Ulrike Almut Sandig
Flamingos
Helden des Rückzugs
Kritik
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Ulrike A. Sandig
Flamingos
Geschichten
Schöffling & Co. 2010
176 Seiten, 17,90 Euro
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Unter den jungen Novizen der Gegenwartsliteratur hatten sich Anfang des neuen Jahrtausends die notorischen Ich-Sager vorgedrängelt und ihre Ziellosigkeitsgefühle in Erzählungen von großer Erfahrungsarmut ausgebreitet. Ein blässliches, zugleich narzisstisch sich aufblähendes Ich tummelte sich im Zentrum dieser Prosa. Da ist man dankbar, wenn man auf eine Autorin trifft, die dieses stolze Ich vom Thron stößt. Die 1979 bei Riesa geborene und in Leipzig lebende Dichterin Ulrike Almut Sandig ließ bislang durch ihre vielfach preisgekrönten Gedichte aufhorchen; zuletzt reüssierte sie 2009 beim Leonce-und-Lena-Preis in Darmstadt. In diesen Gedichten ist ein noch ungefestigtes Ich unterwegs ins Ungewisse, stets schwankend zwischen provisorischem Verweilen und nervösem Aufbruch – ein Ziel ist vorerst nicht in Sicht.
In Sandigs soeben publizierten Geschichten wird nun das bislang so gefestigte Subjekt seiner Selbstverständlichkeit beraubt. Die Helden ihrer Prosa suchen die Verborgenheit, gewinnen ihr Selbstgefühl in somnambuler Versunkenheit, verharren am liebsten in selbstvergessener Träumerei. Es ist kein Zufall, dass bereits die erste Geschichte des Buches die Existenz des Ich in Frage stellt und darüber nachgrübelt, wie man denn der „sichtbaren Welt“ habhaft werden könne. In den elf Erzählungen erweist sich dabei oft eine Rückzugsbewegung als probate Überlebensstrategie. Eine junge Frau entdeckt eines Tages, dass ihr aus der Ritze eines Muttermals ein drittes Auge wächst. Der Schock treibt sie dazu, ihr erweitertes Wahrnehmungsvermögen vor der Welt zu verbergen. In einer anderen Geschichte schaukelt die junge Heldin in sanfter Entrücktheit in einem Schulbus dahin – diesen Abwesenheitszustand empfindet sie als glückliche Erlösung vom Ich.
Eine komplette Ich-Diffusion erlebt der Held der verstörendsten Geschichte des Buches, der in „Hush Little Baby“ die eigene Gespaltenheit in zwei Wesen erlebt. Die Eltern des Jungen hatten hoffnungsfroh die Geburt von Zwillingen erwartet. Das dann geborene Kind vereinigt nicht nur die körperlichen Eigenheiten der erhofften Zwillinge, sondern beginnt eines Tages in zwei Stimmen zu singen. Je weiter sich die Protagonisten dieser Prosa in die Welt hineintasten, desto tiefer zieht sich ein Riss durch die sich immer mehr verrätselnde Welt.
Ulrike Almut Sandig wählt oft die Kinder-Perspektive, um die Weltverlorenheit ihrer Figuren freizulegen. Und sie durchkreuzt die Erwartungen, die mit den Titeln ihrer Geschichten geweckt werden. Die „Flamingos“ der Titelgeschichte tauchen nirgendwo als Tiere auf, die den Weg des Helden kreuzen. Sie fungieren nur als erzählerische Allegorie für das Vereinzelungsgefühl der handelnden Figuren. Der jugendliche Held in „Flamingos“, ein Ministrant, hat eine düstere Bewährungsprobe zu bestehen: Er trägt erstmals vorneweg das Kreuz bei einer Beerdigung. Für ihn ist es ein Weg ins Ungewisse. Und in solchen Ungewissheiten lassen uns die kunstvoll zwischen Fantastik und Alltagserfahrung fluktuierenden Geschichten Ulrike Almut Sandigs allein.
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Michael Braun
Bericht
Archiv
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