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Februar 2014
In den erhitzten Diskursen über die zeitgenössische Lyrik werden die magischen Quellen der Dichtung oft vergessen – als da sind: der Schamanismus, die animistische Anrufung, der Beschwörungszauber. An ihrer archaischen Quelle ist die Dichtung Gesang und das „Geheul“ des Priesters und Heilers. In dieser frühen kultischen Praxis sind die Seele und die Dinge noch nicht voneinander getrennt, die Materie, die Tiere, Pflanzen und Menschen sind ineinander verwandelbar. In diese Sphäre des Ungeschiedenen führen uns seit einiger Zeit die Dichtungskonzepte einiger amerikanischer Dichter, die das Mystische und das Biologische in einer poetischen Symbiose vereinigen wollen. An diese schamanistische Vorstellung knüpfen auch die Gesänge der Navajo-Indianer an, denen der jüdisch- amerikanische Dichter und Ethno-Poet Jerome Rothenberg eine „Total-Übersetzung“, eine „Total Translation“ gewidmet hat. Die aktuelle Ausgabe, die Nummer 82 der Literaturzeitschrift „Schreibheft“ gibt einen faszinierenden Einblick in diese Welt der Sprachmagie. Im Blick auf diese Gesänge darf man sich den Dichter als „verrückten Hund“ oder aber als „weißes Geisterpferd“ vorstellen. Denn in dieser Dichtung sind die Tiere die poetischen Repräsentanten der leiblichen wie seelischen Entäußerung des Dichters. „Mal dich weiß an“, heißt es in einem dieser indianischen Gesänge, „steig auf ein weißes Pferd leg ihm die Hände auf die Augen und bring es dazu einen steilen und felsigen Hang hinunterzuspringen bis ihr beide zerschmettert seid.“ Jerome Rothenberg hat den paradox anmutenden Versuch unternommen, die ursprünglich rein orale Kultur der Navajo-Indianer in eine poetische Schriftform zu bringen. Die reinen Lautketten des Navajao-Idioms werden in ein Englisch transferiert, das seinerseits die schamanistische Energie des Ursprung-Gesangs in sich aufnimmt. Die Herkulesaufgabe der „Total Translation“ der Navajo-Lieder ins Deutsche hat sich im „Schreibheft“ der Berliner Dichter Norbert Lange aufgeladen. Er hat nicht nur das „Schreibheft“-Dossier zu Jerome Rothenberg zusammengestellt, sondern demonstriert auch am Beispiel des „Horse-Songs“, wie die archaischen poetischen Energien entbunden werden können. Das Pferd ist nicht nur bei den Navajo-Indianern, sondern auch in der frühen europäischen Dichtung das poetische Wappentier par exzellence. Norbert Lange findet für den „Horse-Song“ eine Sprache der unablässigen lautpoetischen Aufladung und absoluten semantischen Entgrenzung – eine Zerstäubung des Sinns zugunsten mystischen Stammelns.
Im zweiten Teil seines Dossiers startet Norbert Lange eine nicht minder faszinierende Expedition zu den experimentellen Polen-Gedichten Jerome Rothenbergs, in denen dieser nach den Quellen einer „jüdischen linguistischen Praxis“ forscht – nicht um eine genuin jüdische Identität zu finden, sondern „Identität zu bezweifeln oder in Frage zu stellen“. Der historische Fluchtpunkt dieser Bemühungen ist eine Dichtung der Shoah, die Adornos Verdacht gegen eine Dichtung nach Auschwitz geradezu umkehrt: „kein Sinn“, heißt es bei Jerome Rothenberg, „nach Auschwitz / gibt es nur noch Poesie keine Hoffnung / keine andere Sprache für die Heilung“.
In einem weiteren Kapitel zur „Total Translation“ stehen zwei kürzlich verstorbene Meister der Übersetzerzunft im Zentrum: Peter Urban, der die russische Literatur fast im Alleingang übersetzt hat, und Hanns Grössel, der Übersetzer der Weltpoetin Inger Christensen. Aus dem Nachlass des 2012 verstorbenen Hanns Grössel hat „Schreibheft“-Herausgeber Norbert Wehr einen sensationellen Fund ans Tageslicht befördert. Es geht um eine noch unveröffentlichte Szenographie Inger Christensens, einen dramatischen Text mit dem Titel „Der Äther“, den die Dichterin 1986 im Auftrag eines Kopengener Theaters verfasst hat. Vier mythische Gestalten treffen auf vier Figuren aus der Gegenwart, all diese Monologe und Meditationen gehen ineinander über. Der Text liest sich wie ein langes Gedicht Inger Christensens, das dem Prinzip folgt, wie es die Autorin in ihrem Text „Unsere Erzählung von der Welt“ beschrieben hat: „Die ganze fließende Veränderlichkeit, getragen vom ewig Gleichen.“
In seiner fabelhaften Laudatio auf den James Joyce-Übersetzer Friedhelm Rathjen hat Hans-Christian Oeser zudem einen Hinweis darauf eingeschmuggelt, was uns die Literaturzeitschrift „Schreibheft“ seit nunmehr dreißig Jahren zuverlässig liefert: nämlich „Handreichungen und Fußnoten zur Weltliteratur.“
In Oesers Laudatio findet sich auch eine schöne Definition der Perspektive, die ein Dichter, ein literarischer Übersetzer als auch ein Essayist einnimmt: Es ist in allen drei Fällen „ein unter dem besonderen Neigungswinkel seiner Existenz sprechendes Ich“.
