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Dezember 2013
Es ist eine Sucht, eine kollektive Rauschbereitschaft, eine Kommunikations- Epidemie von planetarischem Ausmaß. Es ist die Sucht, unablässig und ohne Besinnungspausen in Internetforen Urteile zu produzieren, Bewertungen abzugeben und mehr oder weniger erhitzte Kommentare zu liefern. Ganz gleich, ob es um Bücher oder Filme, Homoehen, Fahrradhelme oder Waschmaschinen geht – alles wird rezensiert. Seit Erfindung der sozialen Netzwerke hat sich diese Manie, alles in Hochgeschwindigkeit einer Spontankritik zu unterziehen, immer weiter ausgebreitet – mit dem Effekt, dass sich intellektuelle Dürftigkeiten nun auch in der literarischen Sphäre eingenistet haben. Denn nicht nur die bekannten Online-Händler wie Amazon, sondern auch ernstzunehmende Literaturportale bieten ihren Nutzern die Gelegenheit zu Bewertungen und Kommentaren.
Die Folgen dieser Bewertungs-Manien hat nun Jan Drees in der aktuellen Ausgabe, der Nummer 37 der Literaturzeitschrift „BELLA triste“ untersucht. Sein Essay trägt den schönen Titel „Die Rezension des Lebens“ und er fragt nach der Verlässlichkeit dieser Urteile, die unser Leben immer mehr in Form von Hitparaden, Rankings und Beliebtheits-Listen strukturieren. Was Drees leider nicht thematisiert, ist der Umstand, dass die klassische Literaturkritik durch die globalisierte BewertungsLust deutlich an Terrain verliert. Wo das Rezensieren allgegenwärtig geworden ist, da hat der klassische Feuilleton-Rezensent sein Alleinstellungsmerkmal und seine Exklusivität der Wertung verloren. Wo bislang eine singuläre Edelfeder ihre geschmeidig formulierten Urteile abgeben konnte, da treten nun ganze Heerscharen von unbezahlten Alltags-Rezensenten auf den Plan und der Berufskritiker wird zu einer schwachen Stimme unter vielen.
Der erste Autor, der vor über hundert Jahren die kulturkritische Kommentierung der Weltlage zur Dauerbeschäftigung erhob, war der legendäre Österreicher Karl Kraus. Seine Zeitschrift „Die Fackel“, in der er von 1899 bis 1936 auf über zwanzigtausend Seiten alle denkbaren Zeitgeist-Phänomene kommentierte, war – so zeigt Jan Drees in seinem „BELLA triste“-Essay – gewissermaßen der erste große Kultur-Blog.
In welcher Weise hat nun die Facebook-Kultur die Fähigkeit ästhetischer Wertung verändert? Die Schriftstellerin Kathrin Passig legt zu dieser Frage eine kleine Soziologie der Internetcommunities vor. Im Oktober/November-Sonderheft der Zeitschrift „Merkur“, das sich den aktuellen Möglichkeiten von Gemeinschaftsbildung und Kollektivität inmitten der Individualisierung widmet, analysiert Passig die „Konsensillusion“ und scheinhafte Verbundenheit der einschlägigen Onlinefreundeskreise. Da Passig jedoch selbst eine Autorin ist, die ihre literarischen Ambitionen vorwiegend in Internet-Kontexten ausagiert, fällt ihr Urteil über die intellektuellen Qualitäten der Onlinegemeinschaften recht milde aus. Anstatt die grassierende Kommentar-Sucht als ungute Form hyperventilierender Kritik zu markieren, glaubt sie noch immer fest an die Produktivität der Internet-Diskurse.
