Oktober 2009
„Man muss den Mut haben zu einer totalen Kritik“: Diesem Lebensmotto hat der italienische Dichter, Filmemacher, polemische Freigeist und militante Intellektuelle Pier Paolo Pasolini alle Ehre gemacht. Als intellektueller Freibeuter war er stets darauf bedacht, alle machttragenden Ideologien zu sabotieren, auch wenn er teilweise mit ihnen sympathisierte. Für die katholische wie für die kommunistische Orthodoxie war sein Bekenntnis zur Homosexualität gleichermaßen unerträglich. Dabei hätte ihm zumindest die katholische Kirche dankbar sein müssen für die emphatische Darstellung von Jesus Christus im Film „Das 1. Evangelium nach Matthäus“. Die Marxisten seiner Zeit, deren rebellischen Impulse er gerne für sich reklamierte, hat er systematisch brüskiert durch seinen leidenschaftlichen Subjektivismus. Sein Engagement für das subproletarische Milieu der italienischen Vorstädte, für die Lebenswelt der kleinen Diebe, Strichjungen und Mörder war eine Provokation für alle politischen Eliten und Denkschulen.
In den frühen achtziger Jahren war der 1922 in Bologna geborene und im November 1975 in Ostia ermordete Freidenker auch in Deutschland eine Kultfigur der undogmatischen linken Intelligenz. Danach verblasste sein Bild, weil ein Intellektueller von so extremer innerer Widersprüchlichkeit viel zu sperrig erschien als Identifikationsfigur. Tatsächlich hat Pasolini immer wieder erfolgreich die Grenzüberschreitung zwischen den Gattungen und Genres praktiziert: Seine Gedichte suchten die „Drehbuchform“ ober präsentierten sich als Glossen zu einem real rexistierenden Film. Seinen Realismus durfte er völlig zurecht als „Liebesakt“ preisen. Dabei tut sich ein denkbar großer ästhetischer Abgrund auf zwischen dem Filmemacher Pasolini, der textgetreu und puristisch das Matthäus-Evangelium abfilmte und Jesus dabei als Mentor der Armen und Entrechteten inszenierte, und den ekelhaften Perversionen seines letzten Films „Die 120 Tage von Sodom“, in denen der Untergang des faschistischen Imperiums als bestialischer Folterreigen gezeigt wird.
Jetzt hat ein neues Interesse an den ästhetischen Zumutungen des radikalen Kritikers und umstürzlerischen Traditionalisten Pasolini eingesetzt. In der aktuellen Ausgabe, der Nummer 74 der Literaturzeitschrift Schreibheft hat die Übersetzerin Theresia Prammer ein aufregendes Dossier über Pasolini zusammengestellt, das vor allem den kaum mehr sichtbaren Spuren des Gedichteschreibers Pasolini und dessen poetischen Metamorphosen folgt. In kleinen Ausschnitten aus bislang unübersetzten Gedichtbüchern, in Tagebuchnotizen und Essays und Werkkommentaren über Pasolini wird die kurvenreich verlaufene Entwicklung des Schriftstellers rekonstruiert. Im Jahr 1942, als der Zwanzigjährige noch in der Zeitschrift einer faschistischen Jugendorganisation publiziert, beginnt Pasolini Gedichte im friulanischen Dialekt seiner Mutter zu schreiben. Das war insofern eine subtile Provokation, als während der Herrschaft Mussolinis Dialektdichtung als unerwünscht galt. Pasolini träumt aber vom Entwurf einer politisch unschuldigen Sprache, hervorgegangen gleichsam aus dem Mutterleib. Gedichte in Friulanisch: Das war der Traum einer Sprache, die nicht das bürgerliche Hochitalienisch des Faschismus sein sollte. Mit seinen Gedichten entfernte sich Pasolini im Lauf der Jahre immer weiter von einer konventionellen Metaphorik, hin zu einer immer drastischeren Idiomatik, mit der er sich von einem falschen Traditionsglauben distanzierte. Im radikalen Subjektivismus seiner späten Verse stößt er sich endgültig ab von jeder romantisch-lyrischen Gestik und redet Klartext. So etwa im Gedicht „Späte Einsichten“:
Ich weiß wohl, ich weiß wohl, daß ich mit einem Bein im Grabe stehe;
daß alles, was ich berühre, bereits von mir berührt worden ist;
daß ich Gefangener eines unanständigen Verlangens bin…
daß ich auf der Erde auf- und ablaufe wie ein wildes Tier in seinem Käfig;
daß ich von allen Saiten, die da wären, am Ende immer nur die eine anreiße;
daß ich mich gerne mit Schlamm besudele, denn Schlamm ist Materie, arm, also rein;
daß ich das Licht nur dann liebe, wenn es ohne Hoffnung ist.