Die Gattung des Essays, die eine Beweglichkeit des Denkens mit einem antisystematischen Impuls verbindet, hatte lange Zeit nur zwei Stützpunkte in der deutschen Zeitschriftenszene: den „Merkur“ als Zentralorgan eines unabhängigen Denkens und die Literaturzeitschrift „Sinn und Form“. Und sowohl im Januar-, als auch im Februarheft des „Merkur“ kann man auf der Suche nach gedankenreichen und stilistisch funkelnden Essays eine reiche Ernte einfahren. Jürgen Kaube erinnert im Januarheft des „Merkur“ daran, dass im Essay „das Argument als Kunstwerk“ aufleuchtet. Auffällig ist, dass dann in gleich zwei Beiträgen eine fast boshafte Kritik einer Schwundform des Essays formuliert wird: nämlich der Poetikvorlesung. Matteo Galli mokiert sich in einer Glosse über die Inflationierung der Poetikvorlesungen, die ihrem Autor zwar ein hohes symbolisches Kapital einbringen, das zugleich wieder entwertet wird, da mittlerweile jeder Autor mittleren Zuschnitts zur Poetikvorlesung antreten darf. In einem weiteren „Merkur“-Beitrag verweist Carlos Spoerhase auf eine grassierende Neigung in der Germanistik, sich mit literaturwissenschaftlichem Deutungswillen auf Werke der Gegenwartsliteratur zu stürzen, obwohl noch nicht einmal geklärt ist, wann denn der Beginn des Zeitsegments „Gegenwartsliteratur“ fixiert werden kann. Das Angebot an Epochenschwellen ist groß: Beginnt Gegenwartsliteratur 1945 oder 1949, setzt sie erst 1959 mit der „Blechtrommel“ von Günter Grass ein, 1968 mit der Studentenrevolte, 1989 mit dem Fall der Mauer oder 2001 mit dem Anschlag auf das World Trade Center? Eine Antwort darauf ist die aktualitätshungrige Literaturwissenschaft bislang schuldig geblieben.
Wie sich der Essay jenseits eines fachlliterarischen Diskurses konturieren kann – davon legt im Januarheft des „Merkur“ der Beitrag des amerikanischen Schriftstellers Kenneth Goldsmith ein beredtes Zeugnis ab. Er beginnt mit sehr lakonischen Sätzen, die für Verwirrung sorgen: „Ich bin ein dummer Schriftsteller“, so Goldsmith, „vielleicht einer der dümmsten, der je gelebt hat. Wenn ich eine Idee habe, frage ich mich, ob sie hinreichend dumm ist.“ Und wie zu erwarten, versteht sich Goldsmith sehr elegant darauf, im Fortgang des Textes die Selbstbezichtigung zu relativieren und die Kategorien „dumm“ und „schlau“ selbst in Frage zu stellen.
Eine solche Form einer gelenkigen, zwischen Erzählung, Aphorismus, Reflexion und Selbstironie changierenden Essayistik präsentiert nun immer häufiger die Leipziger Literaturzeitschrift EDIT. Die aktuelle Nummer 63 der EDIT ermöglicht in dieser Hinsicht ein lehrreiches Lesevergnügen. Hier treffen wir den in New York lebenden Kenneth Goldsmith wieder, hier als Vertreter eines „konzeptuellen Schreibens“.