Der temperamentvollste Beitrag im „Merkur“-Sonderheft gilt einer genuin westdeutschen Bewusstseinsform, die sich an einer klischeegetränkten Sicht auf die Verhältnisse in der ehemaligen DDR weidet. Der Journalist Matthias Dell hat unter dem boshaften Titel „Bring mir den Kopf von Gregor Gysi“ eine grimmige Attacke auf die Überheblichkeit des sogenannten „Hubert-Winkels-Wir“ in der westdeutschen Ästhetik und Literaturkritik gestartet. In einer polemischen Volte nimmt er einige unzitiert bleibende Äußerungen des Literaturkritikers Hubert Winkels zum Anlass, um das nach seiner Ansicht unterentwickelte Urteil über die Verhältnisse in der DDR bloßzulegen. Das Hauptziel seiner Polemik sind zwei berühmte Schlüsselerzählungen zur Tragödie des SED-Staats: Uwe Tellkamps Roman „Der Turm“ mitsamt seiner Verfilmung und Florian Henckel von Donnersmarcks Film „Das Leben der Anderen“. Dell mokiert sich über die angebliche „Reattraktivierung des bürgerlichen Ostdeutschen“ in Tellkamps Roman und vor allem über die Banalisierung der moralischen Insuffizienz der Hauptfigur zur „typisch romantischen Schwäche“. Für den Film „Das Leben der Anderen“ hat Dell nur Verachtung übrig: „Der Film richtet die DDR genau so ein, dass sie anschlussfähig an den bürgerlichen Geschmack des Westens wird, weil sie an unsanierte Kindheiten in den siebziger Jahren und zeitlose Ästhetik erinnert.“ Die sicherlich schmerzhafteste Pointe dieses „Merkur“-Essays aber ist, dass Tellkamps großes Epos literaturgenealogisch in die Nähe eines passionierten DDR-Staatsdichters gerückt wird, in die Nähe des ewigen DDR-Konformisten Dieter Noll.
Als Prototyp eines klischeeverliebten Intellektuellen ausgerechnet ein „Hubert-Winkels-Wir“ zu erfinden, bleibt eine kleine Infamie. Dass es möglich ist, ganz unpolemische und textbezogene Kritik an Hubert Winkels zu formulieren, hat nun in Heft 2/2013 der Zeitschrift „Ostragehege“ die Schriftstellerin Martina Hefter demonstriert. In einem „offenen Brief“ an Hubert Winkels wendet sie sich gegen Argumentationsfigur des Kritikers, der öffentlich sein Bedauern kundgetan hatte, dass Martina Hefter keine Romane mehr schreibe. Im Gegenzug erklärt nun die Autorin, dass ihre Abwendung vom Roman keineswegs einem von außen auferlegten Zwang oder einer Schreibkrise geschuldet sei, sondern sich einer freien künstlerischen Entscheidung verdanke – der Entscheidung für das Gedicht, für die Lyrik als derzeit für Martina Hefter aufregendstem künstlerischen Feld.
Neben dem offenen Brief Martina Hefters finden sich noch weitere lesenswerte Beiträge im neuen „Ostragehege“. Da ist Kathrin Schmidts Porträt des antike-besessenen Dresdner Dichters Gregor Kunz, von dem einige imponierende Gedicht-Exempel abgedruckt sind. Und da sind schöne Gedichte des kaum bekannten Myron Hurna, wunderbare Miniaturen von Jayne-Ann Igel und ein großartiges Vergänglichkeitsgedicht von Dieter Hofmann:
Es war einmal
Die alte Schule war einmal,
hier geht kein Kind mehr her.
Der alte Tanzsaal war einmal.
Auch hier gibts keine Wiederkehr.
Hier stirbt ein Alter in der Qual.
Hier bleibt die schöne Kirche leer.
Es dunkelt mehr und immer mehr.
Kehren wir noch einmal zu einer der Ausgangsfragen zurück. Welche Orte gibt es im Internet, die es mit dem Diskurs traditioneller Kulturzeitschriften aufnehmen können? Es gibt tatsächlich eine Online-Zeitschrift, die mittlerweile zu einer Instanz für ästhetische Theorie und moderne Lyrik geworden ist: Es ist die seit 2010 betriebene Zeitschrift www.karawa.net, die von den Schriftstellern Konstantin Ames, Tobias Amslinger, Norbert Lange und Léonce Lupette herausgegeben wird. Die jüngste Ausgabe, die Nummer 5 von karawa.net, widmet sich der „Babylonischen Leiter“ – und das entpuppt sich als weit ausgreifende Reflexion über die Aufgaben der Poesie von ihren antiken Ursprüngen bis heute. Im Zentrum steht ein fabelhafter Essay des Dichters Asmus Trautsch, der in seinen Exkursen über die „Musenschrift“ akribisch die Überlieferungsgeschichte zu den neun Schutzgöttinnen der Künste nachzeichnet und sich dabei vor allem auf die Theogonie des Hesiod stützt. Im titelgebenden Aufsatz „Babylonische Leiter“ untersucht der Essayist Stefan Ripplinger das Gedicht „Civitas Dei“ des hierzulande kaum bekannten amerikanischen Dichters William Bronks – eine geradezu mustergültige philologische Entzifferung eines Gedichts, das sich die Frage nach dem Gottesstaat stellt und dabei alles Metaphysische, Geheimnisvolle wegreißt.
