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Februar 2011
Vor sechs Jahren ist Thomas Kling gestorben, der große Sprachekstatiker unserer Gegenwartsdichtung. Mit seinem Tod scheint auch die kurze Ära der „Sprachinstallation“ in der deutschen Lyrik zu Ende gegangen zu sein, denn kein poetischer Zeitgenosse reicht bis heute an die elektrisierende Präsenz seiner Auftritte heran. Seine Gedichte, in denen er in schroffer Fügung die Wörter durch die ganze Temperaturskala von extremer Kälte bis zur äußersten Hitze jagte, haben uns die sinnliche Materialität der Sprache vor Augen geführt.
Wer diesem Dichter begegnete, dem blies erst einmal ein Sturm von verbaler Heftigkeit ins Gesicht. Denn Thomas Kling war ein unduldsamer Dichter, laut, aggressiv und poetisch kompromisslos, er beherrschte das Handwerk der Einschüchterung. Seit seinem ersten öffentlichen Auftritt in den Wiener Margaretensälen im Januar 1983 zelebrierte er bei seinen Lesungen eine aggressive Form des Rezitierens, die alle Dimensionen der Wörter und Metaphern zum Leuchten brachte. Seine „Sprachinstallationen“ – das waren bewegende Poesieereignisse, zugleich artistische Maskenspiele eines Dichters, der sich gerne in historische Dichterfiguren verwandelte, etwa in mittelalterliche Sänger oder russische Avantgardisten. Seine Helden waren immer die „manisch-nomadischen Sprachreisenden“, wie er sie genannt hat, die unsere Wörterwelt auf der Suche nach den oralen Ursprüngen der Poesie durchqueren und dabei Körper und Sprache in ein Elementarverhältnis setzen.
Nach langer, sorgsamer Recherche hat nun die Literaturzeitschrift „ Schreibheft“ in ihrer aktuellen Nummer 76 unveröffentlichte Gedichte, Essays, Interviews, Briefe, Handschriften und Fotos aus dem Nachlass des Dichters zu einem Thomas Kling-Dossier gebündelt. Der Titel dieses Dossiers spricht in schöner Prägnanz von den Passionen dieses Dichters. Er lautet: „Das brennende Archiv“. Das verweist zum einen auf die sprachalchemistischen Verfahrensweisen des Autors, zum andern auf sein kulturarchäologisches Interesse, auf sein wiederholtes Eintauchen in historiograpische Archive.
Die Topik des „Brennens“ finden wir in vielen Gedichten und Essays als Leitmotiv wieder. Das wird zum Beispiel im Titel seines 1991 erschienenen Gedichtbandes „brennstabm“ markiert. Oder in einem seiner instruktiven Gespräche mit Hans Jürgen Balmes, aus denen folgender Ausschnitt im „ Schreibheft“ zu lesen ist: „Es geht darum, daß die alten Wortschichten untereinander zum Glimmen gebracht werden. Und dieser Brennsatz, der aus diesem Moment heraus resultiert, aus dem poetischen Moment, dem Metaphernmoment, dieses Aufglühen und Aufglimmen gibt einem die Möglichkeit, daß man in den Berg hineinschauen kann – das ist, glaube ich, die große Leistung, die Dichtung schaffen kann.“ Eine ganz ähnliche Charakteristik eines poetischen Verfahrens finden wir auch in Klings Büchnerpreisrede auf Friederike Mayröcker aus dem Jahr 2001. Die Dichterin hatte den jungen Thomas Kling dereinst als „Magier einer ins nächste Jahrtausend weisenden Sprachverwirklichung“ bezeichnet. In seiner Laudatio revanchierte sich Kling für dieses Kompliment mit dem Hinweis auf das von einem „sprühenden Funkenregen“ durchflimmerte „Mayröcker-Kino“, das wie mit einer „Sprach-Hochgeschwindigkeitskamera“ aufgenommen worden sei. Die Dichtung „der schnellen Schnitte und Gegenschnitte“, die Kling für das Werk Mayröckers geltend macht, kann auch als Markenzeichen seiner eigenen Dichtung beschrieben werden, die der Autor mal als „psychotische Polaroids“ qualifiziert hat.
Dieses „ Schreibheft“-Dossier leistet einen enorm wichtigen Beitrag zur Thomas Kling-Rezeption, da hier ein Kern seiner poetischen Arbeit in den Focus der Aufmerksamkeit gerückt wird, der zu Lebzeiten des Dichters nicht die gebührende Beachtung gefunden hatte. Es ist die akribische Beschäftigung des Dichters mit seiner rheinländischen Herkunftswelt, seine penible Recherche der topografischen, geologischen und naturgeschichtlichen Elemente, die in seinen Gedichten auftauchen. Die bevorzugten Landschaften Thomas Klings waren dabei der Mittelrhein, die Alpen, Tirol und Brandenburg; Landschaften, die er als historisches und auch als linguistisches Areal durchforschte.