In einem essayistischen Glanzstück des Heftes sabotiert die junge Publizistin Noemi Schneider alle liebgewonnenen Klischees über Männer und Frauen, über „Alphamädchen“ und Emanzen, über „Mannsbilder“ und besinnungslosen Sexismus. Daneben untersucht Danilo Scholz all die neueren Ehrbezeigungen und Heldenlegenden, die sich um den allseits bewunderten „Whistleblower“ Edward Snowden ranken und dämpft deutlich die Erwartungen an das neue Freund-Feind-Denken, das sich in der Gegenüberstellung von bösen Datenschnüfflern und heldenhafter digitaler Guerilla erschöpft. Der Essayist formuliert eine schmerzhafte Grundtatsache: „Mittlerweile sind wir alle zu erbarmungslosen Informanten unserer Selbst geworden. Die NSA wäre nicht das, wo sie ist, ohne die – freiwillige oder unfreiwillige – Hilfe von Emailanbietern und sozialen Netzwerken.“ Der Essay, der am intensivsten das Korrektheitsethos verletzt, ist sicherlich der als trockene Reportage drapierte Text über ein Treffen mit dem französischen Filmemacher Claude Lanzmann. Lanzmann erscheint hier als charmantes Ungeheuer, ein mürrischer Egomane und Womanizer, der sich als Mann von bald neunzig Jahren immer noch keine Pause gönnt und fünfzehn Frauen gleichzeitig mit Liebesbezeugungen beglückt.
Wenn als Gradmesser für die Qualität eines literaturkritischen Essays auch seine Lust an provokativer Inkorrektheit gelten kann, muss man gleich den Namen Ann Cotten nennen. Denn die sehr streitlustige Dichterin hat gerade wieder einen Essay über die zeitgenössische Lyrik veröffentlicht, der bei seinem Erscheinen im Internet sofort heftige Proteste generierte. Nun kann man Ann Cottens „Stocherung in den Grundlagen und Vorannahmen der gegenwärtigen Literatur“ in aller Ruhe nochmal nachlesen, und zwar in Heft 25 des österreichischen „Feuilletonmagazins“ „schreibkraft“. Es handelt sich um einen – wie fast immer bei Ann Cotten – sehr assoziativen, sehr kryptischen Essay über einige Protagonisten der Berliner Lyrik-Szene. Und neben vielen unverständlichen Passagen offeriert der Text auch einige aufschlussreiche Blitzlichter, etwa die Behauptung, dass „die Identität von krakeelendem Witz und mystischer Erleuchtung“ zu den Fundamenten philosophisch inspirierter Dichtung gehöre. Das ist auf den Dichter Hendrik Jackson gemünzt. Eher selten werden Komplimente verteilt. Ann Cotten attackiert lieber, und zwar vorzugsweise, wie sie schreibt, „irgendwie fade Dichter“. Und das klingt dann so: „…Tom Schulz, Björn Kuhligk, auch Ron Winkler betreiben, wie ein Fitness-Center, eine kleine Kraftmeierei in krassen, bunten Bildern.“ Man kann sicher einige Einwände erheben gegen die sprunghafte Essayistik Ann Cottens; dass sie langweilig sei, kann man ihr wirklich nicht nachsagen.
Es ist immer wieder erstaunlich, dass es bei all den Wucherungen der Internet-Sphäre immer noch Kulturmenschen gibt, die mit viel Mut zum Risiko und viel ästhetischem Sachverstand eine neue Kulturzeitschrift gründen. Eine ganz ausgezeichnete Neugründung ist „Still“, das sehr edel gestaltete „Magazin für junge Literatur und Fotografie“, das soeben die zweite Ausgabe vorgelegt hat. Das sehr aufwändig produzierte Heft ist durch sogenanntes crowdfunding finanziert worden und man kann nur hoffen, dass die Unterstützer dem Projekt die Treue halten. Mag sein, dass hier die Fotostrecken und die darin präsentierte Lyrik und Prosa noch etwas unverbunden nebeneinander stehen. Aber neben den Fotografien von Anne-Sophie Stolz, die ein paar Blicke wirft in die Seelenlähmung des Alltagslebens in der Provinz, sind besonders die Prosagedichte der jungen Schweizerin Lorena Simmel hervorzuheben. Es ist ein sehr filigraner, traumverlorener Zyklus über das Wasser und seine Aggregatzustände:
Ein einzelnes Glas Wasser erleuchtet die Welt,
es steht draussen unterm Baum.
Am liebsten trinkt man mittags draus,
dann ist das Wasser schon gallig.
Man kommt hier nur ganz kurz vorbei.
Manchmal fällt einem die Zunge ins Glas,
das Wasser vergrössert sie dann.
Schreibheft. No 82.
Rigodon Verlag, Nieberdingstraße 18, 45147 Essen. 180 Seiten, 13 Euro.
Merkur, H. 1 und 2 (2014)
Mommsenstr. 27, 10629 Berlin. Klett-Cotta Verlag, 96 Seiten, 12 Euro.
Edit, No 63
Gerichtsweg 28, 04103 Leipzig, 106 Seiten, 5 Euro.
schreibkraft, No 25
c/o Werner Schandor, Postfach 96, A-8011 Graz. 86 Seiten, 6 Euro.
Still, Heft 2
Sprengelstraße 6, 13353 Berlin. 86 Seiten, 12 Euro.
Michael Braun 28.03.2014
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Michael Braun
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