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Silke Scheuermann

Ein Gespräch mit Silke Scheuermann
über Poesie und bildende Kunst mit Michael Braun
Keinem fällt auf, dass die Seele fehlt

  Gespräch


Silke Scheuermann, geboren 1973 in Karlsruhe, lebt bei Frankfurt am Main. Für ihre Gedichte, Erzählungen und Romane (zulezt: Die Häuser der anderen, 2012 bei Schöffling & Co.) erhielt sie zahlreiche Stipendien und Preise, unter anderem das Stipendium der Villa Massimo in Rom (2009) sowie den Hölty-Preis für Lyrik der Landes­haupt­stadt und der Sparkasse Hannover (2014). Im Winter­semester 2012/13 hatte sie die Poetikdozentur in Wiesbaden inne. Zuletzt erschien der Gedichtband: Skizze vom Gras. (Schöffling & Co, Frankfurt am Main, 104 Seiten, 18,95 Euro).


Michael Braun: „Helenas Traum“ heißt ein Gemälde der süd­afri­kani­schen Künst­lerin Marlene Dumas aus dem Jahr 2008 – und „Helenas Traum“ heißt auch ein Kapitel in Ihrem Gedicht­buch „Skizze vom Gras“ (2014). Dieses bislang viel zu wenig beachtete Kapitel in Ihrem preis­gekrönten Gedicht­band enthält sieben Gedichte, die sich mit Kunst­werken beschäf­tigen, mit Gemälden und Instal­latio­nen. Wenn man noch den Umstand hin­zu­nimmt, dass die Prota­gonistin Ihres Romans „Die Häuser der anderen“ (2012) promo­vierte Kunst­his­tori­kerin ist, darf man mut­maßen, dass Sie eine große Affinität haben zur bil­denden Kunst. In einem Ge­spräch haben Sie ange­deutet, dass Sie sich selbst einüben in das Handwerk der Malerei.

 

Silke Scheuermann: Ja, es ist so: Sobald ich mit der Prosa nicht weiter­komme, ver­suche ich mich an Lyrik, be­arbeite ich ein liegen­geblie­benes Gedicht und umgekehrt. Und wenn es so gar nicht weitergeht, fange ich an zu zeichnen, schon seit jeher. Ich bin auch eingeschrieben als Gast­studentin an der Hoch­schule für Gestaltung (HFG) in Karlsruhe bei Professor Manfred Stumpf. Ich mach das schon ohne pro­fes­sio­nellen Anspruch, aber recht regel­mäßig. Die andere Sache ist eben, dass es eigent­lich schon von meinem ersten Roman an, „Die Stunde zwischen Hund und Wolf“, diese Bezug­nahme auf die bildende Kunst gibt. Das erste Kapitel, das ich schrieb, kreiste um einen Aus­stellungs­besuch der Ich-Erzählerin bei Francis Bacon. Da geht's um die Relation von Mensch-Tier-Ver­hältnissen, inwieweit ist das Tie­rische kon­trol­liert im Menschen. Und um diesen Aus­stellungs­be­such herum, um die Francis Bacon-Porträts herum habe ich den ganzen Roman geschrie­ben. So ging das weiter. „Shanghai Per­formance“ (20111) handelt von einer Ins­tal­lations­künstle­rin – Vanessa Beecroft ist hier das Vorbild gewesen und chine­sische Kunst. Und eben bei dem dritten Roman „Die Häuser der anderen“ ist eine Kunst­histori­kerin die Haupt­figur. Und dann sagt der Ver­leger, jetzt aber nichts mehr mit Kunst, Silke.

 

M. Braun: Zum Glück hat der Verleger aber zuge­lassen, dass dieses Kapitel „Hele­nas Traum“ im Gedicht­band zentral posi­tioniert ist. Sie haben mir en passant er­zählt, dass Sie auch als „Museums­schreibe­r­in“ über die Kunst­halle Biele­feld tätig waren, im Rahmen eines Projekts des Literatur­büros NRW. Und hier ist auch eine eigene kleine Publi­kation von Ihnen ent­standen, über „Das Leben des Lichts“. Und die Gedichte dieser kleinen Publik­ation finden wir alle auch in dem „Helenas Traum“-Kapitel in „Skizze vom Gras“. Wie ist es denn zu Ihrer „Beru­fung“ als „Mu­seums­schreibe­rin“ gekommen?

