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Oktober 2015
„Die Gründer … der modernen Lyrik Europas sind Franzosen des 19. Jahrhunderts, nämlich Rimbaud und Mallarmé … Rimbaud und Mallarmé hatten die äußersten Grenzen abgesteckt, bis zu denen das Dichten sich hinauswagen kann. Fundamental Neues bringt die Lyrik des 20. Jahrhunderts nicht mehr, so qualitätvoll auch einige ihrer Dichter sind.“ Diese Diagnose ist schon sechzig Jahre alt und hat doch bis heute, bis ins 21. Jahrhundert hinein ihre Gültigkeit behalten. Die Sätze stammen von dem Romanisten Hugo Friedrich, der 1956 mit seiner Schrift „Die Struktur der modernen Lyrik“ die bis heute wirkungsmächtigste Fibel zur modernen Lyrikgeschichte vorgelegt hat. Hugo Friedrich ist damals sehr stark angefeindet worden, weil er sich zu sehr auf die französischen und spanischen Strömungen der modernen Poesie konzentriert und die anglo-amerikanischen Traditionen weitgehend ignoriert hatte. Wer nun die aktuelle Ausgabe, die Nummer 85 der Literaturzeitschrift „Schreibheft“ studiert, wird sich an Hugo Friedrichs Thesen erinnert fühlen. Denn das neue „Schreibheft“, nach wie vor die bedeutendste Literaturzeitschrift Deutschlands, hat in seinem unbeirrbaren Interesse an den avanciertesten Literaturkonzepten der Gegenwart diesmal acht französische Dichter in den Mittelpunkt gestellt, die sich – um mit Hugo Friedrich zu sprechen – an die „äußersten Grenzen“ des poetisch Artikulierbaren hinauswagen.
Nicht zufällig wird das Heft eröffnet mit emphatischen Reminiszenzen an die großen Portalfiguren der Moderne, an Rimbaud und Mallarmé. Der Dichter und Übersetzer Norbert Lange und die Literaturwissenschaftlerin Aurélie Maurin haben ein ebenso imponierendes wie irritierendes Dossier zu den „Ultra-Extremisten“ der französischen Post-Avantgarde zusammengestellt. Es sind spielerische, grimmige, experimentelle „Sabotagen“ aller gängigen poetischen Regelwerke, akribische Demontagen jedweder literarischen Konvention. Zum Auftakt liefert zum Beispiel der 1940 geborene Emmanuel Hocquard „ein herzzerreißendes Blablabla“, bevor dann Pierre Alféri und Olivier Cadiot die Mechanismen des Sprechens und mit ihnen auch „die lyrische Mechanik“ untersuchen und schließlich bei „nicht identifizierten Wortobjekten“ landen: „Die nicht identifizierten Wortobjekte sind der Hauptpreis, den die Literatur vergibt: Sie faszinieren, sie schläfern ein. Es ist leicht und verlockend, die zu vergrößern; sie aufzublasen wie Luftballons.“ In diesen sprachexperimentellen Ansätzen manifestiert sich ein literarischer „Oberflächenextremismus“, wie das zum Beispiel der 2004 verstorbene Christophe Tarkos nennt: Redeweisen und Satzmuster aus dem Alltag und aus Fachsprachen werden in ihrer Kombinatorik solange durcheinandergeschüttelt und neu verflochten, bis sehr groteske und auch komische Ergebnisse zustandekommen. Alle Vorstellungen von sprachlicher Ordnung werden aus den Angeln gehoben, große Themen wie „das Geld“ oder „der Kapitalismus“ werden parodiert oder mit skurrilen Gedankensprüngen ausgehebelt.
Die interessanteste Form des künstlerischen „Ultra-Extremismus“ à là française repräsentiert im „Schreibheft“ der Dichter, Maler und Universalkünstler Bernard Réquichot, der sich 1961 das Leben nahm, nachdem er alle Grenzphänomene des Ästhetischen ausprobiert hatte. Stefan Ripplinger stellt im „Schreibheft“ Réquichot als einen Künstler vor, der „unlesbare Schriften“ geschaffen hat: „namenlose Abfälle, unlesbare Schriften, chaotische Spiralformen, Überschreitungen aller Art.“ Einige faszinierende Beispiele seiner Zeichnungen und vor allem seiner Briefe sind im dritten Teil des Hefts abgedruckt. Freunden gegenüber hat Réquichot gerne behauptet, er „überarbeite“ gerade sein Alphabet und laufe Gefahr, erneut in einer Sackgasse zu enden. „Ich habe mein Experiment zu Ende gebracht“, schreibt er im August 1955, „ich bin bis ans Ende vorgestoßen, und es war – nichts. Bevor ich es fand, sehnte ich mich danach, es zu sehen, es zu kennen. Meine Unwissenheit beunruhigte mich, nun ist dieses Nichts an die Stelle der Unwissenheit getreten. Jetzt wäre mir die Unwissenheit lieber.“ Wer wie Bernard Réquichot ohne Illusionen die Tragfähigkeit aller künstlerischen Konzepte und die Tauglichkeit aller damit verbundenen Lebensformen untersucht, riskiert nun mal, im Bodenlosen zu landen.
