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Juni 2013
Wer im Dezember 1969 die Zeitschrift „Playboy“ aufschlug, konnte darin nicht nur Fotografien von nackten Frauenkörpern, sondern auch ein interessantes Evangelium der sogenannten Postmoderne und Pop-Literatur entdecken. Der amerikanische Literaturwissenschaftler Leslie A. Fiedler stellte darin eine nachgerade berühmte Forderung auf: „Cross the border – Close the Gap“, „Überquert die Grenze – schließt den Graben“! Fiedler verkündete die literarische Postmoderne und forderte die Einebnung der Differenz zwischen Hochkultur und Massenkultur. In Deutschland war es der Dichter Rolf Dieter Brinkmann, der die Forderungen Fiedlers importierte und in seinen Pop- Anthologien „ACID“ und „Silverscreen“ provokative Beispiele einer Literatur zwischen Pamphlet, Lebenskunst, Drogenkonsum und Pop-Musik veröffentlichte. Immer gemäß dem Motto der Rockgruppe The Doors: „Break on through to the other side.“
Es dauerte nicht lange und der große Einzelgänger Brinkmann wandte sich genervt von der allgemeinen „Pop“-Begeisterung wieder ab. Erst dreißig Jahre später zündete Brinkmanns Idee und sorgte für die epidemische Verbreitung des diffusen Begriffs „Pop“ im literarischen Diskurs der Bundesrepublik. Schriftsteller wie Benjamin Stuckrad-Barre, Christian Kracht oder Joachim Bessing traten mit Anzug und Krawatte auf und ließen sich für ihre Ästhetik der Oberfläche als blasierte Exzentriker feiern. Der Höhenflug dieser dandyistisch angehauchten Pop-Darsteller war eher kurz. Aber die Virulenz des Pop ist geblieben.
Seit 1995 gibt es „testcard“, eine Zeitschrift, die das ganze Feld der Pop-Geschichte und der Pop-Moderne essayistisch abschreitet, und zwar aus kapitalismuskritischer Perspektive. Theorie und Praxis der Popmusik werden ebenso thematisiert wie die Pioniere und Nachzügler der Popliteratur – und Beobachtungen zur zeitgenössischen Kunst und zum modernen und postmodernen Film.
In den beiden aktuellen Ausgaben von „testcard“ wird deutlich, wie expansiv dabei der Begriff „Pop“ gehandhabt wird. In ihrer Selbstdarstellung legt die Redaktion Wert darauf, dass man sich als Organ „linker Popkritik“ versteht. Und so bricht sich ein stolzes anarchistisches Selbstgefühl Bahn, wenn in der Nummer 21 von „testcard“, der „Pop als Aufständische Assoziation“ beschrieben wird. Die aktuelle Nummer 22 widmet sich nun dem „Fleisch“ als Schwerpunktthema. Die Mythologisierung des Fleisches im Christentum ist ebenso Thema wie die pornografische Zurüstung des weiblichen Körpers in der voyeuristischen Darbietung von „Frauenfleisch“. Auch der „kulinarische Diskurswechsel“ hin zum Vegetarismus und Veganismus wird ausgiebig behandelt, selbst die sektiererische Frage: „Haben Vegetarier besseren Sex?“ wird ernst genommen. Wer die opulenten, jeweils über 300 Seiten starken Hefte zur Hand nimmt, findet stets schöne essayistische Überraschungen, vor allem aufschlussreiche Gespräche zum Nachleben der literarischen Avantgarde.
So nähert sich Frank Apunkt Schneider in Heft 21 von „testcard“ einem mittlerweile legendären Buch von Peter Handke, dem 1969 erschienenen Band „Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“. Handke hatte in diesem Buch Texte in der Art von „objet trouvés“ und „Ready mades“ publiziert, etwa das phänomenale Gedicht „Die Aufstellung des 1. F.C. Nürnberg vom 27.1.1968“. Leider wird dem Buch als literarischem Kunstwerk in Schneiders Aufsatz kaum Beachtung geschenkt, stattdessen wird Handkes Buch nur als Symptom oder Fallbeispiel für die literarische Avantgarde genommen und für den gesellschaftlichen Umgang mit ihr.
