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Dezemberr 2017
       
Zeitschriftenlese  –  Dezemberr 2017
von Michael Braun | Saarländischer Rundfunk – Literatur im Gespräch


Im hektischen Gerangel unserer nervösen Informationsmedien um die Deutungshoheit wächst derzeit die Furcht, dass die verlässlichen Fundamente des Journalismus zerbröckeln und die allgegenwärtigen „Fake News“ jeden Wahrheitsanspruch auflösen. Ein Hochmut der literarischen Intellektuellen gegenüber der Hysterie im politischen Journalismus ist jedoch nicht angebracht. Wer genauer hinschaut, macht nämlich die Entdeckung, dass bereits die Anfänge unseres gegenwärtigen Literaturbetriebs von „Fake News“ infiziert waren.
  Es ist nur etwas in Vergessenheit geraten, dass der meistgelesene Lyriker der deutschen Nachkriegsliteratur ein Betrüger war. Im September 1952 erschien im Eugen Diederichs Verlag ein Gedichtband mit dem existenzialistisch gefärbten Titel „Ich schreibe mein Herz in den Staub der Straße“. Als Autor firmierte ein gewisser George Forestier, der im Klappentext des Bandes als ehemaliger Frontsoldat in Russland vorgestellt wurde, den es nach Gefangenschaft und Kriegsende in die französische Fremdenlegion verschlug. Bis zum Jahr 1955 wurden sagenhafte 18.000 Exemplare seines Gedichtbandes verkauft, ein Verkaufserfolg, der Forestier auch heute einen Spitzenplatz in den Rankings der Lyrik-Szene bescheren würde. Die einflussreichen Kritiker der fünfziger Jahre, Dichter wie Karl Schwedhelm, damals Redakteur des Süddeutschen Rundfunks, oder geschätzte Autoren der „Gruppe 47“, wie Wolfgang Bächler und Paul Schallück, waren restlos begeistert. Heinz Piontek, immerhin ein späterer Büchnerpreisträger, schwärmte von Forestiers Poesien,“ ...– liedhaft, männlich, überschwemmt von exotischem Zauber“. Tatsächlich waren diese Poesien eine erlesene Ansammlung von dekorativen Klischees, die dem Autor Forestier das tragische Weltgefühl eines geläuterten Wehrmachtsangehörigen zuschreiben sollten.
  In der neuesten Ausgabe der literaturwissenschaftlichen Jahresschrift treibhaus, einem äußerst spannenden „Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre“, hat nun die Paul Celan-Expertin Barbara Wiedemann den Fall Forestier noch einmal aufgerollt. Wiedemann analysiert nicht nur die haarsträubenden Stereotypien in Forestiers Gedichten, sondern dokumentiert auch die beschämende Rezeptionsgeschichte des Buches. Denn 1955 enthüllte der „Spiegel“ nach einer Intervention des Verlegers Peter Diederichs die wahre Identität des Fremdenlegionärs Forestier: Der neue Dichter war nur eine listige Erfindung des Schriftstellers und Lektors Karl Emerich Krämer, der während des Nationalsozialismus ein besonders eifriger Parteigänger der NSDAP gewesen war und nach dem Krieg von den Alliierten Schreibverbot erhalten hatte. Mit sicherem Gespür für die ideologischen Entlastungsbedürfnisse der Nachkriegsdeutschen hatte sich Krämer eine grandiose Biografie für seinen George Forestier zusammengebastelt: Er sei Sohn eines Franzosen und einer Deutschen gewesen und habe sich nach dem Fronteinsatz in Russland als Angehöriger einer verlorenen Generation zur Fremdenlegion gemeldet, die ihn nach Indochina abkommandierte. Die frechste Erfindung des Nachworts suggeriert eine geistige Nähe Forestiers zu Gottfried Benn: „Seine letzten Verse“, so heißt es in raunender Eingeweihten-Prosa, „finden sich zwischen Gedichtblättern Gottfried Benns in einer kleinen schmutzigen Kladde, die er einem Kameraden übergibt, bevor seine Truppe im Herbst 1951 erneut in Marsch gesetzt wird. Seit diesem Zeitpunkt fehlt von ihm und seiner Vorpostengruppe jede Spur.“ Als dann 1955 öffentlich wurde, dass der gesamte Literaturbetrieb einem Hochstapler aufgesessen war, wollten Forestiers Lobredner plötzlich nichts mehr von ihrem Jubel wissen und bestraften seinen Erfinder Krämer für den „Skandal“ mit Nichtachtung. Der Fälscher war nun der Bösewicht, die Kunstfertigkeit, mit der Krämer die Erwartungen der literarischen Generation der Kriegsteilnehmer bedient hatte, fand keine Anerkennung.