 

S. Scheuermann: Das war eine Anfrage, die ich sehr dankbar aufgenommen habe. Man wusste von meinem Interesse an bildender Kunst. Als Museums­schrei­be­rin hatte ich mich mit der Kunsthalle Biele­feld zu beschäftigen, schaute mir die Kunst­halle und ihre Exponate an, machte mir Notizen. Dann schaute ich mir die Kunstwerke ein zweites Mal an und dann habe ich mir Kunstwerke aus­gesucht, über die ich Gedichte geschrieben habe. Andere Museums­schreiber haben Geschichten geschrieben oder einen Essay. Ich hatte gar nicht vorge­habt, ein Gemälde­kapitel oder ein Kunst-Kapitel in „Skizze vom Gras“ aufzunehmen, zum Kapitel „Zweite Schöpfung“ passte es dann aber sehr gut. Als die Schöp­fung der Menschen, als Parallel-Aktion zur Natur­schöpfung, als das Geniale, was der Mensch hinbekommt.

 

M. Braun: Schöpfung ist ein gutes Stichwort. Ich möchte mich in diesem Gespräch in erster Linie mit zwei Gedichten aus dem Kapitel „Helenas Traum“ beschäftigen. Das eine Gedicht ist das titelgebende für das Kapitel, also „Helenas Traum“. Und das andere bezieht sich auf ein Gemälde eines russischen Malers, der lange Jahre in Ihrer Heimat­stadt Karls­ruhe gelebt hat. Hier geht es um Wladimir Lukiano­witsch Zabotin und sein Gemälde „Mädchen im Spiegel“. Vergleicht man die beiden Gedichte, so stellt man fest, dass es sich in beiden Fällen um eine Art weiblichen Selbstentwurf handelt. Zwei Selbst­por­träts. Zunächst zu „Helenas Traum“. Helena ist ja die schönste Frau des antiken Mythos, um diese Frau werden Kriege ausge­fochten ...

 

S. Scheuermann: ... und es ist auch die Tochter von Marlene Dumas, die sie mehrfach porträtiert hat. Dieses Bild ist wunderschön, weil sie praktisch das Kindergesicht vergeistigt zeigt, es ist schon das Alter vor­weg­ge­nommen. Kinder­porträts finde ich faszi­nierend, weil noch alles drinsteckt, jede Mög­lich­keit der Frauen­rolle, jeder Ent­wurf eines Lebens ist da noch drin. Es ist ein Gedicht über ein Rollen­spiel, über ein Mädchen, das doch sehr ab­geklärt ist und weiß, ich bin jetzt so verträumt, aber lass mich bitte so.

Helenas Traum
Marlene Dumas: Helena's Dream (2008)


Irgendwann muss Schluss sein,
aber vorerst träume ich noch.

Ich werde eine schön Frau sein,
die niemanden ansieht und
niemals gefällig sein will.

Trotz meines Herzens aus Stein
besänftige ich die Mutter,
befreie den Vater von
falschen Verbänden
und zeige ihm, was eine echte Wunde ist.

Im weichen Mund der Zeit
sitze ich,
kalt und hart ist mein Herz,
und nichts wirst du in mir
von der bekannten Welt finden.

Erst wenn ich kein Kind mehr bin,
werde ich ausgeträumt haben.

Meine Arbeit ist allzu einfach:
Ich klettere auf Masten, um den
Wanderern und Pendlern,
den Vögeln und Liebenden
meine Weisheiten einzuflüstern.

Alle täusche ich, die Allmächtige.
Ich flüstere Wahrheiten, die nur die
Empfänger verstehn.
Wie du mich verstehst,
wenn wir uns lieben.

Ich lächle dir zu, das ist meine Arbeit.
Und doch schau ich dir nicht in die Augen,
und wenn ich gehe, drehe ich mich nicht nach dir um.
Ich frage das Internet nicht, wer du bist,
umgekehrt verlange ich nichts,
auch wenn dir das zu wenig sein sollte.

Nichts, als dass ich wieder einschlafen darf,
von Blättern und Vögeln und anderen
flüchtigen Leben träumen.

Jene, die reisen, beneide ich nicht.
Ich beneide auch nicht die Denker,
die pausenlos ihre eigenen
Fragen umkreisen.

Ihre Ergebnisse sind vorläufig wie ihre Gesundheit.
Nein, ich beneide es nicht,
dieses ständige Reisen.