Drei Herausgeber von karawa.net, Konstantin Ames, Tobias Amslinger und Norbert Lange, sind auch an dem neuen Heft der „Kritischen Ausgabe“ beteiligt, einer „Zeitschrift für Germanistik und Literatur“, die mit der aktuellen Nummer 25 eine ganz ausgezeichnete Einführung in die derzeit avanciertesten Poetiken der jüngeren Schriftsteller-Generation vorgelegt hat.
Hier hat die immer originelle Ann Cotten eine umfangreiche Analyse von sogenannten Listen-Gedichten publiziert, poetischen Texten also, die ihre Sätze, Bilder oder Zitate in der Art einer Liste anordnen. Als Extremformen dieser an Listen orientierten Texte nennt Ann Cotten ein Buch der Künstlerin U.D. Bauer. Es trägt den schlichten Titel „O.T.“, also „ohne Titel“, ein Roman, der ausschließlich aus Zitaten komponiert ist.
Unter den übrigen lesenswerten Beiträgen in der „Kritischen Ausgabe“ möchte ich drei hervorheben: Da sind zum einen die formal wagemutigen Gedichte von Norbert Lange zu nennen, die in unterschiedlicher Weise eine Radikalisierung lyrischer Rede anstreben. Die hier abgedruckte „siebende Dummkopfelegie“ zielt auf eine kunstvolle Demontage des alten Dichterpriestertums, wie es einst Rainer Maria Rilke in seinen Duineser Elegien verkörperte. Ein weiterer Text heißt „Symmetrische Verwüstungen“ – ein schönes Paradoxon, das die Bewahrung und gleichzeitige Auflösung poetischer Ordnung markiert. Der aus Völklingen stammende und in Berlin lebende Konstantin Ames liefert einen erhellenden Kommentar zu den Gedichten von Norbert Lange und verweist auf dessen Gegenposition zu vorgefundenen Autoritäten und Ordnungssystemen. Die konzentrierteste Gedicht-Exegese in der „Kritischen Ausgabe“ verdanken wir Tobias Amslinger, der sich mit den – wie es heißt – „poetischen Entgrenzungen“ der 1982 geborenen Mara Genschel auseinandersetzt. Die Arbeiten von Mara Genschel stellen den Prozesscharakter des Schreibens in den Vordergrund. Viele Gedichte werden als „Rohtexte“ noch einmal graphemisch bearbeitet, mit Streichungen und kleinen handschriftlichen Ergänzungen versehen. Seit 2012 präsentiert die Autorin zudem ihre Texte in kleinen Heften, die unter dem Titel „Referenzfläche“ in Kleinstauflagen von der Autorin selbst vertrieben werden. In seiner brillanten Analyse verweist Tobias Amslinger auf die Buchstabenvertauschungen in Genschels Gedicht über den heiligen Sebastian: Dieses Gedicht funktioniere wie eine „Kippfigur, in der Großes in Kleines übergeht“ und sich das Heilige unmerklich ins Profane verwandelt. In einer kleinen Inscriptio am Ende der Seite macht Genschel klar, dass der Text selbst zum verwundeten heiligen Sebastian wird: „Er steht dort mit geklebten Haarn / am Wegestand und ohne Schrein // zu Füßen ein geschnitzter Reim/unleserlich, ob Kreuz, ob Arm“.
BELLA triste 37, Herbst 2013“.
Neustädter Markt 3-4, 31134 Hildesheim. 100 Seiten, 5,35 Euro.
MERKUR 10/11 (2013)
Mommsenstr. 27, 10629 Berlin. Klett-Cotta Verlag, 230 Seiten, 21,90 Euro.
Ostragehege 71 (2013)
c/o Axel Helbig, Birkenstraße 16, 01328 Dresden. 70 Seiten, 4,90 Euro.
www.karawa.net No 5
„Babylonische Leiter“, Beiträge von Asmus Trautsch, Stefan Ripplinger, Mara Genschel u.a.
Kritische Ausgabe, No. 25
c/o Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft, Rheinische Friedrich-Wilhelm-Universität, Am Hof 1d, 53113 Bonn. 148 Seiten, 6 Euro.
Michael Braun 11.12.2013
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Michael Braun
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