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Dezember 2011
„Spieglein Spieglein an der Wand – wer ist der Schönste im ganzen Land?“ Es ist nicht nur die böse Königin aus Grimms Märchen, die sich einen Triumph von der Befragung des Spiegels erhofft und eine Enttäuschung erlebt. Wie im Märchen kann der Blick in den Spiegel, kann die unerwartete Selbstbegegnung auch für Schriftsteller zu unerfreulichen Ergebnissen führen. So widerfuhr es auch dem radikal skeptischen Schriftsteller Andreas Maier, der in seiner aktuellen Kolumne in der neuen Ausgabe, der Nummer 4/2011 der Literaturzeitung „ Volltext“ von einem kleinen Offenbarungserlebnis vor einem Braunschweiger Garderobenspiegel berichtet. Die luxuriöse Lesereisen- und Tingel-Existenz erfolgreicher Gegenwartsautoren bekommt hier das Signum der Erbärmlichkeit. „Wir haben uns alle zu Idioten gemacht“, bilanziert Andreas Maier in seiner schönen Selbstbeschimpfungs-Suada im Geiste Thomas Bernhards, „jeder von uns … Du schreibst ein Buch und tingelst es ab, dann schreibst du ein Buch und tingelst es ab. Und selbst wenn du es nicht abtingelst, tingelst du es ab, weil Nicht-Abtingeln genauso ein Abtingeln bedeutet. Die angeblichen Nicht-Abtingler, das sind die Leute, die überall Interviews an allen Stellen im so genannten Literaturbetrieb geben und in all diesen Interviews immer behaupten, sie würden nie wieder Interviews im Literaturbetrieb geben. Es gibt Leute, die machen so etwas seit fünfundzwanzig Jahren. Seht ihr, so war Rex Gildo nicht. Der spuckte seinem Publikum nicht ins Gesicht. Der sprang wenigstens aus dem Fenster, weil er sein Publikum nicht mehr aushielt. Hut ab.“ Am Schlagersänger Rex Gildo gewinnt Andreas Maier sein Modell einer lebensgeschichtlichen Konsequenz für Künstler, die sich dem enervierenden Zirkel des Immergleichen entziehen wollen. Der Suizid erscheint bei Maier – nicht zum ersten Mal übrigens – als ideale Handlungsform für Autoren, die den Ekel und den Ennui in ihrem vielfältig subventionierten Biotop nicht mehr aushalten mögen. Das ist als eine durchaus ernst gemeinte Invektive gegen das Jammern auf hohem Niveau zu lesen, in das sich Schriftsteller so behaglich wie in einer Schmollecke einrichten.
Angriffslustige Interventionen in die Literatur-Debatte wie die von Maier findet man derzeit nur in diesem österreichischen Literaturblatt, das wie keine andere Zeitschrift dieser Tage die heiligen Kühe des literarischen Milieus attackiert. Ein weiterer „Volltext“-Beitrag von Uwe Schütte konzentriert sich auf einige Idiosynkrasien des Schriftstellers W.G. Sebald, der in der englischsprachigen Welt mittlerweile als „prime speaker of the holocaust“ gerühmt und in Deutschland – so Schütte etwas boshaft – als „Messias aus dem Allgäu“ verehrt wird. Schütte zeigt an einigen Passagen aus Sebalds Romanen und Erzählungen dessen Aversionen gegen eine politische Gesinnungsethik und die deutlich erkennbare Lust, systematisch die politische inkorrekte Vokabel „Neger“ für Menschen afrikanischer oder afroamerikanischer Herkunft zu verwenden. Freilich ist diese Tendenz zur Sabotage der Korrektheitsethik in jüngerer Zeit auch bei anderen Autoren nachweisbar. So findet sich die „Neger“- Vokabel in demonstrativer Verwendung auch bei Georg Klein oder auch in einem Gedicht Adolf Endlers, bei dem ein „schwarzer Sergeant“ auch als „riesiger Neger“ bezeichnet wird.