Ein faszinierendes Beispiel für dieses landschaftsgeschichtliche Erkenntnisinteresse liefert sein Essay über den Niederrhein, den er – in einer heftigen Liebesbezeugung – als „heroische Sprachlandschaft“ rühmt und dabei Verbindungen stiftet zwischen dem Baumbewuchs, den Vogelnamen und den Eigenheiten des rheinländischen Idioms. Gegen Ende des Essays schreibt sich Thomas Kling als Landschaftsmaler in eine naturmagische Emphase hinein – in eine Sehnsuchtslandschaft aus Silberpappeln und Trauerweiden, die im letzten Satz schließlich durchflogen wird vom Wappentier des Dichters, der Wespe. Die Identifikation des Dichters mit seinem Lieblingstier ging ja so weit, dass er gerne einen schwarzgelben Streifenpullover trug. Auch diese romantische Verbindung mit jenem Insekt, das Schnelligkeit und Aggressivität vereint, ist in einer Fotosequenz im „ Schreibheft“ festgehalten: Ein Foto zeigt Thomas Kling mit seinem legendären Wespenpullover und einem Wespennest auf seinem Kopf.
Einer der wichtigsten Gesprächspartner und Freunde Thomas Klings, der Lyrik-Exeget und Verlagslektor Hans Jürgen Balmes, hat im aktuellen Heft, der Ausgabe 4/2010 der Kulturzeitschrift „ Neue Rundschau“, die verschlungenen Wege und „hidden lines“ skizziert, auf denen sich die deutsche und die internationale Lyrik im 21.Jahrhundert begegnen. Die notorisch bekannten Lagerbildungen zwischen Traditionalisten auf der einen und den sogenannten Experimentellen auf der anderen Seite sind – so Balmes' These – obsolet geworden. Stattdessen haben sich „so viele Ansätze eines fruchtbaren Oszillierens entwickelt, dass man von einem neuen Aggregatzustand des Gedichtes sprechen kann: dem ›hybriden‹.“ Einige aufschlussreiche Beispiele dieser poetischen Vernetzung und Hybridität hat Balmes in seinem Dossier über die „Lyrikosmose“ zusammengetragen: Dabei liegen die durch ihre sinnliche Bildlichkeit intensiven Gedichte des nordirischen Naturmagiers Seamus Heaney und die durch kunstimmanente Reflexionen aufgeladenen Texte der Kanadierin Anne Carson doch weit auseinander. Bei den deutschen Beiträgen zur „Lyrikosmose“ fällt als verblüffende Gemeinsamkeit auf, dass die meisten Autoren sich doch in sicherem Reflexionsabstand zu ihren Gegenständen positionieren, aus einer großen Distanz heraus ihre Stoffe bearbeiten und dabei ihre poetischen Referenzsysteme bereitwillig preisgeben. Das hätte man früher wohl einen „postmodernen“ Gestus genannt – das abgeklärte, zuweilen ironische Spiel mit den vorhandenen Beständen, das hochgebildete, aber auch risikoarme Verschieben von Kunst-Kulissen. Dass die Schrift brennt wie bei Thomas Kling, dass mit schmerzhaft intensiven Sprachattacken erstmal jedes poetische Dekor zerfetzt und jede weltanschauliche Gewissheit zertrümmert wird – diese Waghalsigkeit findet man in der „ Neuen Rundschau“ nur bei wenigen Autoren, bei Henning Ziebritzki etwa, in Ansätzen auch bei dem zurecht vielgelobten André Rudolph oder bei dem enthusiasmierten Dichter und Übersetzer Ralph Dutli. In einer kleinen Notiz zu seiner „confessional poetry“ stellt André Rudolph die entscheidende Frage an die Konzepte seiner Lyrikerkollegen: „was mir immer wieder bauchschmerzen bereitet, ist der ästhetizistische konsens meiner generation. soll es das schon gewesen sein? was ist mit den drängenden notzuständen der seele, terrorisiert vom gedicht?“ Ja, soll es das schon gewesen sein? Gibt es keine verstörenden Erschütterungen des Humanum mehr, keine drängenden Existenz-Fragen, an die sich ein zeitgenössisches Gedicht herantraut? Soll die moderne Poesie des 21. Jahrhunderts auslaufen in resignierenden Sentenzen, wie sie Alexander Gumz in kritischer Absicht in eins seiner Gedichte integriert hat? Da heißt es nämlich: „das ist unsere zukunft: ein remix aus versprechen, die keiner hält…./dankeschön, dass die archive schrumpfen, dass das wissen/ über uns verschwindet.