Ein radikaler Künstler wie Réquichot ist auch der große literarische Extremist Rolf Dieter Brinkmann, der vor vierzig Jahren beim Überqueren einer Straße in London von einem Auto erfasst wurde und starb. „Ich hätte gern viele Gedichte so einfach geschrieben wie Songs“, hat er in der Vorbemerkung zu seinem phänomenalen Gedichtband „Westwärts 1 & 2“ notiert, der erst wenige Tage nach seinem Unfalltod im April 1975 erscheinen konnte. Aber an seine poetische Devise vermochte Brinkmann sich nicht zu halten. Seine zunächst einfachen, alltagsnahen Gedichte wurden immer zerrissener, fächerten sich auf in überbordende Langzeilen mit vielen weißen Stellen des Schweigens. Schließlich entstanden Materialbände, in denen Texte, Briefe, Notizen mit Fotos und Zeitungsausrissen in wilder Kombinatorik collagiert wurden. Brinkmann gelangen keine pop-affinen Songs mehr, er verwandelte sich in einen Graphomanen, der sich buchstäblich selbst in Stücke schrieb. Diesem wilden Künstler hat nun der Lyriker Dieter M. Gräf einen großen Aufsatz gewidmet, der im aktuellen Heft 215 der Zeitschrift „Sprache im technischen Zeitalter“ zu lesen ist. Gräf untersucht die Emphasen des „Jetzt“ bzw. des Hungers nach Gegenwart, die sich in Brinkmanns Texten so bewegend artikulieren – und er zeigt, wie sehr sich dieser verzweifelt in die Wörter hineinarbeitende Dichter nach Stille gesehnt hat, nach einer Poesie ohne Wörter. „Der Widerstand“, heißt es einmal bei Brinkmann, „beginnt mit der Fähigkeit zur Stille …. Dagegen ist Stille, der wortlose Zustand, … die Fähigkeit zu sehen, was tatsächlich geschieht.“
Ein zeitgenössischer Dichter, der diese poetische Kraft der Stille spürt und seine Gedichte damit auflädt, ist der im schweizerischen Biel lebende Levin Westermann. In einem Gespräch mit der Lyrikerin Martina Weber, veröffentlicht in der aktuellen Nummer 19 des Literaturmagazins „poet“, zitiert Westermann eine große Dichterkollegin, in deren Werk die Poetik des Schweigens eine entscheidende Rolle spielt. Es ist die mittlerweile 94jährige Ilse Aichinger, die einmal gesagt hat, das Schweigen gehöre für sie zum Wichtigsten auf der Welt, weil es nicht etwas Leeres, sondern etwas Erfülltes sei. Im Gespräch beruft sich Westermann auf den Satz Aichingers: „Ich bin für Langsamkeit, für Verschwiegenheit.“ Dieses Gespräch ist Bestandteil des „poet“-Dossiers „Literatur und Glaube“, in dem das Verhältnis von Poesie und Religion diskutiert wird.
Die geistvollsten, sprühendsten Gedanken zum Thema trägt die Dichterin und Religionswissenschaftlerin Karla Reimert vor, die in ihrem Leben schon viele religiöse Existenzformen ausprobiert hat. Den Islam beschreibt sie als eine „Religion des Ohres“, denn der Koran erschließe sich hauptsächlich über das laute Rezitieren der Verse, nicht über das exegetische Lesen wie etwa im Protestantismus. Im Lyrik-Teil des neuen „poet“ überzeugen am meisten die herrlichen Gedichte von Sylvia Geist, die in ihrem Text „Die Liebe in Zeiten des Aberglaubens“ den schillernden Begriff „Jihad“, also ein zentrales Element der islamischen Religion, in überraschende Kontexte rückt.
Ästhetisch instabiler präsentiert sich erwartungsgemäß die allerjüngste Dichtergeneration der nach 1980 geborenen Poesie-Novizen, die sich in der aktuellen Anthologie „Lyrik von Jetzt 3“ versammelt hat. Im „poet“ ist sie in einigen Textproben präsent. Blasse Alltagsprotokolle stehen hier neben ambitionierten Fortsetzungen der sprachmagischen Tradition, wie sie etwa der vornamenlose Österreicher Oravin für sich in Anspruch nimmt.