Still
bleibe ich hier im Schlaf.
Wie viele Stunden verstreichen,
seit ich hier bin,
wie viele Blätter, Vögel,
Länder, Regierungen fielen?
Wie viele Retter kehrten heim, wie viele Arbeiter –
Philosophen wie du, der an Heimat glaubt,
der nicht einschlafen will,
hier nicht, wo ich so tief schlafe.

Ich weiß, irgendwann muss Schluss sein.
Aber vorerst träume ich noch.
Lass mich,
bitte.


M. Braun: Das weibliche Ich, das da spricht, präsentiert sich als Träumerin und fordert das Recht ein, vernunftlos zu träumen. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass dieser weibliche Selbstentwurf auch als autobiografische Perspektive der Dichterin deutbar ist. Es scheint eine Gratwanderung zu sein zwischen Rollengedicht und autobiografischem Gedicht.

 

S. Scheuermann: Mir gefiel an dem Gesicht des Mädchens, dass es eine Ver­weige­rung darstellt. Man sieht natürlich nicht, dass es das Kind der Malerin Marlene Dumas ist, dass es überhaupt ein be­stimmtes Kind ist, es ist eine Maske eigentlich. Sie ist ein ganz poetischer Hinweis auf einen Traum­zustand sur­realis­tischer Art von Farbgebung, es ist eine matte Farbe, auch sehr schön, dieses Bild – wobei nicht alle Bilder von Marlene Dumas so schön sind. Und sie hat eben die Augen gerade eben geschlossen, was für Porträts auch sehr inte­res­sant ist, weil in der Regel ist es ja genau dieser Blick – bei Rem­brandt oder so, der einem zeigt: Ich bin noch da, ich über­springe die Zeiten, und ich tue so, als wär ich nicht 1700 und noch was gemalt worden, sondern gerade eben jetzt gegen­über, so leben­dig ist das. Und hier ist das eben nicht der Fall. Hier denkt man, sie springt durch die Zeiten, man weiß nicht genau, wo sie ist, es sind verwischte Farben. Und das fand ich einfach sehr poetisch, diesen Zugang auch, diese Art von Malerei. Das hat mir gefallen. Eine Problematik, die alle modernen Frauen haben. Man hat alle Möglichkeiten, meine Generation, wun­derbar, wunderbar, aber fest­legen ist mit der Zeit immer schwie­riger. Denn dann fallen sie weg, Sylvia Plath sagte, wie reife Früchte vom Baum.

 

M. Braun: Marlene Dumas´ Bild zeigt ein Mädchen mit geschlos­senen Augen, ein Mädchen, das träumt. Schauen wir nun in dieses Gedicht, Silke Scheuermann, und auf die Sprecherin im Gedicht. Interes­sant ist hier doch auch das Verhältnis zwischen dem Ich und dem Du im Gedicht. Am Ende des Gedichts wird zum Beispiel das Du direkt angesprochen, wird als „Philosoph“ apos­trophiert: „Philo­sophen wie Du, der an Heimat glaubt.“ Was ist das für ein Du?

 

S. Scheuermann: Diese Gemäldegedichte sind immer auch Liebesgedichte. Es ist ein Du, das sich festlegt, und das Prinzipien hat und einen Lebensmittelpunkt wahrscheinlich, ein Frauenbild. Und sagt: Jetzt mach die Augen auf und lebe. Ja, stell dich der Realität und werd erwachsen. Insofern habe ich es ein Ver­weige­rungs­gedicht genannt. Das sind aber so psycho­logische Dinge, die ich beim Schreiben nicht mitbedenke.

 

M. Braun: Vielleicht gibt es in „Helenas Traum“ ähnliche Gesten wie in dem zweiten Gedicht, über das ich sprechen möchte. In „Helenas Traum“ heißt es: „Ich werde eine schöne Frau sein, die niemanden ansieht und niemals gefällig sein will.“ Da ist schon eine Verwei­ge­rung enthalten. Auch im Gedicht „Das Mädchen, das in den Spiegel sieht“ ist diese Per­spektive da, aber es drängt sich eine Bedro­hung in den Vorder­grund. Das Ich, das da spricht, sagt: Ich war vom Ver­schwin­den bedroht. Bei diesem Helena-Gedicht weiß man nicht, ob nicht da auch schon eine Bedro­hung wirksam ist ...

