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Dezember 2014
Die Revolution der deutschen Lyrik begann im Mai 1916 mit einer Absage an den Journalismus. Poesie, so orakelte damals der Dadaist und Mystiker Hugo Ball, müsse sich fernhalten von einer „durch den Journalismus verdorbenen und unmöglich gewordenen Sprache“. Man dürfe nicht mehr „aus zweiter Hand“ dichten und also keine Wörter und Sätze mehr verwenden, die man nicht „funkelnagelneu“ für die Poesie erfunden habe. „Man ziehe sich“, so Ball weiter, „in die innerste Alchimie des Wortes zurück, man gebe auch das Wort noch preis und bewahre so der Dichtung ihren letzten heiligsten Bezirk.“
Dieser Appell war das Gründungsereignis der deutschen Literaturrevolution, deren Nachwirkungen noch in den post- avantgardistischen Manifesten der unmittelbaren Gegenwart zu spüren sind. Im Juli-Heft der Zeitschrift „Merkur“ hat kürzlich der Literaturwissenschaftler Hannes Bajohr eine Linie gezogen von den Experimenten des Dadaisten Tristan Tzara bis hin zu den Zufalls-Poetiken einiger heutiger Dichter.
Tristan Tzara hatte 1920 mit aus dem Hut gezogenen Wort-Schnipseln Gedichte improvisiert. Das ist nicht weit entfernt von den Versuchen der sogenannten „flarf“-Dichter, die derzeit aus der Ergebnisvorschau der Suchmaschine Google Gedichte komponieren.
In den aktuellen Ausgaben der Literaturmagazine „randnummer“ und „Mütze“ können wir nun einige faszinierende Exempel einer sprachalchemistischen Dichtung im Sinne Hugo Balls entdecken. Es sind in bestem Sinne poetische Grenzüberschreitungen zwischen den Sprachen und Gattungen, die hier vorgeführt werden. Das neue Sonderheft der „randnummer“ bietet ein Gemeinschaftsunternehmen zusammen mit der in Prag erscheinenden Zeitschrift Psí víno. Hier werden insgesamt 14 Autorinnen und Autoren aus Deutschland, Tschechien und der Slowakei vorgestellt, die zum größten Teil der experimentellen Poesie zuzurechnen sind; Dichterinnen wie Uljana Wolf, Dagmara Kraus oder Simone Kornappel – oder die in Deutschland bislang völlig unbekannte slowakische Performerin Zuzana Husárová. In einem sehr entspannten Begleitwort, das völlig frei ist von dem in diesem literarischen Sektor oft epidemischen Dogmatismus, verweist Michael Gratz auf die im Sinne von Hugo Ball „funkelnagelneuen“ Erweiterungen der klanglichen, rhythmischen und syntaktischen Mittel, die diese „neue Poesie“ anstrebt. Als Beispiele seien nur die Texte von Uljana Wolf und Dagmara Kraus genannt, die auf ganz unterschiedliche Weise die poetische Transgression realisieren, von der schon Hugo Ball träumte. In den Gedichten, die in der „randnummer“ abgedruckt sind, inszeniert Uljana Wolf ein multilinguales Spiel: Es geht um die Wanderungsbewegungen der Wörter zwischen dem Deutschen und dem Englischen – und es geht damit auch um die eminent politischen Fragen der Einwanderung und Migration. Das Deutsche und das Englische führt sie als offene, fluide Sphären vor, sie zeigt die poetische Durchlässigkeit der beiden Sprachen. Die 1981 in Polen geborene Dagmara Kraus präsentiert einige Beispiele aus ihrem Band „kleine grammaturgie“, der bereits im vergangenen Jahr bei den sogenannten „roughbooks“ des Schweizer Lyrik-Editors Urs Engeler erschien. Und diese Art der poetischen „Grammaturgie“ steht Hugo Balls poetischer Alchemie sehr nahe. Worum geht es? Vor einhundert Jahren hatte Léon Bollack, ein wohlhabender Kaufmann aus Paris, eine „Grammatik der blauen Sprache“ erfunden, „La langue bleue“, eine Kunstsprache wie das bekanntere Esperanto, die zu einer Weiterentwicklung des Französischen beitragen sollte und auch als Sprache zur Erleichterung des internationalen Handelsverkehrs gedacht war. In ihren poetischen „Wechselreden“ mit dieser „blauen Sprache“ Bollacks versucht nun Dagmara Kraus diese künstliche Grammatik in eine poetische Sprache rückzuübersetzen. Das Ziel ist hier eine ideale poetische Linguistik und die Errichtung eines polyglotten Sprachuniversums: „spräche ich alle sprachen der erde / – spräche ich wie alle wilden tiere / wie alle wasser des abgrunds / – alle blumensamen / würde ich den ursprung/ – der namen vergessen/ alle worte, die eine bedeutung haben / – alle worte, die keine bedeutung haben / und einfach singen“.
