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Oktober 2014
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Zeitschriftenlese  –  Oktober 2014
von Michael Braun | Saarländischer Rundfunk – Literatur im Gespräch


Ein Störenfried im Literatur­betrieb zu sein, galt einmal als Auszeichnung für freie Geister. Heute besteht die Schwierig­keit eher darin, überhaupt eine Form der radi­kalen Abwei­chung, der schroffen Dissidenz zu finden, mit der man sich ab­grenzen kann von einem alle Gegen­sätze ver­schluckenden Kultur­konformismus. Der ästhe­tische An­griff auf die Bastionen einer den­kfaulen lite­rarischen Konven­tion fällt heute meis­tens aus, da sich keine Kontra­henten finden, die zum ener­gischen Wider­spruch und zu einer substan­tiellen De­batte bereit wären. Ein großes Wohlgefallen, das sich als kultu­relle Libe­rali­tät miss­versteht, deckt alle Wider­sprüche und Fronten­bildungen im Lite­ratur­betrieb zu.
  Einer der letzten eigen­sinnigen Köpfe, die mit bewunderns­werter Hart­näckig­keit scharfen Widerspruch zum neuesten ästhetischen Flachsinn anmelden, ist der Schwei­zer Dichter, Über­setzer und Essayist Felix Philipp Ingold. Die Wiener Lite­ratur­zeitung „Voll­text“ ist seit einiger Zeit zum Stütz­punkt für ästhe­tische Dissi­denten wie Ingold oder Andreas Maier gewor­den, deren es­sayis­tische Ein­las­sungen und Kolumnen die Selbst­gefäl­lig­keiten des Literatur­betriebs auf poin­tierte Weise bloß­legen. Seit 12 Jahren hat der Pu­blizist Thomas Keul, der ur­sprüng­lich zu den frühen Pionieren des Online-Publizie­rens zählte, seine Literatur­zeitung zu einem sehr diskus­sions­freu­digen Perio­dikum aus­gebaut. In der jüngsten Ausgabe von „Voll­text“, der Nummer 3/2014, nutzt Felix Philipp Ingold die Gele­gen­heit, ein paar grund­sätz­liche Anmer­kungen zum „aktuel­len Status“ und zum Substanz­verlust der neuesten Lite­ratur und Lite­ratur­kritik auf­zu­schreiben. Im Zentrum seiner Polemik stehen die sub­stanz­armen Auf­tritte der Jury des Inge­borg Bach­mann-Wett­bewerbs in Klagen­furt. Ingold beklagt an den Klagen­furter Darbie­tungen der Autoren wie der Jury eine ungute Fokus­sierung auf Schwund­formen eines un­re­flek­tierten „Realis­mus“, eine Ver­ständi­gung auf „kon­sens­fähige Belle­tristen“, die allen Er­rungen­schaften der lite­rarischen Avant­garde abge­schworen haben. „Lite­ratur und Kritik“, so Ingold, „sind heute in einen Pakt ver­strickt, der wohl die Trend­bildung fördert, nicht aber der Qua­litäts­siche­rung dient und schon gar nicht der Durch­setzung ris­kanter, zumindest poten­ziell innovativer Schreib­weisen.“ In seinem gerade erschie­nenen Auf­zeich­nungs­buch „Leben & Werk“, einem Journal von über 1000 Seiten, hat Ingold sein Bekennt­nis zu ris­kanten Schreib­weisen aus­führlicher er­läutert. Denn Ingold hat seit je ein Faible für den Herme­tismus, für das radikal sprach­bezogene, seine eigene Klang­gestalt und Seman­tik reflek­tierende Gedicht, das sich dem vor­schnellen Ver­ständ­nis entzieht und die naive Mitteilungs­freude kollo­quialer Poesie sabo­tiert. So verwundert es auch nicht, dass er für das Diktum des eins­tigen Dichter­fürsten Stéphane Mallarmé, es sei eine „Schande“ für den Dichter, „ver­standen“ zu werden, viel Verständnis aufbringt.
  Schaut man auf die lächerlichen Scharmützel, die in diesen Tagen um die Klagenfurter Jury zelebriert werden, ist man geneigt, Ingolds Diagnose zuzu­stimmen. Als neuester Skandal wird der Rücktritt der Kriti­kerin Daniela Strigl aus der Bach­mann-Jury ausge­rufen. Besieht man sich die Hinter­gründe der Affäre, die durch das grobe Verhalten der öster­reichi­schen Fernseh-Verant­wort­lichen zustande kam, aber auch von einem starken Mimosentum der betrof­fenen Juroren befeuert wird, entdeckt man nirgendwo lite­rarische Argumente, sondern nur mediale Macht­spiele.