 

S. Scheuermann: Helena ist ja noch viel jünger, das andere Mädchen ist vielleicht zehn, zwölf, kurz vor der Adoleszenz, und hat auch andere Probleme. Und es hat ein Schuldbewusstsein vor allem. Das würde ich eher als Bestrafungsgedicht lesen. Auch im Gefühl: Man ist zurecht bestraft. Bei Zabotin bin ich in der Rolle eines Betrachters, eines Spiegels, auf einer Frisierkommode und schau da rein, der Kopf scheint wie abgeschnitten. Das ist absolut geheimnisvoll und unheimlich auch. Das Mädchen ist stolz und sieht eigentlich unsympathisch aus. Wie ein Geist, der was falsch gemacht hat.

 

M. Braun: Bleiben wir mal bei diesem Bild des Malers Wladimir Lukianowitsch von Zabotin. Ein russischer Maler, der mir bis zur Begegnung mit Ihrem Gedicht „Das Mädchen, das in den Spiegel sieht“ völlig unbekannt war. Ein Maler, der viele Jahre seines Lebens im Exil und in Ihrer Heimatstadt Karlsruhe verbracht hat. Anlässlich eines Projekts der Kunsthalle Karlsruhe sind Sie dem Bild „Mädchen im Spiegel“ begegnet ...

 

S. Scheuermann: Es fing damit an, dass Schriftstellern die Porträts, die die Kunsthalle in ihren Kellern und in der Ausstellung hatte, geschickt wurden. Man durfte sich eines aussuchen. Und mir fiel sofort dieses Bild auf – ich kannte Zabotin übrigens auch nicht, er ist auch nicht sehr bekannt, hat auch ein sehr heterogenes Werk. Über dieses Bild weiß man auch nichts Genaues, es hat eine sehr lange Entstehungszeit, von 1922 bis 1927. Und Carl Zuckmayer hat den Zabotin mal besucht und sich lustig gemacht über die Bilder, die man nur mit viel Wodka ertragen kann. Man findet nicht viel über den Maler. Er hat einer Künstler­gruppe angehört. Dieses eine Bild ist sehr geheimnisvoll und hat eben so viel in mir aufgerufen, dass ich eine längere Geschichte über das Mädchen geschrieben habe.

 

M. Braun: Wir können das Bild hier nur textuell vermitteln. Man sieht eine Art Spiegelkommode, aus den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts. Der Spiegel ist an Metallstreben befestigt. Auf der Kommode ein geheimnisvolles Kästchen und Handschuhe. Und im Spiegel sieht man das Gesicht eines stolzen, hoch­mütigen Mädchens, das sehr egomanisch in den Spiegel schaut. man sieht keinen Körper. Ihr Gedicht scheint das unheimliche Porträt dieses Mädchens zu sein, aber es ist auch mehr als nur das Porträt eines Mädchens.

 

S. Scheuermann: Es ist wirklich absolut rätselhaft, dieses Porträt. Es hat mich erinnert an ›Alice im Wunderland‹, ›Alice in den Spiegeln‹, aber das Mädchen ist wirklich nicht lieblich dargestellt, es ist ein grausames Mädchen, ein Mädchen, ras etwas falsch gemacht hat, und jetzt bestraft worden ist. Und es geht auch um das Fehlende. Das Mädchen, das in den Spiegel schaut, hat keinen Körper. Es geht eigentlich auch um den Mangel. Hier hat mich wieder die Zeit sehr interessiert. Gut, es ist eine Frisier­kommode aus den 20er Jahren, könnte aber genauso gut eine antikes Stück von heute sein. Das Mädchen hat auch keine sehr zeit­genös­sische Frisur, sondern so eine Art Pagenkopf, aschblond ist das wohl, und schaut sich mit diesen riesigen Augen an. Auch sie scheint mir durch die Zeit zu spuken.
  Und das ist es, was mich an Gedichten interessiert: Die Zusammen­fassung von Zeit, und die Möglichkeit, durch in einer Strophe über mehrere Zeiten, Wochen zu fließen, ohne ganz rational zu sein. Das ist auch so eine Parallele zu dieser Art von Bildern, die ich so mag: zu sur­realis­tischen Bildern. Und das Gedicht ist nicht einer konstanten Erzählung verhaftet, sondern zeigt Bilder, die zusammen­passen und die simultan stattfinden können und formiert so eine rätselhafte Erzählung. Und da sehe ich gerade in dem Bild ganz viel Ähnlichkeiten mit der Lyrik, wie ich sie machen möchte.

