohlmann, der in der kleinen Leipziger Edition Mischhaus publiziert, wird von den hektischen Matadoren des Literaturbetriebs auf sträfliche Weise missachtet. Wenigstens das „Ostragehege“ weiß nun die Großtat der von ihm mit edierten Anthologie zu würdigen.
Wer sich bei jungen Dichtern nach Standortbestimmungen zum Mauerfall-Jubiläum kundig machen will, erntet meist ein Achselzucken: Im Werk der nach 1970 geborenen, aus Ostdeutschland stammenden Autoren, die als Jugendliche vom epochalen Umbruch überrascht wurden, lassen sich kaum ästhetische Markierungen für diese Zäsur finden. Studiert man zum Beispiel die bemerkenswerte neue Literaturzeitschrift „randnummer“, so fällt auf, dass hier potentielle ästhetische Differenzen zwischen den jungen Autoren mit West- oder Ost-Hintergrund bis zur Ununterscheidbarkeit eingeschmolzen sind. Unter den Autoren des Heftes, das sich in vielfältigen Figurationen dem Thema Stadt und den Bewegungen des Subjekts darin widmet, befinden sich zwei der profiliertesten Lyriker der jungen Generation: Ron Winkler, der in Jena aufgewachsen ist, und Andre Rudolph, der in Leipzig zur Schule ging. Ron Winkler schreibt wie ein abgeklärter Ironiker, der mit seinen Sprachmaterialien einen kokett-lässigen Umgang pflegt und aus überraschenden, häufig technizistischen Bildfügungen seine lyrischen Reizwerte gewinnt. Der sprachempfindliche Andre Rudolph entscheidet sich in seinem Zyklus mit Liebesgedichten für einen Abwehr-Reflex, wenn an einer Stelle die alte sozialistische Verheißung auftaucht: „aber das ist nur eine kleine reminiszenz / an den new socialism / der kommen wird, / er kann mir schon heute gestohlen beiben, / wenn du es wissen willst…“
Zum Schluss noch ein Hinweis auf einen amerikanischen Autor, der für viele junge deutsche Erzähler zum großen Vorbild geworden ist. Ich meine Raymond Carver, den Meister der Short-Story, der sich in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts aus dem subproletarischen Milieu von depressiven Losern, Hilfarbeitern und Alkoholikern befreite und zur Portalfigur des modernen Erzählens aufstieg. Das aktuelle Heft, die Nummer 3/2009 der Kulturzeitschrift „Neue Rundschau“ hat Carver ein aufregendes Dossier gewidmet und erstmals in deutscher Sprache die ungekürzten Fassungen jener grandiosen Erzählungen vorgelegt, mit denen der Autor dereinst berühmt wurde. Der Briefwechsels Carvers mit seinem Lektor Gordon Lish dokumentiert die scharfen Einschnitte und Kürzungen, denen Carvers Texte regelmäßig unterzogen wurden. In einigen Fällen wurden seine Texte durch den Lektor um siebzig Prozent gekürzt – was andererseits den Vorteil hatte, dass durch diesen Eingriff Carvers Prosa jene Eigenschaft eines einzigartig sparsamen, lakonischen Stils bekam, für den er dann enthusiastisch gefeiert wurde. Mit wachsendem Selbstbewusstsein wehrte sich Carver immer heftiger gegen die Kürzungs-Rigorosität seines Lektors. Die „Neue Rundschau“ zeigt nun an einigen berühmten Erzählungen Carvers, dass die Texte auch in ihrer ursprünglichen Fassung die existenzielle Wucht der Trostlosigkeit besitzen, durch die man bei der Lektüre fundamental erschüttert wird. Die Erzählung „Anfänger“ kreist um ein deprimierendes Gespräch zweier Paare über die richtige und die falsche Liebe. Im Verlauf des Gesprächs versinken die vier Menschen in ihrem Kummer und einem massiven Alkoholkonsum, mit dessen Hilfe sie ihre Aussichtslosigkeitsgefühle betäuben wollen. Die schockierende Erzählung „Sag den Frauen, dass wir gehen“ reportiert in kalter Ungerührtheit den tödlichen Weg zweier Freunde, die aus ihrem Ehe-Frust ausbrechen wollen und nach einem massiven Besäufnis zu spontanen Totschlägern werden. Es ist der mitleidlose, von Psychologisierungen völlig freie Realismus Carvers, der einen beim Lesen sofort in Bann schlägt. Carver, ein schwerer Trinker und Kettenraucher, wusste, dass er nur noch die Wörter hatte, um am Leben zu bleiben. „Denn alles“, so notierte er in einem poetologischen Essay, „was wir haben, sind am Ende die Wörter, und da sollten es besser die richtigen sein.“
Wespennest, H. 156
Rembrandtstr. 31/4, A-1020 Wien. 104 S., 12 Euro
Sinn und Form, H. 5/2009
Postfach 210250, 10502 Berlin. 130 S., 9 Euro
Ostragehege H. 55
c/o Axel Helbig, Birkenstr. 16, 01328 Dresden, 76 S., 4,90 Euro
Randnummer 1
Katenweide 1, 20539 Hamburg, 52 S., 4 Euro.
Neue Rundschau, H. 3/2009
S. Fischer Verlag, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt a.M. 256 S., 12 Euro
Michael Braun27.11.2009
Saarländischer Rundfunk | Zeitschriftenlese Dezember 2009
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Michael Braun
Bericht
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