Oktober 2005
Zeitschriftenlese – Oktober 2005
von Michael Braun | Saarländischer Rundfunk
Der Schriftsteller Matthias Politycki ist ein Meister in der Inszenierung literarischer Kampagnen. Seit über einem Jahrzehnt perfektioniert er die Kunst, ein paar Stichworte in die gelangweilte Menge zu werfen und seine von Überdruss geplagten Kollegen umgehend zu einer Debatte anzustacheln. Das Erscheinen seines spektakulären „Weiberromans“ im Jahr 1997 flankierte er mit großem Marktgeschrei um die Generation der sogenannten „78er“, die es bis dahin in der Ökonomie der Aufmerksamkeit noch nicht weit gebracht hatte. Vor vier Jahren dann lockte Politycki drei Dutzend Literaturkundige der mittleren Generation auf Schloss Elmau, um über den Zustand der Gegenwartsliteratur zu diskutieren. Seither gilt das Elmauer Treffen als das Mekka des aktuellen Literaturdiskurses, an dem teilzunehmen als Ausweis von Wichtigkeit gilt und die Position jedes Teilnehmers im Literatur-Ranking festigt. Natürlich präsentiert der große Zampano sein großes Elmauer Gelausche als selbstlosen Akt der Diskursstimulierung. Polityckis jüngster Marketing-Coup in eigener Sache wurde auf dem diesjährigen Frühjahrstreffen in Elmau lanciert und auf den Namen „Relevanter Realismus“ getauft. Gemeinsam mit seinen Kollegen Thomas Hettche, Martin Dean und Michael Schindhelm ließ Politycki ein „Positionspapier“ zirkulieren, das rhetorisch ziemlich breitbeinig daherkam und einen kunstvollen, jeder Naivität abholden Realismus zur „ästhetisch-moralischen Verantwortung“ des Schriftstellers erhob. Am Vorabend des Klagenfurter Literaturwettbewerbs erschien das Papier der Elmauer Viererbande als „Manifest für einen Relevanten Realismus“ in der Wochenzeitung „Die Zeit“ – und schlug die erwünschten Wellen.
Auch in der Literaturzeitung „Volltext“, dem derzeit erfolgreichsten, weil intellektuell beweglichsten Literaturblatt unserer Tage, sind sofort die Diskutanten angetreten, um den „Relevantem Realismus“ auf seine Tauglichkeit zu prüfen. Leider wird dabei nicht die Frage gestellt, ob denn die begriffliche Zuckerbäckerei vom „Relevantem Realismus“ mehr ist als nur eitle Selbstbewerbung von vier Autoren. Aber Gunther Nickel fragt in der August-Ausgabe von „Volltext“ immerhin nach den weltanschaulichen Grundlagen der abenteuerlichen Postulate Polityckis. Was hier zu Tage tritt, wirft in seinem dröhnenden Pathos ein interessantes Licht auf die Geistesverfassung der gerade eben noch jung sich wähnenden fünfzigjährigen Schriftsteller. Was will also der „Relevante Realismus“ im Sinne Polityckis? Ein neues politisches Bewusstsein, ein „runderneuertes Wertesystem“ im Sinne eines entschiedenen „Wertkonservativismus“, „eine runderneuerte Moral“, ein „vollkommen neuer Glaube“; und nicht zuletzt, im Hinblick auf die angeblich „erbärmliche Erscheinungsform“ unseres demokratischen Systems: Die „Herrschaft der Besten“ und die „Re-Implantation unseres alten (europäischen) Kulturbegriffs in der gesellschaftlichen Mitte“. Das ist also das weltanschauliche Überraschungsei, das uns die neuen Realisten anbieten: Die ewigen Linksliberalen müssen wieder wertkonservativ werden, um an die tabuisierten Fragen der Gegenwart heranzukommen. Dazu bedient man sich des Begriffs der „Mitte“, der ein bisschen ranzig geworden zu sein scheint, seit ihn der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr vor einem halben Jahrhundert als Kampfbegriff gegen die angebliche „Untermenschlichkeit“ des Surrealismus einsetzte. Und schließlich, die „Herrschaft der Besten“: Das klingt heftig nach einer elitären Aristokratie des Geistes. Da haben wir also in Matthias Politycki nach drei Jahrzehnten liberaler Aufklärung wieder einen konservativen Verteidiger des Abendlandes, der den weißen Mann mit den alten Werten Religion und Elite gegen den Ansturm der vor-zivilisatorischen Völker aufrüsten möchte.