Silke Scheuermann: Das Mädchen, das in den Spiegel sieht
Wladimir Lukianowitsch von Zabotin:
Mädchen im Spiegel (um 1922/1927)

Als Kind schaute ich
mit der Wachsamkeit eines Geschöpfes in den Spiegel,
das ständig vom Verschwinden bedroht ist. Verschwinden
wohin? Eine andere Welt konnte ich mir
fabelhaft vorstellen.

Eine, die sich kurz zeigt und dich dann sofort aus der hiesigen
wegzieht. Ich erwartete nichts, ich erwartete alles. Diese
Unklarheit war gar nicht schlecht. Es war nicht wie später,
als ich ständig telefonierte, nur um sicherzugehen,
dass es sie noch gab, meine Freunde.
Dass sie drangingen, wenn ich es war.

Die andere Welt war heute so, morgen so, machte mir gar nichts.
Es gab dort Dinge, die jeden Tag geschahen. Interessant
war, dass manchmal plötzlich etwas fehlte –
aber so, wie eine Sorge fehlt,
man merkt es selten,
eigentlich nur, wenn man darauf gestoßen wird.

Nun ja, was fehlt an einem Krieg ohne Waffen und Tote
und Blutbad, Folter nur mit Worten, mit Reimen ohne Sinn.
Was fehlt, wenn niemand stirbt, die ständige Forderung
nach der Unsterblichkeit nie gestellt werden muss.
In seiner wichtigtuerischen Beständigkeit
stäubt etwas Schnee über eisgraue Straßen,
und keinem fällt auf, dass der Sommer fehlt.

Einsame Köter schleichen vorbei, ohne Begeisterung, ohne Namen,
die Straßen auch namenlos, Häuser ohne Nummern. Versuch
hier mal einen Freundesbesuch, keine Chance.

Zum Glück hat jeder in dieser Welt einen Feuerball als Seele,
begabtes Licht, an der besten Quelle untergebracht: tief
in dir, und keinem fällt auf, dass die Seele fehlt.
Sie sagten auch von mir, was alles fehlte auf einmal,
es muss also da gewesen sein, früher. Doch
ich hatte aufgehört, die Seele zu kennen.

Was dann geschah? Nun, ich vergaß,
dich zu lieben, obwohl du es
weiterhin tatest, schonungslos
schön, gefährlich, eine Liebe,
von der ich zurückfiel mit langsamer
Stetigkeit, einer
Geschwindigkeit, die mir Angst machte,
dem Gegentempo zu deiner,
der Versuch, dich zu drosseln.

Es passte nicht. Du sahst vor dir auch diese Vision von mir,
doch das hochmütige Kind liebte nur sich selbst.
Vielleicht hatte ich den Punkt übersehn,
als Wegschaun noch möglich war.
Immerzu blickte ich weiter in Spiegel.
Es war etwas Sexuelles, natürlich,
das war es in den meisten Welten.

Aber genug davon. Als Montag
vorbei war, kam Freitag und dann
wurden die Karten ganz neu gemischt.
Es gab wieder einen Spiegel, vor dem ich mich hochmütig
aufbaute, und wieder wartete ich
auf meine Entführung,
bösartig, naiv,
engelsgleich, voller Erwartung.

Verschwinden bedeutete keineswegs: fort sein von etwas, sondern:
bei etwas Neuem, Besserem.
Und ich wurde bestraft, obwohl ich vergessen
hatte, dass es die Strafe gab.

Ich verdiene sie,
verdiene, dass man mir meinen Körper wegnahm,
dass ich ewig gezwungen bin, meine eigenen
eitlen Augen im Spiegel zu sehn,
auch wenn ich längst nicht mehr vor ihm stehe.

Ein Mädchen ohne Körper, das sich in die Augen sieht.

 

M. Braun: Das ist doch eine erschütternde Diagnose, die sich das Ich hier selber stellt. „Ich verdiene, dass man mir meinen Körper wegnahm.“ Das Ich erklärt ge­wis­sermaßen sein Ein­ver­ständnis mit der Bestra­fung, mit dem eigenen Ver­schwinden ...

