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Februar 2011
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Zeitschriftenlese  –  Februar 2010
von Michael Braun | Saarländischer Rundfunk – Literatur im Gespräch


Vor sechs Jahren ist Thomas Kling gestorben, der große Sprach­ekstatiker unserer Gegenwarts­dichtung. Mit seinem Tod scheint auch die kurze Ära der „Sprach­instal­lation“ in der deutschen Lyrik zu Ende gegangen zu sein, denn kein poeti­scher Zeit­genosse reicht bis heute an die elektri­sierende Präsenz seiner Auftritte heran. Seine Gedichte, in denen er in schroffer Fügung die Wörter durch die ganze Tempe­ratur­skala von extremer Kälte bis zur äußersten Hitze jagte, haben uns die sinnliche Materialität der Sprache vor Augen geführt.
  Wer diesem Dichter begegnete, dem blies erst einmal ein Sturm von verbaler Heftigkeit ins Gesicht. Denn Thomas Kling war ein unduldsamer Dichter, laut, aggressiv und poetisch kompromiss­los, er beherrschte das Handwerk der Ein­schüch­terung. Seit seinem ersten öffentlichen Auftritt in den Wiener Margareten­sälen im Januar 1983 zelebrierte er bei seinen Lesungen eine aggressive Form des Rezitierens, die alle Dimensionen der Wörter und Metaphern zum Leuchten brachte. Seine „Sprach­instal­lationen“ – das waren bewegende Poesie­ereignisse, zugleich artistische Masken­spiele eines Dichters, der sich gerne in historische Dichter­figuren verwandelte, etwa in mittel­alterliche Sänger oder russische Avantgardisten. Seine Helden waren immer die „manisch-nomadischen Sprach­reisenden“, wie er sie genannt hat, die unsere Wörterwelt auf der Suche nach den oralen Ursprüngen der Poesie durchqueren und dabei Körper und Sprache in ein Elementar­verhältnis setzen.
  Nach langer, sorgsamer Recherche hat nun die Literatur­zeitschrift „Schreib­heft“ in ihrer aktuellen Nummer 76 unver­öffent­lichte Gedichte, Essays, Interviews, Briefe, Hand­schriften und Fotos aus dem Nachlass des Dichters zu einem Thomas Kling-Dossier gebündelt. Der Titel dieses Dossiers spricht in schöner Prägnanz von den Passionen dieses Dichters. Er lautet: „Das brennende Archiv“. Das verweist zum einen auf die sprach­alchemis­tischen Ver­fahrens­weisen des Autors, zum andern auf sein kultur­archäologisches Interesse, auf sein wieder­holtes Eintauchen in historio­grapische Archive.
  Die Topik des „Brennens“ finden wir in vielen Gedichten und Essays als Leitmotiv wieder. Das wird zum Beispiel im Titel seines 1991 erschienenen Gedicht­bandes „brennstabm“ markiert. Oder in einem seiner instruktiven Gespräche mit Hans Jürgen Balmes, aus denen folgender Ausschnitt im „Schreib­heft“ zu lesen ist: „Es geht darum, daß die alten Wort­schichten untereinander zum Glimmen gebracht werden. Und dieser Brennsatz, der aus diesem Moment heraus resultiert, aus dem poetischen Moment, dem Metaphern­moment, dieses Aufglühen und Aufglimmen gibt einem die Möglich­keit, daß man in den Berg hineinschauen kann – das ist, glaube ich, die große Leistung, die Dichtung schaffen kann.