Sehr viel aufschlussreicher und spannender ist ein Gespräch, das der Literaturwissenschaftler Johannes Ullmaier mit dem Schriftsteller und Internet-Pionier Peter Glaser in Heft 21 von „testcard“ geführt hat. Hier werden die Produktions- und Reproduktionsbedingungen freiberuflicher Journalisten und Autoren unter die Lupe genommen und verheerende Bilanzen eröffnet. Peter Glaser, der 2002 immerhin den Bachmann-Preis eroberte, hat mittlerweile auf dem dramatisch schrumpfenden Markt für freie Autoren ebenso schwer zu kämpfen wie viele weniger berühmte Kollegen – und das, obwohl er mit seinen Text-Angeboten die unterschiedlichsten Periodika bedient, vom klassischen Feuilleton bis hin zu Mobilfunkmagazinen. Auf dem Gebiet der Online-Publikationen, in dem nach wie vor miserable Honorare an der Tagesordnung sind, gibt es mittlerweile längst interne Rankings, nach denen die Wertschätzung ihrer Mitarbeiter nach Click-Quoten erfolgt. Für immer vorbei sind die Zeiten, als in einem sogenannten Lifestyle-Magazin wie dem schon lange verblichenen „Tempo“ für eine einzige Kolumne satte 4000 D-Mark gezahlt wurden.
Während „testcard“ sich für die Phänomene der literarischen Avantgarde nur unter gesellschaftstheoretischen Gesichtspunkten interessiert, bekennt sich die nach wie vor ideenreichste Literaturzeitschrift der Gegenwart, die Zeitschrift „Sinn und Form“, zu einer emphatisch ästhetischen Perspektive. Peter Huchel, der erste Chefredakteur von „Sinn und Form“, hatte die Zeitschrift zu einem weltoffenen, undogmatischen Literatur-Journal geformt, in dem sich Dichter und Intellektuelle verschiedenster Herkunft und konträrer Weltanschauung begegnen konnten. Sebastian Kleinschmidt, der „Sinn und Form“ 22 Jahre geleitet hat, hat dieses Ethos geistiger Offenheit bewahrt. Ende Juli verlässt er die Chefredaktion; sein Nachfolger wird sein bisheriger Stellvertreter Matthias Weichelt, der einst über den George-Schüler Max Kommerell promoviert hat. Diese Personalie verspricht Kontinuität. Auch unter dem neuen Chefredakteur wird „Sinn und Form“ sehr sorgsam die Strömungslinien der unterschiedlichsten Denktraditionen verfolgen – die der Avantgarde ebenso wie der traditionsbewussten konservativen Intelligenz. In der aktuellen Mai/Juni-Ausgabe von „Sinn und Form“ findet sich ein fabelhafter Essay des Literaturwissenschaftlers Peter Bürger, der vor vierzig Jahren das Grundbuch zur Avantgarde geschrieben hat, die „Theorie der Avantgarde“. Aufschlussreich ist es nun, dass sich Bürger mit einem literarischen Antipoden der Avantgarde beschäftigt, nämlich mit Rainer Maria Rilke und seiner Korrespondenz mit der Pianistin Magda von Hattingberg. In seinen Briefen an die von ihm verehrte Hattingberg erprobt Rilke das, was er sein „Weltgefühl“, seine „irdische Seligkeit“ nennt: das intensive Anschauen der Dinge und das grenzenlose Sich-Öffnen für die Welt. Dieses Geöffnetsein gleicht einem Aufgerissensein der Seele: Rilkes Ich will sich rückhaltlos der Briefpartnerin offenbaren, bleibt aber letztlich narzisstisch verkapselt im eigenen Ego. Der Mimetiker – so resümiert Bürger – kann nicht lieben, obwohl er sich exzessiv hingeben will. Seine Hingabe richtet sich nicht auf den anderen Menschen, die Geliebte, sondern braucht nur einen Resonanzkörper, um das eigene schwache Ich darin tönen zu hören.
Mit Peter Bürgers Essay korrespondiert in „Sinn und Form“ das Plädoyer des Heidelberger Gräzisten Jonas Grethlein für die ästhetische Erfahrung. In schroffen Invektiven gegen die Kritische Theorie und den Poststrukturalismus beschreibt Grethlein zunächst die Ursachen für die Austreibung der ästhetischen Erfahrung aus den Geisteswissenschaften – um gleich darauf ihre aktuelle Wiedergeburt zu konstatieren. Etwas überraschend billigt Grethlein hier den Computerspielen wie dem berüchtigten „World of warcraft“ ebenso viel ästhetische Strahlkraft zu wie etwa der berühmten „Odyssee“-Episode vom übermächtigen Gesang der Sirenen. Hier wären dann doch Fragezeichen zu setzen hinter solche Unterschiedslosigkeit in der ästhetischen Wertung.