 

S. Scheuermann: Ja, das ist eben der Gegensatz zu dem Helena-Kind. Ein quasi fast schon adoleszentes Mädchen, das langsam begreift, dass es in dem Versuch, auf dem narzisstischen Ich zu beharren und immer wieder etwas Neues zu versuchen, auch verletzt. Es gibt diese ange­deutete Liebes­geschich­te, wo einfach gesagt wird: Du hast das Bild von mir, aber ich bleibe, wie ich bin, ich entwickle mich auch nicht weiter. Und das ist so ein Dorian Gray-Abbild als Kind, als sich ver­weigern­des Mädchen. Es sollte einfach eine rätsel­hafte kleine Erzählung sein, die mir zu dem Bild einfiel. Aus der Ich-Per­spektive. Ich habe dann in einer Kritik gelesen, dass es ein Selbst­porträt wäre, und ich war dann extrem ver­unsichert. Und stark erschüttert. Denn das Mädchen ist wirk­lich nicht sympathisch. Anderer­seits – warum nicht? Wenn Empathie so weit rüber­kommt im Gedicht, dass man sagt: Okay, hier ein Selbst­porträt als Höhlen­löwe, da ein Selbst­porträt als Kind, das in den Spiegel sieht. So arbeiten natürlich Gedichte. Es sind Dialoge mit dem Zuschauer, und die Hoffnung ist natürlich, dass man sich auch ein­fühlen kann als Leser in das Mädchen.

 

M. Braun: Ich habe das Gedicht auch als poetische Confessio gelesen. Es geht doch in Dichtung darum, etwas aufzuzeichnen, damit man existenziell nicht verschwindet.

 

S. Scheuermann: Das sind eben auch die Kontraste. Das eine hat das andere zur Wirkung. Und ich hab in jedem Absatz die Möglichkeit, in einer anderen Stadt zu verschwinden, die Häuser haben keine Namen. Es ist geheimnisvoll hier. Und dort ist parallel eine Liebes­geschichte und ich altere weiter. Also das Simul­taneität, die Bilder haben, die hat das Gedicht eben auch. Die Farbgebung – das ist Schnee, der alle Farben wegwischt. Und etwas Vages herbeizaubert. Und die Adjektive sollten sich eben wide­rsprechen, wie eben das Schöne an diesem Kindergesicht wider­spricht mit diesem hässlichen Blick. Bösartig, naiv, engelsgleich, und voller Erwartung. ... Es steckt in dem Bild viel, was ich in Gedichten in­teres­sant finde.

 

M. Braun: Das Gedicht schreitet fort in einer Reihe von Verlustanzeigen. Zuerst fehlt der Sommer und schließlich fehlt sogar die Seele. Aber wenn die Seele fehlt, wo kann dann noch die Liebe sein?

 

S. Scheuermann: Das ist auch eine Chance. Man kann einfach so weiterleben, ohne viel Schmerzen zu empfin­den. Und das andere ist, wenn man beim Erwach­sen­werden, im Leben, plötzlich auf einen Verlust gestoßen wird. Man merkt das am eigenen Körper, an schwierigen Außenbeziehungen. Das sah ich alles in diesem Kind dann.

 

M. Braun: In einem Gedicht einer Dichterin, das sich auf den Blick eines Mädchens in den Spiegel bezieht, ist doch sicher auch die Autor­person selber enthalten, ganz gleich, in welcher Weise die Figur, in diesem Fall das Mädchen, dar­gestellt wird ...

 

S. Scheuermann: Es geht auch in meinen Romanen, z.B. in der „Stunde zwischen Hund und Wolf“, ums Schuldig­werden an sich selbst und an anderen. Und jede Wahl bein­haltet auch die Weg-Wahl von drei, vier anderen Sachen. Und dieser Verlust ist genauso groß wie das Glück der Wahl. Darüber schreibe ich auch. Und das Schöne an Gedichten ist, dass man immer die Per­spek­tive wechseln kann. Ich bin einmal die zufriedene Vase und dann morgen ein toter Löwe. Und das Ganze kann trotzdem schön sein, durch die Zeiten hinweg und die Bilder. Das ist dann die Essenz.

 

M. Braun: Man kann im Gedicht die Masken wechseln. Was Sie eben sagten: Ich bin dann morgen ein toter Löwe – das führt uns nun auf die lyri­schen Schöpfungs­ge­schichten in der „Skizze vom Gras“. In welchem Ver­hältnis steht hier das Kapitel „Helenas Traum“ zur „Zweiten Schöpfung“?