Dieser Stolz der neuen Konservativen hat in der aktuellen Oktober-Ausgabe von „Volltext“ einigen Protest hervorgerufen. Der Schriftsteller Robert Habeck, im Nebenberuf Funktionär der Grünen, vernimmt in Polityckis Realismus-Modell die Rhetorik der CDU. Was Habeck dagegen aufzubieten hat, sind leider nur hilflose Beschwörungen einer drohenden „konservativen Revolution“. An einer ästhetisch substanziellen Antwort auf Polityckis Thesen versuchen sich dagegen in dieser aktuellen „Volltext“-Ausgabe die Schriftsteller Norbert Niemann und Arno Geiger. Hier wird ganz emphatisch Balzac zitiert: „Kehren wir zur Wirklichkeit zurück.“ Und im Zuge dieser neuen Wirklichkeits-Aneignung, so glauben Niemann und Geiger, werden die alten Erzähl-Tugenden des 19. Jahrhunderts, zum Beispiel der allwissende Erzähler, wieder an Bedeutung gewinnen, während die Mittel der Avantgarde im Konformismus erstarrt sind. Bei dieser allseitigen Sehnsucht nach Realismus verwundert dann ein wenig, dass im zweiten Teil von „Volltext“ einigermaßen rührselig die alten Mythen der Beat-Literatur reaktiviert werden. Hier findet man ausführliche Interviews mit Jürgen Ploog, der grauen Eminenz des deutschen literarischen Underground, und mit Wolf Wondratschek, der immer eine Anekdote zum eigenen begnadeten Außenseitertum zu bieten hat. Diesmal erzählt Wondratschek von den Entstehungsbedingungen seines legendären Gedichtbandes „Chuck's Zimmer“, der nicht nur „unter viel Haschischschwaden“ entstanden sei, sondern auch unter Anwendung der sogenannten Cut-Up-Methode, ein Verfahren, das die deutschen Beat-Epigonen von dem amerikanischen Autor William Seward Burroughs adoptiert haben. Bemerkenswert in „Volltext“ ist auch noch ein von Hellmut Krausser verfasstes Porträt des Schriftstellers Jörg Fauser, der in den Siebziger Jahren als Protagonist eines authentischen Vorstadt-Realismus galt und noch mit seinem spektakulären Unfalltod auf der Autobahn im Juli 1987 für die Fortsetzung der eigenen Legende sorgte.
Wer sich vom großen Comeback der Realisten und Realismen nicht narkotisieren lassen will, sei auf das aktuelle Sonderheft der Zeitschrift „Merkur“ verwiesen. Hier untersucht man aus philosophischer, politischer und ästhetischer Perspektive die möglichen Wege in die „Wirklichkeit“ und überprüft auch die Realismus-Postulate der vergangenen Jahrzehnte. Der Literaturwissenschaftler Ingo Meyer unternimmt einen launigen Streifzug durch die Romanpoetiken aus jüngster Zeit und betont die Leistungen des realistischen Erzählens, die er bei Autoren wie Rainald Goetz, Bodo Kirchhoff, Thomas Meinecke und selbst Uwe Timm manifestiert sieht. Meyer erinnert an die rührende Definition des großen Literaturhistorikers Erich Auerbach, der Realismus wie folgt beschrieb: als „ernste Darstellung der zeitgenössischen alltäglichen gesellschaftlichen Wirklichkeit auf dem Grunde der ständigen geschichtlichen Bewegung“. Weitaus lakonischer hat Albert Camus die Ausgangslage für den realistischen Roman beschrieben. Sehr knapp heißt es hier über den modernen Menschen: „Er hurte und las Zeitungen.“
Weitaus differenzierter als sein Kollege Matthias Politycki hat der Schriftsteller Norbert Gstrein über die erzählerische Fassbarkeit und Unfassbarkeit der Wirklichkeit nachgedacht. Nachlesen lässt sich das in einem faszinierenden Interview, das Axel Helbig für die neue Ausgabe, der Nr. 39 der Dresdner Literaturzeitschrift „Ostragehege“ mit Gstrein geführt hat. Hier wird deutlich, in welcher Weise sich dieser Autor erzählerisch diszipliniert hat, um die „Risse zwischen Wirklichkeit und Fiktion sichtbar zu machen“ und den naiven Glauben an die Abbildbarkeit der Wirklichkeit zu überwinden. Norbert