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Dezember 2010
Einer der angesehensten deutschen Schriftsteller, der allseits beliebte Wortkünstler und Sprachenregisseur Oskar Pastior, der mit seinen poetischen Zaubereien ein breites Publikum fasziniert hat, ist kürzlich in Misskredit geraten. Der 1927 in Siebenbürgen geborene und 2006 während der Frankfurter Buchmesse verstorbene Dichter schien seine eigene Biographie in eine komplizierte poetische Grammatik aus Sprach- und Form-Erfindungen transformiert zu haben.
Vor einigen Wochen wurde aber ruchbar, dass Pastior, der Mann aus Wörtern, auch ein Informant der Securitate, des rumänischen Geheimdienstes, gewesen ist. Dieser Schock hat die fast schon beerdigte Debatte über Literatur und Verrat und über das Verhältnis der Poesie zur Macht neu aufgewühlt. Die rumäniendeutschen Schriftsteller, die neben der alles überstrahlenden Nobelpreisträgerin Herta Müller an den Rand des Interesses geraten waren, stehen nun wieder im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Mit einer auffälligen Verbitterung streiten nun die Autoren aus dem Banat und Siebenbürgen über die Bewertung des Falls Pastior. Seit im Jahr 2006 die Archive des rumänischen Geheimdienstes geöffnet wurden, kommen immer neue Fälle von gegenseitiger Bespitzelung unter Schriftstellerkollegen ans Tageslicht, und es scheint, als öffne sich ein tiefer Graben zwischen jenen Autoren, die sich dereinst in kollektiver poetischer Opposition gegen das Regime des Diktators Nikolae Ceausescu aufgelehnt hatten.
Bislang ist schwer zu entscheiden, ob und in welcher Weise die rumäniendeutsche Literaturgeschichte neu geschrieben werden muss. Die einzelnen Fälle von konspirativer Zusammenarbeit mit der Securitate sind sehr unterschiedlich zu bewerten, und nicht immer scheint es angemessen, auf die Enthüllung einer politischen Verstrickung sofort mit dem Gestus totaler Verwerfung des jeweiligen Autors zu reagieren. Ein materialreicher Aufsatz in der aktuellen Ausgabe, der Nummer 6/2010 der Kulturzeitschrift „Sinn und Form“, gibt nun einen ersten verlässlichen Überblick über die Geschichte von Poesie und Verrat im Umfeld der sogenannten „Aktionsgruppe Banat“, der einst Autoren wie Richard Wagner, Ernest Wichner und Johann Lippet, und später dann auch, im Umfeld des sogenannten „Adam-Müller-Guttenbrunn“-Kreises, Herta Müller angehörte. Sabina Kienlechner skizziert in „Sinn und Form“ zunächst die Geschichte der „Aktionsgruppe Banat“, die sich 1972 als widerständiger Dichterkreis formiert hatte, um den Hofdichtern des Ceausescu-Regimes und den Heimatkitsch-Autoren im Banat und Siebenbürgen eine Poetik der radikalen Moderne entgegenzusetzen. Als spiritus rector dieser damals noch sehr jungen Dichter agierte Richard Wagner, der wie seine Kollegen davon träumte, dass die Dichter als „sanfte Guerilleros“ agieren, im Rückgriff auf einen undogmatischen Marxismus. Drei Jahre lang konnte die „Aktionsgruppe Banat“ ihre kritische und experimentelle Poetik entwickeln, bis die Securitate 1975 daran ging, durch Einschüchterungen, Drohungen, Verhaftungen und Spaltungsversuche die Gruppe zu zerschlagen.
Die zerstörerische Arbeit des Geheimdienstes konnte aber nur Erfolg haben, so kann Kienlechners „Sinn und Form“-Aufsatz belegen, mit Hilfe literarischer Doppelagenten, die ihre eigenen Kollegen ans Messer lieferten. Unter massiver Bespitzelung hatten vor allem die Dichter Gerhard Ortinau und William Totok zu leiden, die von ihren falschen Freunden denunziert und in die Falle gelockt wurden. Als besonders gefährlich erschien den Securitate- Spitzeln ein Gedicht von Gerhard Ortinau, das sich vordergründig als Sprachspiel über Eigenschaften grammatischer Wortarten maskiert, hinter dem sich dann eine subtile Diagnose der rumänischen Diktatur verbirgt. Ortinaus Gedicht beginnt so:
„ein pronomen ist verhaftet worden / das numerale wird beauftragt die lücke auszufüllen / das substantiv wechselt seinen besitzer / das verb wird mit sachkenntnis in die falle gelockt / das adverb wird aus der zeitung gestrichen …“ Solche Gedichte genügten, um den ganzen Überwachungsapparat der Securitate in Bewegung zu setzen, der schließlich eine Kampagne gegen Ortinau startete, die fast zur physischen Vernichtung des Dichters führte. Nach seiner Ausreise litt Ortinau jahrelang unter schweren Depressionen, sein Kollege Rolf Bossert, der poetisch begabteste Kopf unter den rumäniendeutschen Dissidenten, nahm sich 1986 das Leben. Sabina Kienlechner scheut sich in ihrem „Sinn und Form“-Aufsatz auch nicht, die literarischen Doppelagenten namentlich zu benennen, die sich nach ihrer Ansicht mit besonderem Übereifer der Securitate andienten. Sie verweist auf den Lyriker Werner Söllner und vor allem auf die Schriftsteller Peter Grosz und Franz Thomas Schleich, die sich offenbar in besonders denunziatorischer Weise als Berichterstatter betätigt haben. Im Blick auf die Abgründe von Poesie und Verrat schrieb Richard Wagner 1987 auch sein Gedicht „Curriculum“, das in lakonischer Härte dieses Leben der rumäniendeutschen Dichter unter ständiger Bedrohung zusammenfasst:
Curriculum
Nicht erschlagen, fertiggemacht.