Unter den vielen großartigen Beiträgen in „Sinn und Form“ möchte ich noch zwei hervorheben: Christoph Meckel erzählt von seinen Begegnungen mit dem jüdischen Maler Naftali Bezem, den wohl bedeutendsten Künstler Israels, der sich im vorgerückten Alter nach Basel zurückgezogen hatte, bevor er, weit jenseits des achtzigsten Lebensjahrs, nach Tel Aviv zurückkehrte. Meckel berichtet hier vom Gleichklang zweier Künstlerseelen, die auf langen Fahrten durchs Markgräfler Land ihr ästhetisches Credo austauschen, auf der Suche nach einer Kunst, die alle Übereinkünfte von Form und Schönheit hinter sich lässt. Ins Staunen versetzen einen auch die neuen Gedichte des Lyrikers Hans Thill, die sich von der früheren ironisch-surrealistischen Positionierung des Autors weitgehend lösen und die Dinge in einer unheimlichen Gegenständlichkeit vorführen, als Elemente, in denen die Schrecken der Geschichte gespeichert sind.
Wohin hat sich mittlerweile die literarische Avantgarde bewegt, die einst Peter Bürger auf den Begriff zu bringen versuchte? Das aktuelle Juni-Heft der Kulturzeitschrift „Merkur“ porträtiert als Schlüsselfigur für alle experimentellen Weiterungen der Literatur den extrem vielseitigen Schriftsteller Helmut Heißenbüttel, der bereits Anfang der sechziger Jahre sehr hellsichtig den Einfluss technischer Medien auf Wahrnehmung, Literatur und Kunst beschrieb. Heißenbüttel nahm nicht nur Hans Magnus Enzensbergers Medientheorie vorweg, sondern auch die substantiellen Analysen zur Materialität des Schreibens, wie sie dann 1987 Friedrich Kittler in seinem Buch „Aufschreibesysteme“ ausbreitete. Helmut Heißenbüttel also ist und bleibt das Fundament, auf dem die interessanten experimentellen Poetiken der Gegenwart ihre Konzepte aufbauen. Die avanciertesten Vertreter experimenteller Prosa finden sich in der Zeitschrift „Idiome“, die von dem Berliner Autor Florian Neuner im Klever Verlag herausgegeben wird. Die aktuelle Nummer 6 von „Idiome“ veröffentlicht zum Beispiel aufregende Textproben von Hartmut Geerken und Bert Papenfuß, zwei Altmeistern des Experimentellen, wobei Geerken in seinen furiosen Notationen auch die bei Paul Wühr geborgte Poetik des Fehlers mobilisiert. Denn viele Wörter seiner Prosa werden ihrer grammatischen Korrektheit entkleidet und in neuer Kombinatorik verbunden; dabei wird ungewöhnlich viel semantische Reibungshitze erzeugt.
Ein wunder Punkt der Literaturdebatte, den die Matadore des Feuilletons nicht so gerne berühren, ist die Frage nach der Überlebensfähigkeit der Literatur im Zeitalter sinkender Buchauflagen und ausgedünnter Verlagsprogramme. Um hier von Zufallsbefunden wegzukommen, hat nun das Literaturmagazin „Poet“ in seiner aktuellen Nummer 14 einflussreiche Literaturvermittler und Verleger nach der Notwendigkeit oder Entbehrlichkeit einer Literaturförderung befragt. Im Gespräch mit Stefan Buchberger, dem Verleger des Wiener „Luftschacht Verlags“, wird deutlich, in welcher vergleichsweise komfortablen Situation sich die österreichischen Verlage befinden. Dank der üppigen österreichischen Verlagsförderung kann auch ein kleinerer Independent Verlag wie Luftschacht Förderungssummen von bis zu 45.000 Euro jährlich einstreichen. Autoren wie Josef Haslinger und Angela Krauß betonen in unterschiedlicher Akzentuierung die Notwendigkeit der Literaturförderung. Ein Kritiker der FAZ hat bereits vor einigen Jahren eine schroffe Antithese zu diesen einschlägigen Förder-Appellen formuliert. Er sprach von einer „Subventionsverschwörung“ und erinnerte an die Existenzform Kafkas: „Die Literaturpreisflut schadet der Literatur. Aus Wölfen sind Schoßhunde geworden ... Dass sich Schriftsteller auf eigene Verantwortung durchs Leben schlagen, wäre ein Anfang.“
Testcard 21 & 22. Beiträge zur Popgeschichte
Ventil Verlag, Boppstr. 25, 55118 Mainz, 336 und 306 Seiten, je 15 Euro.
Sinn und Form, Heft 3/2013
Postfach 21 02 50, 10502 Berlin, Akademie der Künste, 130 Seiten, 9 Euro.
Merkur, Juni 2013
Mommsenstr. 27, 10629 Berlin. 96 Seiten, 12 Euro.
Idiome No. 6
Hefte für neue Prosa, c/o Florian Neuner, Lübecker Str. 3, 10559 Berlin. 100 S., 9,90 Euro.
Poet 14
poetenladen, Blumenstraße 25, 04155 Leipzig. 230 Seiten, 9,80 Euro.
Michael Braun 13.06.2013
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Michael Braun
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