Diese Utopie eines polyglotten Reichs der Dichtung erträumt auch die aktuelle Nummer 8 der Literaturzeitschrift „Mütze“. Auch in diesem Heft ist Dagmara Kraus vertreten, diesmal mit zwei sogenannten „Fatrasien“, das sind mittelalterliche Formen absurder Poesie, die vor einiger Zeit von Ralph Dutli wiederentdeckt worden sind. In der neuen „Mütze“ sind es dann Bertram Reinecke und Tobias Roth, die zu aufregenden Expeditionen zwischen Antike, Renaissance und Moderne starten. Bertram Reinecke präsentiert Fragmente der legendären antiken Dichterin Sappho und ihres Kollegen Alkaios, die wohl aus den Übersetzungen des deutsch-russischen Universalgelehrten Jacob von Stählin stammen. Tobias Roth, der junge Münchner Dichter, Musikwissenschaftler und Renaissance-Spezialist, überträgt ziemlich frivole Poeme des italienischen Humanisten Giovanni Pontano aus dem Lateinischen. Das Glanzstück in dem neuen „Mütze“-Heft ist der Aufsatz des Zürcher Literaturwissenschaftlers Hans-Jost Frey „Sisyphus und das Plagiat“. Hier gelingt Frey das Kunststück, das Plagiat aus dem Kontext des kriminellen Textdiebstahls zu lösen und nicht eine moralisierende, sondern eine strikt ästhetische Sicht auf das Verhältnis von Original und Plagiat zu entwickeln. Am Beispiel eines Baudelaire-Gedichts, das im Grunde nur zwei Gedichte von Kollegen zu einem eigenen Gedicht montiert, stellt Frey die Grenzziehung zwischen Original und Wiederholung in Frage: „Die eigentlich wichtige Frage ist nicht, wem ein Text gehört, sondern die...noch elementarere, ob ein Text überhaupt ein Besitz sein kann.“ Dass sich die Grenze zwischen Original und Wiederholung nicht scharf ziehen lässt, will er an einer Geschichte von Jorge Luis Borges zeigen. In seiner Erzählung „Pierre Menard, Autor des Quijote“ berichtet Borges von dem Versuch seines verstorbenen Freundes Pierre Menard, den Don Quijote-Roman von Miguel de Cervantes neu zu schreiben. dabei aber den Text Wort für Wort zu wiederholen. Das Experiment endet damit, dass Pierre Menard den Text von Cervantes tatsächlich wortwörtlich wiederholt hat. Borges schlussfolgert nun: „Der Text Menards und der Text Cervantes' sind Wort für Wort identisch, doch ist der zweite nahezu unerschöpflich reicher….die schillernde Zweideutigkeit ist sein Reichtum.“ Als Leser und Kopist von Cervantes, so die riskante These von Frey, hat Menard aber durchaus einen „Anteil an der Autorschaft“, die Geschichte der dreihundert zwischen Cervantes und Menard liegenden Jahre habe sich in der Abschrift abgelagert und den Text zu etwas Neuem gemacht.
Von solchen ästhetischen Subtilitäten will die aktuelle Plagiats-Debatte nichts wissen. In der Diskussion um mutmaßlich erschwindelte Dissertationen von politischen Prominenten tritt der sogenannte Plagiats-Jäger als Enthüllungs-Spezialist auf, der mit seinen softwaregenerierten Suchprogrammen nach unzulässigen Textübernahmen fahndet. Im aktuellen Dezember-Heft des „Merkur“ zieht Theodor Ebert eine Bilanz der Erregungen um die ehemalige Bildungsministerin Annette Schavan. Frau Schavan wurde nach einer rechtlich mehr als wackligen Prozedur der zuständigen Universität Düsseldorf der Doktortitel aberkannt – und Theodor Ebert geht nun mit Feuereifer daran, die Argumente der Verteidiger von Frau Schavan zu zerpflücken und sie als politisch motiviert bloßzustellen. Leider unterschlägt er dabei einige Merkwürdigkeiten des Prüfungsverfahrens, die daran zweifeln lassen, dass es den Prüfern und Gutachtern der Universität Düsseldorf nur um die Ehre der Wissenschaft ging.
