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Oktober 2014
Ein Störenfried im Literaturbetrieb zu sein, galt einmal als Auszeichnung für freie Geister. Heute besteht die Schwierigkeit eher darin, überhaupt eine Form der radikalen Abweichung, der schroffen Dissidenz zu finden, mit der man sich abgrenzen kann von einem alle Gegensätze verschluckenden Kulturkonformismus. Der ästhetische Angriff auf die Bastionen einer denkfaulen literarischen Konvention fällt heute meistens aus, da sich keine Kontrahenten finden, die zum energischen Widerspruch und zu einer substantiellen Debatte bereit wären. Ein großes Wohlgefallen, das sich als kulturelle Liberalität missversteht, deckt alle Widersprüche und Frontenbildungen im Literaturbetrieb zu.
Einer der letzten eigensinnigen Köpfe, die mit bewundernswerter Hartnäckigkeit scharfen Widerspruch zum neuesten ästhetischen Flachsinn anmelden, ist der Schweizer Dichter, Übersetzer und Essayist Felix Philipp Ingold. Die Wiener Literaturzeitung „Volltext“ ist seit einiger Zeit zum Stützpunkt für ästhetische Dissidenten wie Ingold oder Andreas Maier geworden, deren essayistische Einlassungen und Kolumnen die Selbstgefälligkeiten des Literaturbetriebs auf pointierte Weise bloßlegen. Seit 12 Jahren hat der Publizist Thomas Keul, der ursprünglich zu den frühen Pionieren des Online-Publizierens zählte, seine Literaturzeitung zu einem sehr diskussionsfreudigen Periodikum ausgebaut. In der jüngsten Ausgabe von „Volltext“, der Nummer 3/2014, nutzt Felix Philipp Ingold die Gelegenheit, ein paar grundsätzliche Anmerkungen zum „aktuellen Status“ und zum Substanzverlust der neuesten Literatur und Literaturkritik aufzuschreiben. Im Zentrum seiner Polemik stehen die substanzarmen Auftritte der Jury des Ingeborg Bachmann- Wettbewerbs in Klagenfurt. Ingold beklagt an den Klagenfurter Darbietungen der Autoren wie der Jury eine ungute Fokussierung auf Schwundformen eines unreflektierten „Realismus“, eine Verständigung auf „konsensfähige Belletristen“, die allen Errungenschaften der literarischen Avantgarde abgeschworen haben. „Literatur und Kritik“, so Ingold, „sind heute in einen Pakt verstrickt, der wohl die Trendbildung fördert, nicht aber der Qualitätssicherung dient und schon gar nicht der Durchsetzung riskanter, zumindest potenziell innovativer Schreibweisen.“ In seinem gerade erschienenen Aufzeichnungsbuch „Leben & Werk“, einem Journal von über 1000 Seiten, hat Ingold sein Bekenntnis zu riskanten Schreibweisen ausführlicher erläutert. Denn Ingold hat seit je ein Faible für den Hermetismus, für das radikal sprachbezogene, seine eigene Klanggestalt und Semantik reflektierende Gedicht, das sich dem vorschnellen Verständnis entzieht und die naive Mitteilungsfreude kolloquialer Poesie sabotiert. So verwundert es auch nicht, dass er für das Diktum des einstigen Dichterfürsten Stéphane Mallarmé, es sei eine „Schande“ für den Dichter, „verstanden“ zu werden, viel Verständnis aufbringt.
Schaut man auf die lächerlichen Scharmützel, die in diesen Tagen um die Klagenfurter Jury zelebriert werden, ist man geneigt, Ingolds Diagnose zuzustimmen. Als neuester Skandal wird der Rücktritt der Kritikerin Daniela Strigl aus der Bachmann-Jury ausgerufen. Besieht man sich die Hintergründe der Affäre, die durch das grobe Verhalten der österreichischen Fernseh-Verantwortlichen zustande kam, aber auch von einem starken Mimosentum der betroffenen Juroren befeuert wird, entdeckt man nirgendwo literarische Argumente, sondern nur mediale Machtspiele.