Gstrein hat ja sein Erwachsenenleben mit einer Obsession für die Mathematik begonnen, und hat sich als diplomierter Mathematiker auch mit der Wahrheit von Sätzen beschäftigt. In seinem 1989 publizierten Prosadebüt „Einer“ wählte er dann eine Erzählform, in der nichts behauptet wird, sondern jeder Satz unter dem Vorbehalt der Mutmaßung steht. In seinen bekanntesten Werken, den Romanen „Die englischen Jahre“ und „Das Handwerk des Tötens“, hat Gstrein dann nach Erzählhaltungen gesucht, die aus einer kalten Distanz heraus die Schreckensereignisse von Krieg und Verfolgung thematisieren und dabei jede autoritäre Wahrheitsbehauptung skeptisch unterminieren. Der heftig diskutierte Roman „Das Handwerk des Tötens“ rückt zum Beispiel nicht so sehr die mörderischen Ereignisse der jugoslawischen Kriege in den Vordergrund als vielmehr den medialen Blick auf dieses Geschehen. Thema des Romans, so bilanziert Gstrein, sei „der obszöne Blick“ auf den Schrecken. Neben diesem ausführlichen Gespräch mit Norbert Gstrein bietet das neue „Ostragehege“-Heft noch eine Fülle von lesenswerten Beiträgen: wunderbare Gedichte der slowakischen Dichterin Mila Haugova und des Ungarn Marton Kalasz – und ein schönes Porträt der Dichterin Monika Rinck, der zweifellos klügsten Dichterin aus dem Umfeld der jungen deutschen Lyrikszene. Brigitte Oleschinski entwirft die rhythmisch und melodisch präzise austarierten Denkbögen der Gedichte von Monika Rinck, die Autorin selbst liefert einen intellektuell flirrenden Essay über die Affinität zwischen Poesie und Scham.
Bleibt gerade noch Zeit für einen Hinweis auf das druckfrische Heft der Literaturzeitschrift „die horen“, das sich eine ungewöhnliche literarische „Betriebsbesichtigung“ vorgenommen hat. In diesem Jubiläumsjahrgang der Zeitschrift – „die horen“ werden 50 Jahre alt – ist es nach dem großartigen Dossier über das literarische Übersetzen bereits das zweite formidable Heft, das der Herausgeber Johann P. Tammen in diesem Jahr auf den Markt bringt. Für die Auswahl zeichneten diesmal Jürgen Krätzer und Uwe Kolbe verantwortlich. Sie haben Schriftstellerkollegen um Einblicke gebeten in ihre neuesten unveröffentlichten Projekte, Romanentwürfe und Gedichtmanuskripte. Heraus gekommen ist dabei eine spannende Anthologie mit Werkproben von insgesamt 45 Autoren, in der es etliche schöne Überraschungen zu bestaunen gibt. Zu diesen Überraschungen zählen auch Gedichte des aktuellen Leonce-und-Lena-Preisträgers Ron Winkler, von dem Uwe Kolbe noch neulich behauptete, er habe „mit der Wirklichkeit nichts am Hut“. Ron Winkler legt hier Gedichte vor, die sich in einer kühlen, mitunter ironischen Aktualisierung der Gattung Naturgedicht versuchen. Die Natur bleibt dabei immer auf ironischer Halbdistanz. Was zu beweisen wäre mit folgendem Gedicht:
Anschauung to go
Wald ist eine schöne Form von Agglutinierung.
die Bäume zum Beispiel verästeln sich in der Regel
perfekt und wirken trotzdem natürlich.
manchmal bewegt sich etwas zwischen den Zweigen.
es könnte ein Ding sein oder auch eine Art
idyllische Information, ein geflügelter Ort
mit dem Potenzial, weitgehend richtig zu sein.
ich kann dir das gern mal brennen.
VOLLTEXT, Ausgabe 20 und 21 (2005)
Gumpendorfer Straße 69, A-1060 Wien
Je 32 Seiten, je 2,50 Euro.
MERKUR, Nr. 677/678 (2005)
Wirklichkeit! Wege in die Realität
Mommsenstraße 27, 10629 Berlin
280 Seiten, 19 Euro
Ostragehege, Nr. 39 (2005)
c/o Axel Helbig
Birkenstraße 16, 01328 Dresden
70 Seiten, 4,90 Euro
DIE HOREN, Nr 219 (2005)
ANDRUCK – Eine Betriebsbesichtigung
Wurster Str. 380, 27580 Bremerhaven
220 Seiten, 10,50 Euro
Michael Braun 16.02.2007
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