Den wohl schönsten Text im neuen Schreibheft verdanken wir dem Dichter Peter Waterhouse, der den Bedeutungen des Buchstabens „a“ in einem Buchtitel Pasolinis nachsinnt. Es geht um den Titel seiner Dialektgedichte: „Poesie a Casarsa“. Das „a“ identifiziert Waterhouse nicht als eine bloße Präposition, also nicht nur als die funktionale Bezeichnung „Poesie aus Casarsa“, sondern nimmt das „a“ als Ausdruck für einen kleinen Schrei, als Artikulation von Lust und Schmerz, als Urlaut des Menschen.
Eine kleine Erkundungsreise in Pasolinis Dialektgedichte unternimmt auch das Jubiläumsheft, die Nummer 50 der Leipziger Literaturzeitschrift EDIT. Hier wird ein ursprünglich in Friulanisch geschriebenes Mysterienspiel Pasolinis abgedruckt, das den Dialekt zur Sprache des Paradieses erhebt. Das Friulanische soll zugleich Sprache des Eros sein und ein sinnliches Zeichen gegen den Übergang der agrarischen Ordnung in ein neues globales System der Massenkultur. Die eigentliche Sensation liegt hier in der Art und Weise der Übersetzung. Denn Christian Filips, der Pasolini-Übersetzer, wählt nicht das Neuhochdeutsche als Zielsprache, sondern überträgt die Verse Pasolinis in ein spätes Mittelhochdeutsch, die Fremdheit des Dialektes noch in der Übersetzung bewahren will. Die komplette Buchversion dieser Pasolini-Übersetzung erscheint übrigens in im hoch gefährdeten Verlag des Basler Lyrik-Pioniers Urs Engeler.
In der neu gestalteten EDIT kann man noch weitere lesenswerte Beiträge finden. Kerstin Preiwuß legt eine zauberhafte Interpretation des jung verstorbenen Dichtertalents Bernhard Koller vor – und Martin Endres dechiffriert das neue schwierige Sprachkunstwerk der Dichterin Anja Utler. Dagegen können sich die Texte der Lyriker Konstantin Ames und Karla Reimert nur mühsam behaupten. Konstantin Ames gelingt immerhin ein heiteres aphoristisches Vexierspiel mit berühmten Gedicht-Vorgängern, er ironisiert aber allzu demonstrativ literaturfromme Konzepte. Karla Reimert probiert etwas aus, was kaum gelingen kann: Sie nähert sich dem Werk Paul Celans in kumpelhafter Fraternisierung, gleichsam „auf Du und Du“. „Aus Gott und dem Faden“, heißt es da etwa, „bastelt Celan / das erste Joghurtbechertelefon der Welt.“ Alles kann lyrisches Sprachmaterial werden und steht frei zur Verfügung, soll das wohl suggerieren. Der Reiz solcher postmodernen Exerzitien erschöpft sich jedoch schnell.
Gegen solche poetische Leichtfertigkeit mobilisiert die von Michael Speier herausgegebene Lyrikzeitschrift PARK seit nunmehr 34 Jahren ihren traditionsbewussten Eigensinn und zugleich ihr vitales Interesse an neuen unverbrauchten Ausdrucksformen. Im neuen PARK, dem Heft Nummer 63, sind wunderbar geschliffene Bemerkungen Gerhard Falkners zum Werk einiger Dichterkollegen zu lesen, eine philologische Feinmechanik ersten Ranges.
Aber um zum Ausgangspunkt dieser Zeitschriftenlese zurückzukehren: Wo findet man heute noch intellektuelle Freibeuter und Ketzer von der Entschlossenheit eines Pasolini? Da gibt es eine markante Fehlanzeige. Um das intellektuelle Milieu in Aufregung zu versetzen, scheint es heute schon zu genügen, wenn ein ehemaliger Berliner Finanzsenator boshafte Bemerkungen über die Integrationspolitik in der deutschen Hauptstadt in Umlauf bringt. Das Überraschende an diesem Vorgang war und ist, dass es ausgerechnet die Kulturzeitschrift LETTRE INTERNATIONAL ist, eine im Kern liberale und staatskritische Zeitschrift, die in ihrer aktuellen Ausgabe, der Nummer 86, dem konservativen Polemiker Thilo Sarrazin ein Forum bietet. LETTRE-Herausgeber Frank Berberich hat Sarrazin in einem Interview zur Geschichte Berlins befragt – und der hat an einer Stelle des umfangreichen Interviews erwartungsgemäß die Gelegenheit genutzt, um sich über die Integrationsunwilligkeit türkischer und arabischer Migranten auszulassen. Wer nun das komplette Interview zur Kenntnis nimmt – und das sei zur Abkühlung der erhitzten Debatte nachdrücklich empfohlen –, wird feststellen, dass Sarrazin viel Richtiges sagt über die Strukturprobleme Berlins. In den Lästereien über türkische Migranten wird dann leider ein aggressiver Unterton hörbar, der ansonsten nur in der Jugendszene oder an Stammtischen gepflegt wird. Heikel wird es auch, wenn Sarrazin anmerkt, dass ihm „osteuropäische Juden“ als Zuwanderer lieber wären als Türken oder Araber, hätten doch die „osteuropäischen Juden“ einen „um 15 Prozent höheren IQ“ als die deutsche Bevölkerung. Bei dieser philosemitischen Schmeichelei merkt der Polemiker nicht, dass er ethnisch-völkerkundlich argumentiert statt soziologisch. Einige Grundthesen Sarrazins können aber nicht einmal seine schärfsten Gegner widerlegen, etwa seine Beobachtung, dass „große Teile“ arabischer und türkischer Migranten „weder integrationswillig noch integrationsfähig“ sind.