Es gibt indes zum Glück auch literarische Phänomene, die Ingolds generellem Verdikt gegen das angeblich auch in der aktuellen Lyrik grassierende Biedermeier widersprechen. Man muss sich dazu nur mit den neuesten Ausgaben der Literaturzeitschriften „Akzente“ und „Sinn und Form“ beschäftigen – und dazu auch das erst kürzlich begründete Magazin „Offenes Feld“ zur Kenntnis nehmen. In der aktuellen Oktober-Nummer der „Akzente“ hat Michael Krüger ein reines Lyrik-Heft zusammengestellt, das zahlreiche schöne Entdeckungen ermöglicht. In seiner Dankrede zum Erich Fried-Preis beschreibt hier der Dichter Nico Bleutge seine Techniken der poetischen Konzentration, die doch vieles seiner Auseinandersetzung mit dem schwedischen Dichter Gunnar Ekelöf verdanken. Bleutge verweist auf Ekelöfs Diktum von der Strahlung des Gedichts, von den poetischen Kraftlinien, die sich gegenseitig anziehen und abstoßen. So hänge alles ab von der „Fähigkeit des Dichters, die Wörter und Bedeutungen in ein solches Reibungs- und Nuancierungsverhältnis zueinander zu setzen“, dass letztlich „eine Art von magnetischem Gewebe aus unsichtbaren Fäden“ entsteht. In seinen hier abgedruckten Gedichten hat Bleutge diese Metapher des Gewebes in ein Bild poetischer Symbiose des lyrischen Subjekts mit dem Naturstoff transformiert: „denk wie muskeln und kalk, zelle um zelle / baute sich an, traum von geweben, häuten, wo du hinein- /gehst, siehst du nicht mehr hinaus, als wäre alles mit allem / verbunden ...“ Unter den Autorinnen und Autoren des „Akzente“-Heftes sind auch die Amerikaner George Calvin Waldrep und John Gallaher hervorzuheben, deren lyrische „Optionen auf das Schöne wie auf das Schlimme“ der Dichter Ron Winkler hervorragend übersetzt hat. Hinzu kommt die Entdeckung der hierzulande gänzlich unbekannten Lyrikerin Jen Hadfield, einer Poetin von den Shetland-Inseln, die Jan Wilm erstmals ins Deutsche übertragen hat. Wie bei aller großen Lyrik lässt Hadfield aus etwas Winzigem – einer Napfschnecke, einem Igel oder einer Qualle – etwas Transzendentes entstehen, nämlich das Geheimnis unserer Existenz.
Von den Shetland-Inseln noch weiter in den Norden führen uns die Beiträge der neuen internationalen Literaturzeitschrift „Offenes Feld“, die von dem Dichter und Übersetzer Jürgen Brôcan und dem Filmemacher Frank Wierke herausgegeben wird. Die zweite Ausgabe von „Offenes Feld“ eröffnen Gedichte des Hermetikers Manfred Peter Hein, der seit 1958 in Finnland lebt und seine Poetik der „Schattenrede“ immer weiter verfeinert hat. „Der Eremit am / Rand der wachsenden Wüste / vor sich hin sprechend – “: Diese Figur aus dem Gedicht „Schattenriß“ darf man als Selbstporträt des Dichters Hein lesen. Auf Heins Texte folgt in der Zeitschrift ein Auszug aus einer Novelle des Schriftstellers Ulrich Schacht, der seine Protagonisten auf ein einsames Eiland der Färöer Inseln führt, ein Ort am Rande der Welt. Von Ulrich Koch sind neue Gedichte zu lesen: Beobachtungen eines hellwachen Melancholikers, der vor allem beim Ephemeren, Flüchtigen unserer Alltagsroutinen ansetzt und dort den Riss in der Welt entdeckt. Im Übrigen zeigt der starke Auftritt des neuen Magazins, dass für die Lebensfähigkeit einer Literaturzeitschrift nicht unbedingt ein starker Verlag im Hintergrund stehen muss. Das Fundament für dieses „Offene Feld“ bildet nämlich ein Verbund von Künstlern aus allen Bereichen der Kultur, die eine große Leidenschaft für die Poesie verbindet.
Für Bewunderer des experimentellen Schreibens, wie es von Felix Philipp Ingold proklamiert wird, enthält die aktuelle September / Oktober-Ausgabe der Literaturzeitschrift „Sinn und Form“ eine große Überraschung. Dort hält nämlich Peter Handke eine Lobrede auf zwei Autoren, die seinem eigenen Schreiben sehr fern stehen. Es sind zwei radikal schrift- und sprachbezogene Künstler, zwei „Helden des Gestaltens“, wie sie Handke nennt, zwei Ekstatiker der Schrift. Es geht um den Briefwechsel zwischen dem Buchstabenkünstler Franz Mon, der seit 65 Jahren eine strenge Kunst der „Artikulationen“ betreibt, und dem Sprachblätter-Poeten Carlfriedrich Claus, dem in der DDR isolierten Morphologen der Schrift, der 1998 in Chemnitz gestorben ist. Was Handke in diesem faszinierenden Briefwechsel vorgefunden hat, sind unglaublich akribische Erkundungen der Sprachmaterie, auf deren Grundlage die beiden Dichterfreunde zu fast mystischen Erleuchtungen gelangten. Die Klang- und Schrift-Tektonik dieser beiden Sprachkünstler wird von Handke als „Wunder“ beschrieben, als ein Fall von poetischer „Idealkonkurrenz“, die schließlich „Durchblicke“ in den anderen Zustand ermögliche.