  An solche Blamagen erinnern sich auch die heutigen Matadore des Literaturbetriebs nur ungern. Aber die alten Mechanismen eines literarischen Hypes, das Anheizen durch besserwisserische Kritiker und der darauf folgende Abschwung des Autors sind auch heute noch intakt. Wie ließe sich sonst erklären, dass eine Autorin wie die bayerische Surrealistin Ilse Schneider-Lengyel, die sogenannte „Hex vom Bannwaldsee“, die im September 1947 die legendäre „Gruppe 47“ initiierte, heute vollkommen vergessen ist. Zwar wird in diesen Tagen der siebzigste Gründungstag der „Gruppe 47“ zelebriert und dabei auch das Engagement der exotischen Dichterin Schneider-Lengyel gewürdigt, aber es gibt bis heute keine Gesamtausgabe ihres lyrischen Werks. Auch zu diesem Fall liefert die neue Ausgabe der Jahresschrift „treibhaus“ einen aufschlussreichen Bericht, verfasst von dem Literaturwissenschaftler Kay Wolfinger. Sehr lesenswert sind auch die „treibhaus“-Beiträge von Matthias Berning über Walter Höllerer und Thomas Keiths Porträtskizzen zu den Dichtern Herbert Heckmann, Max Hölzer und Albert Arnold Scholl.
  Sechzig Jahre nach dem Skandal um George Forestier gibt es kaum noch aufregende Enthüllungen, die Schriftsteller ins Wanken bringen könnten. Politische Skandale auf dem literarischen Feld sind heute eher Mangelware. Literarische Parteigänger der AfD oder der Identitären Bewegung sind nicht in Sicht, sieht man einmal vom irrlichternden Thor Kunkel ab, der sich als Marketingstratege der Gauland-Partei exponiert. Heute ist es eher ihr löchriges Gedächtnis, mit dem die Akteure des Literaturbetriebs zu kämpfen haben.
  Das großartige neue Heft, die Nummer 84 der Dresdner Literaturzeitschrift Ostragehege, würdigt einen Meister der kleinen Prosaformen, den Schweizer Peter Bichsel, der 1964 mit seinem Geschichtenbuch „Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen“ ein fantastisches Debüt vorlegte, und dem auch heute, 53 Jahre später, der schalkhafte Witz noch nicht ausgegangen ist. Dass der 82jährige Bichsel noch sehr präsent ist, zeigt sein äußerst vergnügliches „Ostragehege“-Gespräch mit Beat Mazenauer. Hier entwirft Bichsel eine sehr lakonische Poetik des Geschichtenerzählens, die jedes Pathos aushebelt und das Schreiben nicht mit dem Gelingen verbindet, sondern mit dem beständigen Nicht-Gelingen. Der größte Luxus des Schriftstellerberufs, so führt Bichsel aus, sei es, dass er „grundsätzlich von Dilettanten ausgeführt wird“, von „Menschen, die es nicht können“. Über solche Pointen gelangt er zu der koketten These, dass Schriftsteller ja gerade nicht von „Talent“ oder „Begabung“ und der Erfüllung ihrer Schreibvorhaben leben, sondern davon, dass immer ein Ungenügen und ein Mangel bleibt: „Das Spannende am Schreiben ist nicht, dass man es kann, das Spannende ist, dass man es nicht kann.“ Das Gespräch mit Bichsel ist Bestandteil eines anregenden „Ostragehege“-Dossiers über neue Literatur aus der Schweiz, das einige virtuose Stimmen der alten und der ganz jungen Generation präsentiert. Hier sind etwa zwei neue kurze Prosastücke des literarischen Grenzgängers Peter Weber zu lesen, eine intensive Sprachmusik, in der die rhythmische und melodische Bewegung der Sätze wichtiger ist als die hier wortreich erzählte Gesichte einer „Pilzöffentlichkeit“. Aufhorchen lassen auch die Gedichte der 27jährigen Michelle Steinbeck, die im vergangenen Jahr ein furioses Romandebüt mit dem Buch „Mein Vater war ein Mann am Land und im Wasser ein Walfisch“ vorlegte. Ihre Gedichte sind kleine funkelnde Alltags-Protokolle, Momente gesteigerter Wahrnehmung, Epiphanien im Dickicht der Städte.
  Wie junge Autorinnen und Autoren aus der Generation von Michelle Steinbeck die Veränderungen des Schreibens im Internetzeitalter wahrnehmen, kann man sehr gut in den Zeitschriften BELLA triste und Edit studieren. In den jüngsten Ausgaben werden hier eine Reihe von Texten präsentiert, die auch den Riss kenntlich machen, der die ältere Schriftstellergeneration von diesen jungen Autoren trennt. In einer Sonderausgabe der BELLA triste, der Nummer 48, wird noch einmal das Hildesheimer „Prosanova“-Festival bilanziert, das seit 12 Jahren als eine Art Mekka der jungen Literatur gilt. Hier verblüfft dann doch der mitunter sehr selbstbezogene, auf die eigene Community gerichtete Stil, der hier die einzelnen Texte prägt. Zwischen reichlich faden Notizen zum Festival selbst finden sich aber auch aufschlussreiche poetologische Texte, wie der von der Lyrikerin und Performerin Maren Kames, die mit ihren Installationen und Gedichten zur erfolgreichsten Dichterin der jungen Generation aufgestiegen ist. Auch eine hübsche Gedicht-Kontrafaktur von Timo Brandt kann hier überzeugen – das Gedicht „Vor Weihnachten“, das als schnoddrige Antwort auf Ursula Krechels berühmtes Gedicht „Nach Mainz“ gelesen werden kann, das 1977 als ein lyrisches Gründungsdokument der „Neuen Subjektivität“ veröffentlicht wurde.