Die Kritiker von Sarrazins Thesen haben offenbar auch einen weiten Bogen um das neue Sonderheft, die Nummer 724/725 der Kulturzeitschrift MERKUR gemacht. Ein zentraler Beitrag des Heftes handelt nämlich von den Folgen mangelnder Integrationsbereitschaft und ethnischer Segregation. Jörg Lau erinnert hier noch einmal an den Fall des Pensionärs, der im Dezember 2007 in einer Münchner U-Bahn von zwei jungen Migranten krankenhausreif geprügelt wurde. Nach einer detaillierten Auseinandersetzung mit diesem Fall von Jugendgewalt resümiert Lau: „Wenige können sich dazu durchringen, das raumgreifende, pöbelhafte Verhalten der türkischen und arabischen Jugendlichen zu kritisieren, die vielerorts, längst nicht nur in Berlin, die Mehrheit darstellen.“
In den übrigen Beiträgen des Heftes findet man eine manchmal etwas verquälte Auseinandersetzung mit dem Begriff und der Legitimität des Heldentums. Die moderne Massendemokratie, meint etwa Norbert Bolz, hat sich aus historischen Gründen die Existenz von Helden verboten – es sei denn im Starkult. Es ist ja bekannt, dass der Herausgeber des MERKUR, der eigensinnige Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer, ein großes Faible für das Heroische hat. Aber man muss lange blättern, bis man in seiner Zeitschrift auf jenen wirklich prekären Aufsatz stößt, der – gäbe es noch eine aufmerksame Öffentlichkeit – mit scharfem Widerspruch rechnen müsste. Der britische Historiker Giles MacDonogh stellt hier die brisante Frage nach dem Heldentum im Zweiten Weltkrieg. Hier werden dann nicht nur die Akteure des konservativ-militärischen Widerstands gegen Hitler porträtiert, die bereit waren, für den Tod des Diktators auch ihr eigenes Leben zu opfern. Hier wird auch das moralische Ethos von deutschen Kampffliegern und Offizieren erörtert, die sich weder als Nazis noch als Antinazis exponierten, denen aber ein „ritterliches“ Verhalten attestiert wird. Spätestens an diesem Punkt müssen Zweifel aufkommen an der Großzügigkeit, mit der Giles MacDonogh das Prädikat „Held“ vergibt.
Als vorbildhaft darf aber sicherlich das Verhalten des konservativen preußischen Junkers Fritz-Dietlof von der Schulenburg gelten, der an der Verschwörung des 20. Juli 1944 beteiligt war. Als ihm im August 1944 vor dem sogenannten „Volksgerichtshof“ des berüchtigten Nazi-Richters Roland Freisler der Prozess gemacht wurde, zeigte der Angeklagte keinerlei Reue. Im Gegenteil: Schulenburg bekräftigte trotz des ihm drohenden Todesurteils seine Entschlossenheit zum Widerstand. Im Blick auf seine Henker sagte er: „Wir haben diese Tat auf uns genommen, um Deutschland vor einem namenlosen Elend zu bewahren. Ich bin mir klar, daß ich daraufhin gehängt werde, bereue meine Tat aber nicht und hoffe, daß sie ein anderer in einem glücklicheren Moment durchführen wird.“ Soviel Souveränität im Angesicht des Todes verdient Bewunderung.
Schreibheft 73
Nieberdingstr. 18, 45147 Essen. 224 S., 12 Euro.
Edit 50
Gerichtsweg 28, 04103 Leipzig. 94 S., 5 Euro.
Park 63
Tile-Wardenberg-Str. 18, 10555 Berlin, 112 S., 7 Euro.
Merkur 724/725
Mommsenstr. 27, 10629 Berlin. 250 S., 19 Euro.
Lettre International 86
Erkelenzdamm 59/61, 10999 Berlin, 260 S., 17,90 Euro.
Michael Braun20.10.2009
Saarländischer Rundfunk | Zeitschriftenlese Oktober 2009
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Michael Braun
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