Das neue „Sinn und Form“-Heft hat noch einen weiteren aufregenden Beitrag zu bieten. Die Lyrikerin Christine Koschel, eine langjährige Freundin Ingeborg Bachmanns und Herausgeberin ihres Werkes, veröffentlicht erstmals ihre Tagebuchaufzeichnungen, die sie nach dem geheimnisumwitterten Brandunfall Bachmanns im September 1973 in Rom angefertigt hatte. Die letzten drei Wochen in Ingeborg Bachmanns Leben sind bis heute ein Anlass zur Legendenbildung, wurden doch nach ihrem Tod am 6. Oktober 1973 sogar Mordthesen lanciert. Bis heute ist unklar, ob die Dichterin ihre schweren Brandverletzungen hätte überleben können, wenn die behandelnden Ärzte Kenntnis gehabt hätten von ihrer Abhängigkeit von einem bestimmten Tranquilizer, der nach Entzug schwere Krampfanfälle auslösen kann, die dann offenbar auch zum Tod der Dichterin führten.
Christine Koschel rekonstruiert die Vorgänge so, dass eine Teilschuld am Tod der Dichterin einem Schweizer Ehepaar zugewiesen wird, das sich auf illegale Weise Zutritt zu Bachmanns Krankenzimmer verschafft hatte. Es bleibt aber offen, wer aus dem Umfeld der Dichterin dafür verantwortlich war, dass ihre Abhängigkeit von dem letztlich fatalen Psychopharmakon verschwiegen wurde.
Am Ende noch ein Hinweis auf die wohl größte Exzentrikerin der deutschen Literaturgeschichte, die in ihrer Fähigkeit zur absoluten ästhetischen Dissidenz selbst die strengen Kriterien Felix Philipp Ingolds erfüllen dürfte. In der neuen Ausgabe des Online-Magazins www.karawa.net wird die Dadaistin Elsa von Freytag-Loringhoven porträtiert, die mit ihren ästhetischen Grenzüberschreitungen selbst die literarische Avantgarde des expressionistischen Jahrzehnts eingeschüchtert hat. Irene Gammel beschreibt die Dada-Baroness, die sich gerne mit prunkvoll rasiertem Kopf als weiblicher Bürgerschreck exponierte, als literarische Zeitgenossin des 21. Jahrhunderts. In ihren oft in wilder Collage-Technik komponierten Gedichten verbindet Freytag-Loringhoven Blasphemie und Obszönität und mokiert sich ausgiebig über ihre Dichterkollegen. Von 1913 bis 1923 inszenierte sich die fulminante Dada-Baroness in New York, danach ging sie über Berlin nach Paris, wo sie im Dezember 1927 mit 53 Jahren starb. Nebst einigen sprachverrückten Textproben präsentiert die auch diesmal wieder äußerst lesenswerte karawa.net auch ein lyrisches Selbstporträt der Baroness im Volksliedton: „Der Hang zur Zote ist mir eingeboren – / von meinem Papa hab ich ihn geerbt – / sein Witz ist roh – ich bin erkoren – / witzig zu sein Geschmack völlig verderbt. // Ich bin die Blume aus der Saat im Miste / ich bin Erfüllung – Kron – bin Zweck – / der abertausendjährigen Heiratskiste / aus Klugheit – Dummheit – Sauberkeit – Dreck.“
Volltext, Nr. 3/2014
Porzellangasse 1/69, A-1090 Wien. 56 Seiten, 2,90 Euro.
Akzente, H. 5/2014
Postfach 86 04 20, 81631 München, 96 Seiten, 7,90 Euro.
Offenes Feld, Heft 2
116 Seiten, 11,90 Euro.
Sinn und Form, H. 5/2014.
Redaktion, Postfach 21 02 50, 10502 Berlin. 96 Seiten, 7,90 Euro.
www.karawa.net, #006
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Michael Braun
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