Mit der akribischen Zerlegung ideologischer Vorurteile und Ressentiments ist seit Jahrzehnten die Kulturzeitschrift „Merkur“ befasst, und zwar mit wachsendem Erfolg. Das Programm der scheidenden Herausgeber Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel war stets das Projekt einer „schonungslosen Selbstaufklärung“ der Intelligenz, die Favorisierung einer radikal ästhetischen Perspektive und eines offenen Denkens, zumeist gegen den Konsens der linksliberalen Öffentlichkeit. In ihrem Abschiedsheft, der aktuellen Dezember-Ausgabe des „Merkur“ ziehen Bohrer und Scheel nun ihre Bilanz aus ihrer fast dreißigjährigen Zusammenarbeit. Karl Heinz Bohrer wiederholt noch einmal sein Bekenntnis zu einer radikalen Ästhetik, die sich an Friedrich Schlegels romantischer Zeitschrift „Athenäum“ orientiert und resümiert seine Kontroversen mit linken Intellektuellen. In Bohrers Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas kam es dabei zu einem offenbar irreparablen Bruch ihrer langjährigen Freundschaft. In Bohrers und Scheels Rekonstruktion der wegweisenden „Merkur“-Essays der letzten 25 Jahre wird auch deutlich, dass es diese erfrischend un-dogmatischen, stets auf nonkonformistischen Positionen beharrenden Beiträge waren, die – pro domo gesprochen – den fortlaufenden Bildungsroman für den hier schreibenden Zeitschriftenkritiker lieferten. Es waren Beiträge wie Bohrers frühe Polemik gegen die „Ästhetik des Staates“ und die „Hässlichkeit“ des grünen Milieus, die das Feld der politischen Debatte aufwühlten, zuletzt im August-Heft mit der Polemik gegen die Selbstverzwergung Deutschlands und den außenpolitischen Quietismus der deutschen Regierung. Und wenn nun im aktuellen Dezember-Heft aus der Feder des britischen Autors Jonathan Keates eine abseitig scheinende Liebeserklärung an das traditionelle Engländertum zu lesen ist, ein Bekenntnis zum englischen Patriotismus und Individualismus, dann ist das auch als kaum verhüllte Confessio Karl Heinz Bohrers zu lesen, der viele Jahre in England gelebt und dort das britische Selbstwertgefühl adoptiert hat.
Eine weitere lebenslange Passion Karl Heinz Bohrers ist sein Faible für die historischen Avantgardebewegungen, das sich früh in seinem grandiosen Essay über „Surrealismus und Terror“ manifestiert hat. Einen Nachhall davon liefert im aktuellen „Merkur“-Heft die subtile Spurensuche nach „Anna Blume“, einer Kunstfigur des Dadaisten Kurt Schwitters, die möglicherweise einer leibhaftigen Anna Blume nachempfunden ist, wie der Kunsthistoriker Hans Ries ausführt.
Dem okkultistisch gefärbten Gedankenhintergrund der Avantgarde hat sich vor einiger Zeit bereits ein hochinteressantes Heft der „Neuen Rundschau“, das Heft 2/2011 gewidmet. Hier kann der Philosoph Christoph Türcke en detail die Affinitäten führender Avantgarde-Propheten wie Wassily Kandinsky und Kasimir Malewitsch, zu den ideologischen Substraten der theosophischen Gesellschaft um Helena Blavatsky belegen. Die Phantasmen des „reinen Klangs“, die Kandinsky den okkultistischen Zirkeln um Blavatsky entlehnt hat, begegnen einem auch bei Stefan George, der seine Poesie-Darbietungen in geradezu gottesdienstliche Zeremonien einbettete. Und selbst der radikale Surrealismus sei, so Türcke, von einem okkulten Hauch umweht, handelt doch André Bretons Roman „Nadja“ von einer hellseherisch begabten jungen Frau, deren mediale Fähigkeiten den Autor geradezu ansaugen.
Wenn man sich in heutigen Zeitschriften nach den ästhetischen Erben der historischen Avantgardebewegungen umsehen will, muss man eine Lupe zu Hilfe nehmen. Denn viele Innovationsbemühungen der sogenannten jungen Schriftstellergeneration nehmen sich aus wie matte Stilübungen literarischer Praktikanten. In der typografisch zwar einfallsreichen, textuell eher substanzarmen Zeitschrift für „junge Literatur“ „BELLA triste“, die soeben mit dem Förderpreis der Kurt-Wolff-Stiftung ausgezeichnet worden ist, weht – im Hinblick auf avantgardistische Konzepte – bestenfalls ein laues Lüftchen. Neugierig machen in Heft 31 immerhin die Gedichte von Jan Skudlarek, dessen literarische Referenzfiguren aus der allerjüngsten Gegenwart stammen, wird hier doch in markanter Signalgebung ein „rainaldgoetzgesicht“ aufgerufen.