 

S. Scheuermann: ›Zweite Schöpfung‹ ist ein Kapitel mit naturgeschichtlichen Gedichten, wobei ›Zweite Schöpfung‹ auch die Bilder meinte im nächsten Kapitel. Kunst ist ja die zweite Schöp­fung. Und entstanden ist das Buch in einem Zeitraum von sieben Jahren. Erst am Schluss, als ich diese Gedichte über ausgestorbene Tiere geschrie­ben habe, habe ich bemerkt, dass es um Werden und Vergehen geht. – Und der Impuls für die Gedichte über ausge­storbene Tiere? Es war ein Besuch in einer Höhle in der Fränkischen Schweiz, wo ein Höhlenlöwe ausgestellt war. Und das fiel zusammen mit dem Gefühl: Hier leben wir und das ist tausend Jahre alt. Und gleich­zeitig hat man das Gefühl als Dichter, das wiederholen zu wollen und selbst was zu schaffen, was dann bleibt. Und diese Erfahrung in eben dieser Höhle, diese Erfahrung von Trans­zendenz, die hab ich eben, wenn ich vor Kunstwerken stehe, genau so, wenn nicht noch mehr. Das ist eine Art von Überwältigtsein, von Gefallen, und von der Ordnung von Welt, zu der mir dann ganz viel ein­fällt.

 

M. Braun: Sie sagten zu Beginn, dass Sie zeichnen, wenn es mit dem Schreiben nicht so vorangeht. Und so heißt der Titel des Bandes wohl nicht zufällig „Skizze vom Gras“. Wie ist es denn zu diesem Titel gekommen?

 

S. Scheuermann: ›Skizze‹ heißt eben, dass man sehr viele Versuche macht muss, bis man diese ein­treffende Skizze vom Geschehen bekommt. – Das ist ja nichts Neues. Sylvia Plath hat eben erstmal die Gewächs­häuser gezeichnet, wenn ihr nichts einfiel. Bukowski hat versucht, Kunst zu studieren ... Er hat dann für die Black Sparrow Press eine Methode er­sonnen, um die Auflage zu steigern, indem er quasi Aquarelle beilegte. Und die ent­standen, indem er die Bilder malte , bunt und wild, und in der Bade­wanne darüber­pinkelte erstmal. Und das ging aber ganz gut dann. Und Marquez hat Comics gezeichnet, und heute zeichnet auch Jonathan Lethem und Feridun Zaimoglu. Das Visuelle ist für die Dichter etwas ganz Wichtiges.

 

M. Braun: Wie sieht es aus mit der berühmten These von Horaz: „Ut pictura poiesis“ – Dichtung soll sein wie eine Gemälde, Dichtung soll sein wie Malerei. Können Sie sich diesem Enthu­siasmus von Horaz anschließen oder sehen Sie eher die Diffe­renzen zwischen den Kunst­gattungen?

 

S. Scheuermann: Nehmen wir einen Schriftsteller wie Hermann Hesse, der nach einer Schreibkrise immer aquarelliert. Und seine Hoffnung war: Ich bekomme einen unmittelbareren Zugang zu meinen inneren Bildern und muss mich nicht auf dieses abstrakte sprachliche Zeichensystem ver­lassen. Es wirkt, als wäre man näher an sich dran. Und die Zeit, in der man auf ein Gemälde reagiert, ist kürzer. Man hat einen schnelleren Eindruck. Jedes Gedicht, das noch so kurz ist, dauert länger, bis man es gelesen hat. Insofern ist das ein Manko. Ich denke, dass das Bild da immer vorneweg ist. Gleichwohl ist das Gedicht von allen Literatur­gattungen am nächsten dran an der Bildenden Kunst. Und das ist es auch, was es fasz­inierend macht. Ich denke, Gedichte sind weitaus halt­barer als Romane, über die Jahr­hunderte hinweg. Wenn man Milton „Über das Licht“ liest, ist das genauso gegen­wärtig, wie wenn aktuell warnend über Lichtverschmutzung spekuliert wird. Und Sen­tenzen aus Gedichten sind so haltbar wie die besten Gemälde. Ich sehe eben mehr die Ähnlich­kei­ten zwischen den Gattungen.

 

 
Michael Braun
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