“ Hier markiert der Autor die klassisch-postmoderne Perspektive, die glaubt, in einer nach-geschichtlichen Situation gelandet zu sein, in der nur noch Zitate verwaltet werden. Es gibt in der „ Neuen Rundschau“ indes Gedichte, die sich gegen diese Abgeklärtheit aufbäumen und alles aufs Spiel setzen: auch die Frage nach Schönheit und Wahrheit und die Existenz des schreibenden Ich. In Henning Ziebritzkis Gedicht „Streichholzturm“ prallen die Lichtwelt der Kunst und verstörende schwarze Phantasien vom Untergang aufeinander – ohne dass ein gefestigtes, allwissendes Ich für beruhigende Ordnung sorgt. Der Protagonist des Gedichts ist offenbar unterwegs auf einer Reise und gerät dabei an den Rand seiner selbst, ausgehebelt von Panikattacken und inneren Bildern der Apokalypse. Es ist eine Balance, die nicht mehr gelingen will: zwischen den Sehnsuchtsbildern vom „Garten im Morgenlicht“ und der Vision einer alles verschlingenden Finsternis. Vielleicht erfüllt sich mit solchen Gedichten nicht nur die Prognose von Hans Jürgen Balmes, dass wir in der Poesie des 21. Jahrhunderts mit „Hybriden“ zu rechnen haben, sondern auch die Einsicht des Dichters Oskar Loerke, der bereits vor hundert Jahren die scheinbar unvereinbaren Lager miteinander in Verbindung brachte. „Das Radikalste und Konservativste“ so Loerke, „bilden in der Kunst keinen Gegensatz, ja, wenn man Lust hat, ein Paradox gelten zu lassen, so sind sie dasselbe.“
Die Aktualität von Oskar Loerkes Diktum kann man auch an weiteren Zeitschriften überprüfen, die der Gattung Lyrik gewogen sind. In der aktuellen Ausgabe, der Nummer 60 der Dresdner Zeitschrift „ Ostragehege“ setzt Nico Bleutge die sehr lehrreiche Rubrik „Lagebesprechung“ fort, in der regelmäßig junge Lyriker vorgestellt werden. Diesmal ist es die 1980 geborene Katharina Schultens, deren Wahrnehmungspoesie mit ihrer Mesalliance von Körperelementen und technischen Strukturen durchaus jenen Wahrnehmungsexerzitien verwandt ist, mit denen ihr Porträtist Nico Bleutge bekannt geworden ist. In einem Gespräch mit Axel Helbig erläutert die Dichterin und Tänzerin Martina Hefter ihre Überlegungen zur Annäherungsbewegung zwischen Tanz und Sprache. In Martina Hefters Gedichtband „Nach den Diskotheken“ spielt die Figur des Kranichs als Vogel und als Tanzschritt eine zentrale Rolle. Wer den Umschlag ihres Gedichtbands betrachtet, sieht einen Origami-Kranich, also einen kunstvoll gefalteten Papier-Vogel zielstrebig seine Bahnen ziehen. Einer alten japanischen Legende zufolge, bekommen die Glücklichen, die eintausend Origami-Kraniche falten, von den Göttern einen Wunsch erfüllt. Im Buch selber hat der Kranich ebenfalls einen Auftritt, als Figur des Tanzes, des sogenannten Labyrinth-Tanzes, in dem die Tänzer sich auf einen imaginären Mittelpunkt zubewegen in einer mäandernden Tanzbewegung.
„Gedichte wissen mehr“, hat der deutsch-britische Poet Michael Hamburger einmal behauptet. Wehe dem Gedicht, das weniger weiß als sein Verfasser! Manchmal können aber auch buchstäbliche Lesefehler ein intensives Gespräch über Poesie anregen. Von der Wirkungsmacht eines solchen Fehlers berichtet die Dichterin Kerstin Preiwuß im neuen Heft, der Nummer 25 der Literaturzeitschrift „ Risse“, die vor allem neuer Literatur aus Mecklenburg-Vorpommern gewidmet ist. Kerstin Preiwuß bilanziert hier in ihren Aufzeichnungen einen Aufenthalt in Island und spricht von ihrer Angst vorm Verstummen in der fremden Lebenswelt der Insel. In diese Aufzeichnungen integriert ist ein kleiner Briefwechsel, in dem Preiwuß den Verfasser dieser Zeitschriftenlese über einen aufschlussreichen Lesefehler aufklärt. Es geht um das letzte Wort eines Preiwuß-Gedichts, um die Vertauschung der Vokabel „Wiedergang“ durch das abgründige, verfallsbesessene Wort „Niedergang“. Die „Wiedergänger“ in Kerstin Preiwuß´ Gedicht „einmal sind von anatomischen tischen“ bilden ein Gegengewicht gegen jene apokalyptischen Mächte, die das schreibende Ich bedrohen. Der „Niedergang“, den der Kritiker zu entdecken glaubte, wird also durch den „Wiedergang“ gerade aufgehalten. Gedichte, so zeigt sich, wissen nicht nur mehr als ihre Verfasser, sie sind auch klüger als ihre Leser.
Schreibheft: No 76
Rigodon Verlag, Nieberdingstr. 18, 41457 Essen. 190 Seiten, 13 Euro.
Neue Rundschau: H. 4/2010
Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt a.M. 288 Seiten, 12 Euro.
Ostragehege. No 60
c/o Axel Helbig, Birkenstr. 16, 01328 Dresden. 84 Seiten, 4,90 Euro.
Risse. H. 25
c/o Literaturhaus Rostock, Doberaner Str. 21, 18057 Rostock. 128 Seiten, 4,50 Euro.
Michael Braun 17.02.2011
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Michael Braun
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