Sehr viel mehr Abenteuer des Ästhetischen ermöglicht das neue Heft, die Nummer 57 der Leipziger Literaturzeitschrift EDIT. Hier findet man aufregende Essays junger amerikanischer Autoren, etwa von Wayne Koestenbaum über „Heideggers Geliebte“, ein Text, der sich spielerisch-assoziativ durch die deutsche Philosophie schlängelt. Zu den bemerkenswerten Funden in EDIT gehören auch Anagramme und Überschreibungen eines Gedichts von Carl Friedrich Claus, des visionären experimentellen Künstlers und Graphomanen, der seine Texte systematisch in faszinierende Schriftbilder verwandelte. Hier treibt sich auch der sprachverrückteste Dichter der jungen Generation herum, der aus dem Saarland stammende und in Berlin lebende Konstantin Ames, der in wortakrobatischer Vergnügung einige Stilmasken aufsetzt und sprachreflexiv dekonstruierte „Weltwaisen“ zum Besten gibt. „Vor stilfaschisten : barrikaden errichten“, postuliert da beispielsweise ein Text, der verschiedene Dichtergesten parodiert und am Ende in ironischer Verkehrung fordert: „Den jungdichtern ist komplexitätsreduktion zu wünschen = 1. brandrede an die stolterfohtepigonen“. Diese Produktionsanweisung, Gedichte zu ermäßigten hermeneutischen Konditionen zu schreiben, wird jedoch sehr wahrscheinlich von Konstantin Ames nie befolgt werden.
Auf welchen Lese-Wegen man zu einem Dichterleben gelangen kann, verdeutlicht in einer schönen Bekenntnis-Collage das neue Heft, die sechste Ausgabe der Zeitschrift „sprachgebunden“. Die Herausgeber Jan Valk, Jonas Reuber und Traudl Bürger haben mit insgesamt fünfzehn Autoren und Ästheten aus allen Weltwinkeln über ihre literarische Sozialisation gesprochen und daraus eine Stimmen-Komposition über das Lesen geknüpft. Ausgangspunkt ist die berühmte Feststellung des argentinischen Weltautors Jorge Luis Borges, dass er sich das Paradies immer als eine Bibliothek vorgestellt habe.
In diesem Sinne einer Lebens- und Welt-Erweckung erzählen die einzelnen Autoren von ihren Urszenen der Lektüre. Der älteste Beiträger des Heftes, der Filmemacher Völker Schlöndorff , berichtet von einer Parallelität der Schockerfahrungen. Die Grausamkeit des Krieges, die ihn als Kind in Berichten über getötete Soldaten heimsuchte, spiegelte sich kurz darauf auch in seiner Lektüre der Märchen der Brüder Grimm, so dass für Schlöndorff von Beginn an fühlbar wurde, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist.
Nicht selten kommt es in dieser Partitur der Lese-Erfahrungen auch zu biografischen Ähnlichkeiten und Überschneidungen der Lektüre. Es kommt zum Beispiel zu gewaltigen Absetzbewegungen, wenn Karl May oder Hermann Hesse gestreift werden, an denen aber doch kaum je ein Autor vorbeikam. Auch werden einem einige Überraschungen aufgetischt, so etwa das Bekenntnis Thomas Meineckes, dem von seinen Eltern als Aufklärungsbuch ausgerechnet ein Roman von Henry Miller aufs Kopfkissen gelegt wurde. Oder man staunt über die Empfehlung des bekennenden Marxisten Dietmar Dath, der sich vorbehaltlos zum Buch der Bücher bekennt, der Bibel. Die schönste Geschichte des Lesens erzählt in „sprachgebunden“ der mongolisch-deutsche Autor Galsan Tschinag. „In unserem Lehrbuch“, heißt es da, „stand ein Märchen, das hieß ›Bremer Stadtmusikanten‹. Ich hab nicht genau gewusst, was ›Bremer› zu bedeuten hat. Ich hab gedacht, hinterm Berg, dem nächsten oder übernächsten, muss dieser Ort liegen. Obwohl ich die Stadt nie gesehen habe, habe ich gedacht, das Gehöft ›Bremen‹ liegt wahrscheinlich hinter zwei, drei Bergen…ich konnte es viele Jahre nicht vergessen…. Ja, ja, das ist ein mongolisches Märchen, habe ich (einem Dozenten) geantwortet, aus dem Altai, aus der Westmongolei …“
Volltext Nr. 4/2011
Porzellangasse 11/69, A-1090 Wien. 48 Seiten, 2,90 Euro.
Merkur 11/2011
Mommsenstr. 27, 10629 Berlin. 96 Seiten, 12 Euro
Neue Rundschau, Heft 2/2011
Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt a.M., 190 Seiten, 12 Euro.
BELLA triste, H. 31
Neustädter Markt 3-4, 31134 Hildesheim. 106 Seiten, 5,35 Euro.
Edit Nr. 57,
Gerichtsweg 28, 04103 Leipzig. 130 Seiten, 5 Euro.
sprachgebunden, 6. Ausgabe (Sonderausgabe)
Gärtnerstr. 4, 10245 Berlin. 114 Seiten, 9 Euro.
Michael Braun 14.12.2011
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Michael Braun
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