  Es gibt indes zum Glück auch literarische Phänomene, die Ingolds generellem Verdikt gegen das angeblich auch in der aktuellen Lyrik grassierende Biedermeier widersprechen. Man muss sich dazu nur mit den neuesten Ausgaben der Literatur­zeit­schriften „Akzente“ und „Sinn und Form“ beschäftigen – und dazu auch das erst kürzlich begrün­dete Magazin „Offenes Feld“ zur Kenntnis nehmen. In der aktuel­len Oktober-Nummer der „Akzente“ hat Michael Krüger ein reines Lyrik-Heft zusammen­gestellt, das zahlreiche schöne Ent­deckungen ermög­licht. In seiner Dank­rede zum Erich Fried-Preis beschreibt hier der Dichter Nico Bleutge seine Techniken der poe­tischen Kon­zen­tration, die doch vieles seiner Aus­einander­setzung mit dem schwe­dischen Dichter Gunnar Ekelöf ver­danken. Bleutge ver­weist auf Ekelöfs Diktum von der Strahlung des Ge­dichts, von den poeti­schen Kraft­linien, die sich gegen­seitig an­ziehen und abstoßen. So hänge alles ab von der „Fähig­keit des Dichters, die Wörter und Be­deu­tungen in ein solches Rei­bungs- und Nuan­cierungs­ver­hält­nis zu­ein­ander zu setzen“, dass letztlich „eine Art von magne­tischem Gewebe aus unsicht­baren Fäden“ entsteht. In seinen hier abge­druckten Gedichten hat Bleutge diese Metapher des Gewebes in ein Bild poetischer Sym­biose des lyrischen Subjekts mit dem Natur­stoff trans­for­miert: „denk wie muskeln und kalk, zelle um zelle / baute sich an, traum von geweben, häu­ten, wo du hinein- /gehst, siehst du nicht mehr hinaus, als wäre alles mit allem / verbunden ...“ Unter den Autorinnen und Autoren des „Akzente“-Heftes sind auch die Ameri­kaner George Calvin Waldrep und John Gallaher hervor­zuheben, deren lyrische „Optionen auf das Schöne wie auf das Schlimme“ der Dichter Ron Winkler hervor­ragend über­setzt hat. Hinzu kommt die Ent­deckung der hier­zulande gänzlich unbe­kannten Lyrikerin Jen Hadfield, einer Poetin von den Shetland-Inseln, die Jan Wilm erstmals ins Deutsche über­tragen hat. Wie bei aller großen Lyrik lässt Hadfield aus etwas Winzigem – einer Napf­schnecke, einem Igel oder einer Qualle – etwas Trans­zen­dentes entstehen, nämlich das Ge­heimnis unserer Exis­tenz.
  Von den Shetland-Inseln noch weiter in den Norden führen uns die Beiträge der neuen inter­nationa­len Literatur­zeit­schrift „Offenes Feld“, die von dem Dichter und Übe­rsetzer Jürgen Brôcan und dem Filmemacher Frank Wierke heraus­gegeben wird. Die zweite Ausgabe von „Offenes Feld“ eröffnen Gedichte des Herme­tikers Manfred Peter Hein, der seit 1958 in Finn­land lebt und seine Poetik der „Schatten­rede“ immer weiter verfeinert hat. „Der Eremit am / Rand der wach­senden Wüste / vor sich hin sprechend – “: Diese Figur aus dem Gedicht „Schatten­riß“ darf man als Selbst­porträt des Dichters Hein lesen. Auf Heins Texte folgt in der Zeitschrift ein Auszug aus einer Novelle des Schrifts­tellers Ulrich Schacht, der seine Prota­gonisten auf ein einsames Eiland der Färöer Inseln führt, ein Ort am Rande der Welt. Von Ulrich Koch sind neue Gedichte zu lesen: Beobach­tungen eines hell­wachen Me­lancho­likers, der vor allem beim Ephe­meren, Flüch­tigen unserer Alltags­rou­tinen ansetzt und dort den Riss in der Welt entdeckt. Im Übrigen zeigt der starke Auftritt des neuen Magazins, dass für die Lebens­fähigkeit einer Literatur­zeit­schrift nicht unbe­dingt ein starker Verlag im Hinter­grund stehen muss. Das Fundament für dieses „Offene Feld“ bildet nämlich ein Verbund von Künst­lern aus allen Berei­chen der Kultur, die eine große Lei­den­schaft für die Poesie ver­bindet.