An den Ursprung des Poetischen, zum innersten Kern der Dichtkunst, führt uns schließlich das neue Heft, die Nummer 3/2015 der Literaturzeitschrift „Akzente“. Beim Neustart der „Akzente“ zu Beginn des Jahres musste man einige Befürchtungen hegen, ob die poetische Substanz der Zeitschrift durch das neue Themenheft-Konzept Schaden nehmen könnte. Nun hat der neue Herausgeber Jo Lendle im aktuellen „Akzente“-Heft von allen modischen Mätzchen Abstand genommen und sich mit Herta Müller zudem eine Mitherausgeberin an die Seite geholt, die dem Leser eine schöne Lektion in poetischer Sensibilität erteilt. Denn im Zentrum des Heftes stehen die Wörter, die bekanntlich unzuverlässige Zeitgenossen sind, unsichere Kantonisten, sinnflüchtige Wesen. „Es gibt Wörter“, so wird Oskar Pastior zitiert, „die machen mit mir, was sie wollen. Sie sind ganz anders als ich und denken anders, als sie sind. Sie fallen mir ein, damit ich denke, es gibt erste Dinge, die das Zweite schon wollen, auch wenn ich das gar nicht will.“ Die hier versammelten Expeditionen zu den Wörtern führen in ganz unterschiedliche Richtungen, zu durchweg interessanten vokabulären Kontinenten. Georges-Arthur Goldschmidt untersucht die Wörter des Exils, die erstickende Wucht von Vokabeln wie „Abschied“ und „Heimweh“. Herta Müller selbst durchquert prägende Wörter aus ihrer Kindheit, Wörter mit starker regionaler Färbung wie „Tscharegl“, „Pitanger“ und auch „Arschkappelmuster“, Wörter in denen Geschichte gespeichert ist, in denen Verheißungen wie Tragödien lauern. Zu den vielen schönen Überraschungen des Heftes gehören die Gedichte von Peter Nadas und Thomas Lehr, die man sonst nur als Prosaautoren kennt. Die empfindsamste Begegnung mit Wörtern findet in den luziden Prosaminiaturen des Landschaftsdichters Walle Sayer statt. Sie sind verwandt mit den poetischen Denkbildern der schon erwähnten Ilse Aichinger, in ihrer schönen Doppelbödigkeit. Nur manchmal gefallen sich die Pointen zu sehr in ihrem Funkeln. Einmal heißt es: „Druckreif schweigen können seit dem Rhetorikkurs.“ An einer anderen Stelle ermahnt sich der Verfasser, noch konsequenter die Absichten zu reduzieren: „Nichts, nur diese Tonfolge, dieser Auftakt.“
Zum Schluss noch ein Hinweis auf zwei lesenswerte Beiträge, die Fragen der Religion umkreisen. Der eine Beitrag steht im aktuellen Oktober-Heft der Kulturzeitschrift „ Merkur“. Burkhard Müller berichtet von seiner Pilgerfahrt zu einer auratischen Ikone des Katholizismus, dem berühmten Grabtuch Christi, das in Turin aufbewahrt wird. Zwar haben wis>senschaftliche Expertisen das Ergebnis erbracht, dass das Turiner Grabtuch erst nach dem Jahr 1300 entstanden sein kann, also auch nicht den toten Körper von Jesus Christus eingehüllt haben kann. Auch wenn es sich beim Grabtuch Christi also nicht um eine authentische Reliquie handelt, so verfügt es doch über eine unheimliche Eigenschaft. Auf der ersten Fotografie des Grabtuchs im Jahr 1898 machte das Negativ plötzlich das Antlitz eines Menschen sichtbar, das Antlitz Jesu Christi, wie es schien. Auch die Wissenschaft vermag diese flüchtige Erscheinung eines Antlitzes auf dem mittelalterlichen Textil nicht zu erklären. Und selbst wenn man als Skeptiker die Pilgerfahrt nach Turin antritt, so die Conclusio von Burkhard Müller, stellt sich hinterher die Frage nach der irdischen Präsenz des Göttlichen in noch größerer Dringlichkeit.
Der zweite Beitrag zur Frage der Religion steht in der aktuellen Oktober / November-Ausgabe des „ Philosophie Magazins“ und ist viel nüchterner. Er stammt von dem prominentesten Nihilisten und Häretiker der Gegenwart, Michel Houellebecq. In seinem Interview im „Philosophie Magazin“ teilt er wie üblich in alle Richtungen aus und zertrümmert alle Illusionen über die vermeintliche Freiheit des modernen Subjekts. Der Hauptfigur seines Romans „Unterwerfung“ habe er alles genommen, ihr blieben nur Einsamkeit und Hautkrankheiten. Alle tradierten Werte und Religionen haben für Houellebecq ihre Bindekraft und ihre positiven Energien verloren. Für seine Daseinsmüdigkeit findet er schließlich einen Satz, der zeigt, dass der Autor zumindest seinen Hochmut noch nicht abgestreift hat: „Nein. Gott will mich nicht, wissen Sie. Er hat mich zurückgewiesen.“
Schreibheft 85
Rigodon Verlag, Nieberdingstr. 18, 45147 Essen. 160 Seiten, 13 Euro
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 215
Redaktion: Am Sandwerder 5, 14109 Berlin. 130 Seiten, 14 Euro.
poet Nr. 19
Verlag poetenladen, Blumenstraße 25, 04155 Leipzig. 244 Seiten, 9,80 Euro.
Akzente, Heft 3 /2015
Carl Hanser Verlag, Vislhofener Straße 10, 81679 München; 96 Seiten, 9,60 Euro.
Merkur 7/8(2015)
Klett-Cotta Verlag. Redaktion: Mommsenstr. 127, 10629 Berlin, 102 u. 104 Seiten, 12 Euro.
Philosophie Magazin, No. 6/2015
Brunnenstr. 143, 10115 Berlin. 100 Seiten, 6,90 Euro
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Michael Braun
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