Belogen, bis ich selber log.
Nicht nackt, nur mir selber entzogen.
Nicht mit Steinen beworfen, nicht mit Worten.
Bloß mit Schweigen traktiert.
Nicht verhungert, aber der Kopf eine Höhle.
Davongekommen, überlebt, das auch, ja.
Mit dem Thema Poesie und Verrat beschäftigt sich in „Sinn und Form“ auch Manfred Bierwischs biographischer Essay über den Literaturwissenschaftler und Dokumentaristen Hans Bunge, eines Brecht-Schülers bzw. -Archivars, der jahrelang von der Stasi bedrängt und zur Mitarbeit genötigt wurde, ohne jedoch dieser Erpressung gehorsam nachzugeben. Manfred Bierwisch nimmt das zum Anlass, ein Loblied auf die „Widerborstigkeit“ jener DDR-Intellektuellen anzustimmen, die man heute allzu leichtfertig des Opportunismus zeiht.
Eine sorgsame poetische Erinnerungsarbeit zur deutschen Geschichte leistet auch das „Sinn und Form“-Gespräch mit Jürgen Becker, das die frühen Schreckenserfahrungen des Autors im Inferno des Zweiten Weltkriegs und seine spätere literarische Annäherung an diese Zeit seiner Kindheit rekonstruiert. Als Jugendlicher erlebte Becker das Kriegsende als „Befreiung vom Zwang der Verdunkelung“, als Erlösung vom traumatischen Luftkrieg und vom hell erglühenden Himmel über den brennenden Städten. Später, aber noch vor dem Ende der DDR, schrieb Becker sein „Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft“, in dem er sich an seine Kinderzeit in Erfurt herantastete, Erinnerungsbilder, die dann auch die Textur seiner späteren Bücher prägen. Beckers Gesprächspartner in „Sinn und Form“ ist der junge Lyriker und Essayist Renatus Deckert, der seit einiger Zeit die älteren Repräsentanten unserer Gegenwartsliteratur zu autobiographischen Selbsterkundungen anstiftet.
Eine solche Expedition zu den Quellen des eigenen Lebens und Schreibens unternahm Deckert auch mit dem im vergangenen Jahr verstorbenen Dichter Adolf Endler. In der neuen Ausgabe, der Nummer 6/2010 der Literaturzeitung „Volltext“, sind nun die spannendsten Teile dieses langen Gesprächs nachzulesen. Endler berichtet – wie Jürgen Becker – von den Traumata des Luftkriegs, die sich – so Endler – „zu einem schwarzen Knäuel verwickelt“ haben, der zeitlebens sein pessimistisches Welt- und Menschenbild geprägt hat. Nebenbei gibt Endler auch der These des Schriftstellers W.G. Sebald recht, der in seinen Zürcher Poetikvorlesungen von 1995 behauptet hat, dass der Luftkrieg als apokalyptischer Stoff nie wirklich in der deutschen Literatur aufgenommen worden ist. Der aufregendste Moment des Gesprächs ist die Erzählung Endlers über eine Schlüsselszene der deutschen Nachkriegsliteratur. Endler war nämlich Augenzeuge und Akteur bei der berühmten Tagung der Gruppe 47 in Niendorf an der Ostsee im Frühjahr 1952, die zum Debakel für Paul Celan wurde. Die ehemaligen Landser und Kriegsheimkehrer, die damals das Gros der Gruppe 47 bildeten, konnten mit dem Pathos des damals noch unbekannten Paul Celan nicht nur wenig anfangen, sondern verstiegen sich sogar zu der denunziatorischen These, er klinge beim Vortrag seiner Gedichte wie Goebbels. Es war der junge Endler, der den brüskierten Celan trösten musste. Eine Mitgründerin der Gruppe 47, die heute völlig vergessene Ilse Schneider-Lengyel, wurde schließlich zur wichtigsten Inspirationsquelle für den Dichter Endler. Schneider-Lengyel hatte erstmals Lyrik von Menschenfresserstämmen übersetzt, die zum poetischen Kraftstoff für den Dichter Endler wurde, der dann 1955 in die DDR übersiedelte.