“ Eine ganz ähnliche Charakte­ristik eines poetischen Verfahrens finden wir auch in Klings Büchner­preisrede auf Friederike Mayröcker aus dem Jahr 2001. Die Dichterin hatte den jungen Thomas Kling dereinst als „Magier einer ins nächste Jahrtausend weisenden Sprach­verwirk­lichung“ bezeichnet. In seiner Laudatio revan­chierte sich Kling für dieses Kompli­ment mit dem Hinweis auf das von einem „sprühenden Funken­regen“ durch­flimmerte „Mayröcker-Kino“, das wie mit einer „Sprach-Hoch­geschwin­dig­keits­kamera“ aufge­nommen worden sei. Die Dichtung „der schnellen Schnitte und Gegen­schnitte“, die Kling für das Werk Mayröckers geltend macht, kann auch als Markenzeichen seiner eigenen Dichtung beschrieben werden, die der Autor mal als „psychotische Polaroids“ qualifiziert hat.
  Dieses „Schreib­heft“-Dossier leistet einen enorm wichtigen Beitrag zur Thomas Kling-Rezeption, da hier ein Kern seiner poetischen Arbeit in den Focus der Aufmerk­samkeit gerückt wird, der zu Leb­zeiten des Dichters nicht die gebührende Beachtung gefunden hatte. Es ist die akribische Beschäftigung des Dichters mit seiner rhein­ländischen Herkunfts­welt, seine penible Recherche der topografischen, geologischen und natur­geschicht­lichen Elemente, die in seinen Gedichten auftauchen. Die bevorzugten Land­schaften Thomas Klings waren dabei der Mittel­rhein, die Alpen, Tirol und Brandenburg; Land­schaften, die er als histo­risches und auch als linguis­tisches Areal durchforschte.
  Ein faszinierendes Beispiel für dieses landschaftsgeschichtliche Erkennt­nis­interesse liefert sein Essay über den Nieder­rhein, den er – in einer heftigen Liebes­bezeugung – als „heroische Sprach­landschaft“ rühmt und dabei Verbin­dungen stiftet zwischen dem Baumbewuchs, den Vogelnamen und den Eigenheiten des rhein­ländischen Idioms. Gegen Ende des Essays schreibt sich Thomas Kling als Land­schafts­maler in eine natur­magische Emphase hinein – in eine Sehnsuchts­land­schaft aus Silber­pappeln und Trauerweiden, die im letzten Satz schließ­lich durchflogen wird vom Wappentier des Dichters, der Wespe. Die Identifikation des Dichters mit seinem Lieblings­tier ging ja so weit, dass er gerne einen schwarzgelben Streifen­pullover trug. Auch diese romantische Verbindung mit jenem Insekt, das Schnelligkeit und Aggres­sivität vereint, ist in einer Foto­sequenz im „Schreibheft“ festgehalten: Ein Foto zeigt Thomas Kling mit seinem legendären Wespen­pullover und einem Wespennest auf seinem Kopf.