  Im aktuellen Heft, der Nummer 73 der Leipziger Zeitschrift Edit, versucht die junge Theaterautorin Katja Brunner ebenso einen Dialog mit einer literarischen Ikone der „Neuen Subjektivität“: Es geht um eine sehr frivole, leider nicht ganz peinlichkeitsfreie „Séance mit Rolf-Dieter (Brinkmann)“. EDIT-Mitherausgeberin Kathrin Jira befragt in einem Interview einen Pionier der konzeptuellen, internetbasierten Literatur, den amerikanischen Dichter Kenneth Goldsmith nach dem Verhältnis von Sprache und neuen Technologien. Bekannt geworden ist Goldsmith mit einem Essayband mit dem schönen Titel „uncreative writing“ und einigen unorthodoxen Aktionen. So schrieb er beispielsweise eine komplette Ausgabe der New York Times ab, in anderem Zusammenhang protokollierte er jedes Wort, das er an einem bestimmten Tag des Jahres äußerte. Goldsmith ist auch der Pionier einer digitalen Ready Made-Literatur, die vorgefundene Texte nach Maßgabe eines bestimmten Programmiercodes umformt und dann für das Textmaterial ein neues Systematisierungsprinzip einführt. Als ein Beispiel dieser Ready Made-Literatur kann der EDIT-Text von Gregor Weichbrodt gelten. Als Quellpunkt dieses Textes diente ein Wikipedia-Eintrag über eine beliebige Person der Geschichte, die vor dem Jahr 0 geboren wurde. In diesem Fall ist es Tullus Hostilius, ein König von Rom, der im Jahre 710 vor Christus geboren wurde und 614 vor Christus starb. Nach dem Vermerk dieses Faktums besteht der Rest des Textes nur darin, dass weitere Geburts- und Todesdaten von beliebigen Persönlichkeiten bis zum Jahr 2015 aneinandergereiht werden.
  Dieser Art von serieller Literatur wird im aktuellen Dezember-Heft der Kulturzeitschrift Merkur ein ausführlicher Essay gewidmet. Hanna Engelmeier fragt hier nach den Grundelementen einer zeitgemäßen digitalen Literatur. Und sie kommt alsbald zu dem Ergebnis, dass die digitale Literatur unserer Tage stark kommentarbedürftig ist und nur durch eine Menge an erklärendem Zusatzmaterial ihren Reiz verständlich machen kann. Und dass letztlich die Theorie zur digitalen Literatur interessanter sein könnte als die Literatur selbst. Die literarischen Beispiele, die Hanna Engelmeier dazu vorstellt, verweisen auf den strikten Formalismus ihrer Autoren. Nehmen wir Hannes Bajohrs konzeptuellen Roman „Durchschnitt“. Er versucht die größten und anerkanntesten Romane der deutschen Literatur auf einen statistischen Mittelwert und handliche 260 Seiten zu bringen. Ausgangspunkt dafür sind die zwanzig Bände von Marcel Reich-Ranickis Kanon der deutschen Romanliteratur. Mit einem Programmiercode wird die durchschnittliche Satzlänge all dieser Romane bestimmt, nämlich genau 18 Wörter. Alle Sätze anderer Länge werden aussortiert, die Sätze mit jeweils 18 Wörtern werden alphabetisch sortiert und – fertig ist der Roman „Durchschnitt“. Man kann solche Experimente sicherlich als neuen Gipfelpunkt postavantgardistischer Kunst begreifen. Oder man kann sie als Literarisches Programmieren für Anfänger qualifizieren – oder als computergestützte Simulation von Poesie. Um digitale Literatur produzieren zu können, bedarf es offenbar keiner literarischen Einbildungskraft, keiner poetischen Imagination mehr. Die Phantasie ist überflüssig geworden.

treibhaus Nr. 13 (2017)  externer Link
Edition Text+Kritik, Levelingstr. 6a, 81673 München. 312 Seiten, 36 Euro

 

Ostragehege No.84 (2017)   externer Link
c/o Aron Koban, Osterbergstr. 23, 01127 Dresden. 88 Seiten, 4,90 Euro

 

BELLA triste Nr. 48 (Sonderausgabe)  externer Link
Neustädter Markt 3-4, 31134 Hildesheim, 162 Seiten, 10 Euro

 

Edit Nr.73 (2017)   externer Link
Käthe-Kollwitz-Str.12, 04109 Leipzig. 130 Seiten, 7 Euro

 

Merkur H. 12 (2017)   externer Link
Mommsenstr. 27, 10629 Berlin. Oder: J. G. Cotta´sche Buchhandlung,
Postfach 106016, 70049 Stuttgart. 104 Seiten, 12 Euro

 

 
Michael Braun
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