Einer Ikone des literarischen Rebellentums, dem Dichter Rolf Dieter Brinkmann, ist ein weiterer lesenswerter Beitrag in „Volltext“ gewidmet. Arne Rautenberg nähert sich mit erfrischend wenig Ehrfurcht den frühen Gedichten Brinkmanns, die noch von jenen schwärmerischen Erhabenheitsgesten und „blattvergoldeten Worten“ getragen sind, in denen die deutsche Lyrik der frühen sechziger Jahre feststeckte. Von der wütenden Radikalität der späteren „Westwärts“-Gedichte sind hier nur zarte Spuren zu erkennen.
Wer die poetisch einfallsreichsten, formal kühnsten und ambitioniertesten Gedichte der Gegenwartslyrik kennenlernen will, der muss zu der Literaturzeitschrift „Park“ greifen, die der Berliner Dichter Michael Speier seit über 30 Jahren im Alleingang und ohne Subventionsstütze im Rücken herausgibt. Bis in die neunziger Jahre hinein präsentierte sich „Park“ in einem strengen Weiß, in seiner typographischen Gestalt durchaus an die Ästhetik Stefan Georges erinnernd. Im aktuellen Heft 64 von „Park“ hat Speier, mit sicherem Gespür für die avanciertesten Schreibweisen der Gegenwart, neue Gedichte von Monika Rinck, Marion Poschmann und Ulrike Almut Sandig zusammen mit einem fantastischen Jesus-Zyklus des flämischen Poeten Dirk von Bastelaere zu einer kleinen Anthologie des jüngsten Modernismus komponiert. Es beginnt mit einigen Proben aus dem Zyklus „Honigprotokolle“ der Dichterin Monika Rinck, die mit ihrer eigenwillig sprunghaften Assoziationskunst zu überzeugen vermag. Es ist, wenn man sich den Titel ihres Zyklus anschaut, zunächst einmal rätselhaft, wie eine dickflüssige Substanz wie der Honig mit der textuellen Fixierung eines Protokolls vereinbar sein soll. Aber von einer solchen überraschenden Kombinatorik des scheinbar Gegensätzlichen, aber auch des Lautähnlichen leben die rhythmisch suggestiven Gedichte von Monika Rinck. Von überwältigender Wucht ist schließlich Dirk von Bastelaeres lyrische Wiederbelebung der Jesus-Gestalt, ein phantasmagorischer Assoziationsstrom, in dem der biblische Jesus mit den Exzessen der Moderne zusammenprallt.
Neben dem typographischen Konservativismus von „Park“ wirkt das aufgeregte, mit unterschiedlichsten Farben, Schriftarten und graphischen Finessen operierende Text-Design in der Zeitschrift „BELLA triste“ wie eine verkrampfte Demonstration von übersteuerter Modernität. Sehr lesenswert sind in diesem Periodikum für „junge Literatur“ immer wieder die essayistischen Fragmente und Notate am Ende des Heftes. In der aktuellen Nummer 28 von „BELLA triste“ versucht sich die vielgelobte Schweizer Autorin Dorothee Elmiger an einer Differenzierung des Verhältnisses von Literatur und Wirklichkeit, wobei die substantiellsten Passagen ihres Textes von dem französischen Meisterdenker Roland Barthes geliehen sind. In einem kleinen Selbstporträt liefert ihre Schweizer Kollegin Nora Gomringer einige aphoristische Splitter zu ihrem Verständnis von Poesie. Nora Gomringer ist die Tochter von Eugen Gomringer, des Gründervaters der experimentellen Poesie, hat sich aber von dem Minimalismus ihres Vaters entfernt in Richtung einer sehr oratorischen Vortragskunst, die von der Direktheit der mündlichen Rede und der unmittelbar zupackenden Sprachgeste lebt. „Man kann sagen“, so hat Nora Gomringer einmal notiert, „dass mein Gedicht sich nicht lange aufhält, drauflos redet, manchmal auch einfach um des Redens willen, um nicht in Stille eingesperrt zu sein.“ Dass die Stille auch belebende Wirkung haben kann, deutet der Titel eines Aufsatzes von Eugen Gomringer an, auf den sich die Tochter beruft. Er lautet: „Der Dichter und das Schweigen.“
Sinn und Form: H. 6/2010
Postfach 210250, 10502 Berlin. 146 Seiten, 9 Euro
Volltext: 6/2010
Porzellangasse 11/69, A-1090 Wien. 48 S., 2,90 Euro
Park 64
Tile-Wardenberg-Str. 18, 10555 Berlin. 100 Seiten, 7 Euro
BELLA triste. Nr. 28
Bahrfeldtstr. 1, 31135 Hildesheim, 96 S., 5,35 Euro
Michael Braun 15.12.2010
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Michael Braun
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