  Für Bewunderer des experimentel­len Schreibens, wie es von Felix Philipp Ingold pro­klamiert wird, enthält die aktuelle Sep­tember / Oktober-Aus­gabe der Literatur­zeit­schrift „Sinn und Form“ eine große Über­raschung. Dort hält nämlich Peter Handke eine Lobrede auf zwei Autoren, die seinem eigenen Schrei­ben sehr fern stehen. Es sind zwei radikal schrift- und sprach­bezo­gene Künstler, zwei „Helden des Gestaltens“, wie sie Handke nennt, zwei Ekstatiker der Schrift. Es geht um den Brief­wechsel zwischen dem Buch­staben­künstler Franz Mon, der seit 65 Jahren eine strenge Kunst der „Artiku­lationen“ betreibt, und dem Sprach­blätter-Poeten Carl­friedrich Claus, dem in der DDR iso­lierten Morpho­logen der Schrift, der 1998 in Chem­nitz gestorben ist. Was Handke in diesem faszi­nieren­den Brief­wechsel vorge­funden hat, sind unglaub­lich akribische Erkun­dungen der Sprach­materie, auf deren Grundlage die beiden Dichter­freunde zu fast mysti­schen Erleuch­tungen gelangten. Die Klang- und Schrift-Tekto­nik dieser beiden Sprach­künstler wird von Handke als „Wunder“ beschrie­ben, als ein Fall von poetischer „Ideal­konkurrenz“, die schließ­lich „Durchblicke“ in den anderen Zustand ermögliche.
  Das neue „Sinn und Form“-Heft hat noch einen weiteren auf­regenden Bei­trag zu bieten. Die Lyri­kerin Christine Koschel, eine langjährige Freundin Inge­borg Bach­manns und Heraus­geberin ihres Werkes, ver­öffentlicht erstmals ihre Tage­buch­auf­zeichnungen, die sie nach dem geheimnis­um­witterten Brand­unfall Bach­manns im Sep­tember 1973 in Rom ange­fer­tigt hatte. Die letzten drei Wochen in Ingeborg Bach­manns Leben sind bis heute ein Anlass zur Le­genden­bil­dung, wurden doch nach ihrem Tod am 6. Oktober 1973 sogar Mordthesen lanciert. Bis heute ist unklar, ob die Dichterin ihre schweren Brand­ver­let­zungen hätte über­leben können, wenn die behan­delnden Ärzte Kenntnis gehabt hätten von ihrer Ab­hängig­keit von einem bestimmten Tran­quilizer, der nach Entzug schwere Krampf­anfälle auslösen kann, die dann offenbar auch zum Tod der Dich­terin führten.
  Christine Koschel rekonstruiert die Vorgänge so, dass eine Teilschuld am Tod der Dichte­rin einem Schwei­zer Ehe­paar zuge­wiesen wird, das sich auf illegale Weise Zutritt zu Bach­manns Kranken­zimmer ver­schafft hatte. Es bleibt aber offen, wer aus dem Umfeld der Dich­terin dafür ver­ant­wort­lich war, dass ihre Abhän­gig­keit von dem letztlich fatalen Psycho­pharmakon verschwiegen wurde.
  Am Ende noch ein Hinweis auf die wohl größte Exzentrikerin der deutschen Lite­ratur­geschichte, die in ihrer Fähig­keit zur absoluten ästhe­tischen Dissidenz selbst die strengen Kriterien Felix Philipp Ingolds erfüllen dürfte. In der neuen Ausgabe des Online-Magazins www.karawa.net wird die Dadaistin Elsa von Freytag-Loring­hoven por­trätiert, die mit ihren ästhe­tischen Grenz­über­schrei­tungen selbst die literarische Avant­garde des expres­sionis­tischen Jahr­zehnts einge­schüchtert hat. Irene Gammel be­schreibt die Dada-Baroness, die sich gerne mit prunk­voll ra­siertem Kopf als weiblicher Bürger­schreck expo­nierte, als literarische Zeit­genos­sin des 21. Jahr­hunderts. In ihren oft in wilder Collage-Technik kompo­nierten Gedichten verbin­det Freytag-Loring­hoven Blasphemie und Obszö­nität und mokiert sich ausgiebig über ihre Dichterkollegen. Von 1913 bis 1923 inszenierte sich die fulmi­nante Dada-Baroness in New York, danach ging sie über Berlin nach Paris, wo sie im Dezember 1927 mit 53 Jahren starb. Nebst einigen sprach­ver­rückten Text­pro­ben präsen­tiert die auch diesmal wieder äußerst lesens­werte karawa.net auch ein lyrisches Selbst­porträt der Baroness im Volks­lied­ton: „Der Hang zur Zote ist mir ein­geboren – / von meinem Papa hab ich ihn geerbt – / sein Witz ist roh – ich bin erkoren – / witzig zu sein Geschmack völlig verderbt. // Ich bin die Blume aus der Saat im Miste / ich bin Erfüllung – Kron – bin Zweck – / der abertausendjährigen Heiratskiste / aus Klugheit – Dummheit – Sauberkeit – Dreck.“

Volltext, Nr. 3/2014  externer Link
Porzellangasse 1/69, A-1090 Wien. 56 Seiten, 2,90 Euro.

Akzente, H. 5/2014  externer Link
Postfach 86 04 20, 81631 München, 96 Seiten, 7,90 Euro.

Offenes Feld, Heft 2  externer Link
116 Seiten, 11,90 Euro.

Sinn und Form, H. 5/2014.  externer Link
Redaktion, Postfach 21 02 50, 10502 Berlin. 96 Seiten, 7,90 Euro.

www.karawa.net, #006  externer Link

 

 
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