Einer der wichtigsten Gesprächspartner und Freunde Thomas Klings, der Lyrik-Exeget und Verlags­lektor Hans Jürgen Balmes, hat im aktuellen Heft, der Ausgabe 4/2010 der Kultur­zeit­schrift „Neue Rundschau“, die verschlungenen Wege und „hidden lines“ skizziert, auf denen sich die deutsche und die inter­nationale Lyrik im 21.Jahrhundert begegnen. Die notorisch bekannten Lager­bildungen zwischen Traditionalisten auf der einen und den sogenannten Experi­mentellen auf der anderen Seite sind – so Balmes' These – obsolet geworden. Stattdessen haben sich „so viele Ansätze eines frucht­baren Oszil­lierens entwickelt, dass man von einem neuen Aggregat­zustand des Gedichtes sprechen kann: dem ›hybriden‹.“ Einige aufschluss­reiche Beispiele dieser poetischen Vernetzung und Hybridität hat Balmes in seinem Dossier über die „Lyrikosmose“ zusammen­getragen: Dabei liegen die durch ihre sinn­liche Bildlic­hkeit intensiven Gedichte des nordirischen Naturmagiers Seamus Heaney und die durch kunst­immanente Reflexionen aufgeladenen Texte der Kanadierin Anne Carson doch weit auseinander. Bei den deutschen Beiträgen zur „Lyrikosmose“ fällt als verblüf­fende Gemein­samkeit auf, dass die meisten Autoren sich doch in sicherem Reflexions­abstand zu ihren Gegenständen posi­tionieren, aus einer großen Distanz heraus ihre Stoffe bearbeiten und dabei ihre poetischen Referenz­systeme bereitwillig preisgeben. Das hätte man früher wohl einen „post­modernen“ Gestus genannt – das abgeklärte, zuweilen ironische Spiel mit den vor­handenen Beständen, das hochgebildete, aber auch risikoarme Verschieben von Kunst-Kulissen. Dass die Schrift brennt wie bei Thomas Kling, dass mit schmerzhaft intensiven Sprach­attacken erstmal jedes poetische Dekor zerfetzt und jede welt­anschauliche Gewissheit zertrümmert wird – diese Waghalsig­keit findet man in der „Neuen Rundschau“ nur bei wenigen Autoren, bei Henning Ziebritzki etwa, in Ansätzen auch bei dem zurecht viel­gelobten André Rudolph oder bei dem enthusias­mierten Dichter und Übersetzer Ralph Dutli. In einer kleinen Notiz zu seiner „confessional poetry“ stellt André Rudolph die ent­scheidende Frage an die Konzepte seiner Lyrikerkollegen: „was mir immer wieder bauchschmerzen bereitet, ist der ästhetizistische konsens meiner generation. soll es das schon gewesen sein? was ist mit den drängenden notzuständen der seele, terrorisiert vom gedicht?“ Ja, soll es das schon gewesen sein? Gibt es keine ver­störenden Erschüt­terungen des Humanum mehr, keine drängenden Existenz-Fragen, an die sich ein zeit­genös­sisches Gedicht heran­traut? Soll die moderne Poesie des 21. Jahr­hunderts auslaufen in resig­nierenden Sentenzen, wie sie Alexander Gumz in kritischer Absicht in eins seiner Gedichte integriert hat? Da heißt es nämlich: „das ist unsere zukunft: ein remix aus versprechen, die keiner hält…./dankeschön, dass die archive schrumpfen, dass das wissen/ über uns verschwindet.“ Hier markiert der Autor die klassisch-post­moderne Perspektive, die glaubt, in einer nach-geschicht­lichen Situation gelandet zu sein, in der nur noch Zitate verwaltet werden. Es gibt in der „Neuen Rundschau“ indes Gedichte, die sich gegen diese Abgeklärtheit aufbäumen und alles aufs Spiel setzen: auch die Frage nach Schönheit und Wahrheit und die Existenz des schreibenden Ich. In Henning Ziebritzkis Gedicht „Streich­holzturm“ prallen die Licht­welt der Kunst und verstörende schwarze Phantasien vom Unter­gang aufeinander – ohne dass ein gefestigtes, allwissendes Ich für beruhigende Ordnung sorgt. Der Protagonist des Gedichts ist offenbar unterwegs auf einer Reise und gerät dabei an den Rand seiner selbst, ausgehebelt von Panik­attacken und inneren Bildern der Apokalypse. Es ist eine Balance, die nicht mehr gelingen will: zwischen den Sehn­suchts­bildern vom „Garten im Morgenlicht“ und der Vision einer alles verschlin­genden Finster­nis. Vielleicht erfüllt sich mit solchen Gedichten nicht nur die Prognose von Hans Jürgen Balmes, dass wir in der Poesie des 21. Jahr­hunderts mit „Hybriden“ zu rechnen haben, sondern auch die Einsicht des Dichters Oskar Loerke, der bereits vor hundert Jahren die scheinbar unverein­baren Lager miteinander in Verbindung brachte. „Das Radikalste und Konser­vativste“ so Loerke, „bilden in der Kunst keinen Gegensatz, ja, wenn man Lust hat, ein Paradox gelten zu lassen, so sind sie dasselbe.“