Aber zurück zu den Dichtern, die der „innersten Alchimie des Wortes“ auf der Spur sind. Eine Portalfigur für die experimentelle Poesie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist Friederike Mayröcker, die Muse der Avantgarde, die sich selbst gar nicht der experimentellen Poesie zugerechnet wissen will. Anlässlich ihres 90. Geburtstags am 20. Dezember diesen Jahres hat ihr Alfred Kolleritsch, der Herausgeber der Literaturzeitschrift „manuskripte“, die aktuelle Ausgabe seiner Zeitschrift gewidmet. Darin findet man schöne Widmungs- und Huldigungs-Gedichte von Oswald Egger, Hans Eichhorn und anderen an Mayröcker – und drei ganz neue Gedichte der Dichterin selbst, die seit einigen Jahren von zunehmender Immobilität geplagt ist. Zur religiösen Vorstellungswelt ihrer Gedichte gehört nicht nur ihr Bekenntnis zum „apostolischen Stil“, sondern die Rede von den „Fittichen“, auf denen sich das schreibende Ich zur Sprache und in die Lüfte tragen lässt. Immer wieder tritt ein Engel der Schrift in Erscheinung, eins jener Wesen im „Äther“, die für das schreibende Ich die Verbindung zu den geliebten Menschen – der toten Mutter oder dem toten „Ohrenbeichtvater“ Ernst Jandl– herstellen. In ihrem jüngsten Prosabuch „Ich sitze nur GRAUSAM da“ hat Mayröcker zuletzt einen Wunsch formuliert: „Ich möchte 1 unbändiger Klassiker werden.“ Dieser Wunsch ist längst in Erfüllung gegangen.
Eine andere Klassikerin der modernen Weltpoesie ist die früh gestorbene finnlandschwedische Poetin Edith Södergran, die Anfang des 20. Jahrhunderts in Sankt Petersburg das deutsche Gymnasium besuchte, zunächst auf deutsch und russisch ihre Gedichte schrieb, um sich schließlich für das Schwedische als Literatursprache zu entscheiden. In ihrem kurzen Leben wurde sie zur Lichtgestalt der skandinavischen Poesie. Die poetische Wahrnehmungswelt der 1923 im Alter von nur 31 Jahren gestorbenen Dichterin entstand auf einem „ärmlichen Fleckchen Erde“ in Karelien, in dem finnischen Dorf Raivola, das damals zum Großfürstentum Russland gehörte. „Ich bin nüchtern meinen Weg gegangen“, schrieb Södergran in den zwanziger Jahren in einem Brief an ihre Freundin Hagar Olsson, „und mein gesundes intimes Naturgefühl hat mich zur Mystik geführt.“ Der dionysischen Lebensbejahung im Sinne des von ihr unbändig verehrten Nietzsche steht in Södergrans Gedichten oft eine Bildwelt der Todeserwartung gegenüber. Immer ist da ein Ton des Überschwangs, der zwischen den Kräften des Eros und des Thanatos changiert.
Wie schreiben nun die poetischen Nachgeborenen der Edith Södergran heute? In einem herrlichen Sonderheft der Zeitschrift „Neue Rundschau“ sind nun elf Lyriker aus der finnlandschwedischen Region versammelt, also Dichter, die der schwedischsprachigen Minderheit in Finnland angehören und die an die moderne Bildwelt der Edith Södergran anschließen. Und selbst bei dieser territorial doch äußerst begrenzten Literatur finden wir die ganze poetische Vielfalt moderner Lyrik versammelt: Das lyrische Notat, die poetische Momentaufnahme und das erzählende Gedicht stehen neben experimentellen Ansätzen. Für Ralf Andtbacka ist dabei ein „exquisites Gefühl von Freiheit“ die Voraussetzung von Poesie. Die treffendere poetische Maxime finden wir in dem Nachwort von Fredrik Hertzberg: „Erst wenn wir unsere Machtansprüche hinter uns lassen, kann das Schreiben beginnen.“
Displej.eu: Zeitgenössische Poesie aus Tschechien, Deutschland und der Slowakei.
Randnummer (Sonderheft) in Zusammenarbeit mit Psí víno
c/o Peter Dietze, DISPLEJ.eu, Fehmarner Str. 23, 13353 Berlin. 240 Seiten, ca. 15 Euro.
Mütze, Heft 8
Obere Steingrubenstrasse 30, CH-4500 Solothurn, 52 Seiten, 8 Euro.
Merkur, Heft 7/2014 und 12/2014
Mommsenstr. 27, 10629 Berlin, 96 Seiten, je 12 Euro.
manuskripte, Heft 206
Sackstraße 17, A-8010 Graz, 166 Seiten, 11,70 Euro.
Neue Rundschau, Heft 3/2014
Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt am Main, 304 Seiten, 15 Euro
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Michael Braun
Bericht
Archiv
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