  Die Aktualität von Oskar Loerkes Diktum kann man auch an weiteren Zeitschriften überprüfen, die der Gattung Lyrik gewogen sind. In der aktuellen Ausgabe, der Nummer 60 der Dresdner Zeitschrift „Ostragehege“ setzt Nico Bleutge die sehr lehrreiche Rubrik „Lagebesprechung“ fort, in der regelmäßig junge Lyriker vorgestellt werden. Diesmal ist es die 1980 geborene Katharina Schultens, deren Wahr­nehmungs­poesie mit ihrer Mesalliance von Körper­elementen und technischen Struk­turen durchaus jenen Wahr­nehmungs­exerzitien verwandt ist, mit denen ihr Porträtist Nico Bleutge bekannt geworden ist. In einem Gespräch mit Axel Helbig erläutert die Dichterin und Tänzerin Martina Hefter ihre Überlegungen zur Annähe­rungs­bewegung zwischen Tanz und Sprache. In Martina Hefters Gedichtband „Nach den Diskotheken“ spielt die Figur des Kranichs als Vogel und als Tanz­schritt eine zentrale Rolle. Wer den Umschlag ihres Gedicht­bands betrachtet, sieht einen Origami-Kranich, also einen kunstvoll gefalteten Papier-Vogel zielstrebig seine Bahnen ziehen. Einer alten japanischen Legende zufolge, bekommen die Glück­lichen, die eintausend Origami-Kraniche falten, von den Göttern einen Wunsch erfüllt. Im Buch selber hat der Kranich ebenfalls einen Auftritt, als Figur des Tanzes, des sogenannten Labyrinth-Tanzes, in dem die Tänzer sich auf einen imaginären Mittel­punkt zubewegen in einer mäan­dernden Tanzbewegung.
  „Gedichte wissen mehr“, hat der deutsch-britische Poet Michael Hamburger einmal behauptet. Wehe dem Gedicht, das weniger weiß als sein Verfasser! Manchmal können aber auch buchstäbliche Lese­fehler ein intensives Gespräch über Poesie anregen. Von der Wirkungs­macht eines solchen Fehlers berichtet die Dichterin Kerstin Preiwuß im neuen Heft, der Nummer 25 der Literatur­zeitschrift „Risse“, die vor allem neuer Literatur aus Mecklen­burg-Vor­pommern gewidmet ist. Kerstin Preiwuß bilanziert hier in ihren Aufzeichnungen einen Aufenthalt in Island und spricht von ihrer Angst vorm Verstummen in der fremden Lebens­welt der Insel. In diese Auf­zeichnungen integriert ist ein kleiner Brief­wechsel, in dem Preiwuß den Verfasser dieser Zeit­schriften­lese über einen aufschluss­reichen Lesefehler aufklärt. Es geht um das letzte Wort eines Preiwuß-Gedichts, um die Vertau­schung der Vokabel „Wiedergang“ durch das abgründige, verfalls­beses­sene Wort „Niedergang“. Die „Wiedergänger“ in Kerstin Preiwuß´ Gedicht „einmal sind von anatomischen tischen“ bilden ein Gegen­gewicht gegen jene apokalyptischen Mächte, die das schreibende Ich bedrohen. Der „Nieder­gang“, den der Kritiker zu entdecken glaubte, wird also durch den „Wiedergang“ gerade aufgehalten. Gedichte, so zeigt sich, wissen nicht nur mehr als ihre Verfasser, sie sind auch klüger als ihre Leser.

Schreibheft: No 76  externer Link
Rigodon Verlag, Nieberdingstr. 18, 41457 Essen. 190 Seiten, 13 Euro.

Neue Rundschau: H. 4/2010   externer Link
Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt a.M. 288 Seiten, 12 Euro.

Ostragehege. No 60  externer Link  
c/o Axel Helbig, Birkenstr. 16, 01328 Dresden. 84 Seiten, 4,90 Euro.

Risse. H. 25  externer Link  
c/o Literaturhaus Rostock, Doberaner Str. 21, 18057 Rostock. 128 Seiten, 4,50 Euro.

Michael Braun    17.02.2011       

 

 
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