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April 2017
„Der Kritiker ist Stratege im Literaturkampf.“ Diesen angriffslustigen Satz stellte der Philosoph Walter Benjamin 1928 an den Anfang seiner dreizehn Thesen zur „Technik des Kritikers“. Und fügte sarkastisch hinzu: „Echte Polemik nimmt ein Buch sich so liebevoll vor, wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet.“ Der aggressive Tenor solcher Thesen ist im befriedeten Literaturbetrieb von heute Mangelware. Es gibt indes noch einige kannibalistische Literaturkämpfer, die mit scharfer Polemik auftrumpfen. In den achtziger und neunziger Jahren waren das etwa der damalige „Merkur“-Herausgeber Karl Heinz Bohrer mit seiner Obsession für das Böse als ästhetische Kategorie oder der frühe Rainald Goetz mit seinen heftigen Tiraden gegen unliebsame Kollegen. Heute wird dieser Platz des Strategen im Literaturkampf von dem Filmemacher Oskar Roehler eingenommen, dem Sohn des einst einflussreichen Schriftstellers und Lektors Klaus Roehler und der kommunistischen Romanautorin Gisela Elsner. Im aktuellen Heft, der Nummer 116 der europäischen Kulturzeitschrift „Lettre international“, legt Oskar Roehler im Gespräch mit Frank Raddatz eine scharfe Abrechnung mit der Roman- und Filmästhetik seiner Generation vor. Roehler plädiert für den „Magnetismus des Bösen“ und verhöhnt den Moralismus und die Gesinnungsästhetik jener Dichter und Künstler, die nach seiner Ansicht in Deutschland die kulturelle Hegemonie erobert haben. Nach zwei autobiografischen Prosabüchern hat Roehler nun ein neues Buch angekündigt, das den ungewöhnlichen Titel „Selbstverfickung“ trägt. Darin gehe es, so der Autor, um die Geschichte sexueller Obsessionen im Kapitalismus und eine „Auseinandersetzung mit dem Bösen“. Im Literaturbetrieb unserer Tage herrsche dagegen ein neues Biedermeier, genährt von der Selbstgefälligkeit harmloser „Friedenskinder“, die nur um wohlfeile politische Korrektheit bemüht seien. „Das politisch Korrekte ist der Tod der Kunst“, so Roehler, das Sensorium für Morbidezza und Radikalität sei dagegen in der Literatur der Gegenwart vollständig abgestorben. Auch in seinem ureigenen Terrain, der Filmkunst, sieht er nur Dilettanten am Werk, denen jeder Sinn für ästhetisches Aufbegehren fehlt. Die schärfste Tirade gilt den Filmen der Berlinale: „Heute sind das Markenzeichen der Berlinale Filme, die von irgendwelchen Regimes auf der Welt unterdrückt oder behindert werden. Zu Beginn kommt der Festivaldirektor auf die Bühne, um das Publikum eine Dreiviertelstunde lang politisch zu erziehen, und berichtet, welchem Regisseur es wo schlecht geht. Dann kommt der Film von der lesbischen Iranerin mit Kopftuch, die ihren Bruder aus Guantanamo rausholen will. Schließlich gibt es endlosen Applaus für ein langweiliges politisches Filmchen.“ Roehlers boshafte Philippika ist einer von vielen Glanzpunkten in einem diesmal absolut aufregenden „Lettre“-Heft. Raoul Schrott erörtert hier zum Beispiel in einem sehr klugen Essay die Bedeutung von Luthers Bibel-Übersetzung und seiner Flugschriften für die Entstehung des Schriftdeutschen. Die Flugschrift konzipierte Luther nach 1518 als neues soziales Medium, dem er mit seinen Holzschnitten und Portraits zu einem hohen Wiederkennungswert verhalf – das Label Luther war geboren. Sein Bibeldeutsch, das heute als Frühneuhochdeutsch gilt, ersetzte bald das Latein als Kommunikationsmittel. In einem weiteren Beitrag umkreist Dorothea Franck in einem schönen Essay die Bedeutung von Gedichten im digitalen Zeitalter. Das phantastische Zentrum des Heftes bildet dann aber ein Essay des 2006 verstorbenen jüdischen Literaturwissenschaftlers Alexander Goldstein. Er rekonstruiert in seinem so faszinierenden wie an Überraschungen reichen Text die tragische Geschichte des russischen Emigranten Boris Julianowitsch Poplawski, eines in Paris völlig verarmten Schriftstellers, der 1935 im Alter von 32 Jahren an Drogenmissbrauch starb, aber dann vier Jahrzehnte später an verschiedenen geschichtsträchtigen Schauplätzen wieder auftauchte. Zuerst erschien er 1974 angeblich am Filmset von Pier Paolo Pasolini, als der gerade seinen Skandalfilm „Die 120 Tage von Sodom“ drehte. Dann reiste er – so die Fama, die Goldstein in „Lettre“ entwickelt – weiter nach Kinshasa in Zaire, der heutigen Republik Kongo, wo Muhammad Ali und George Foreman den Boxkampf des Jahrhunderts austrugen, den berühmten „Rumble in the Jungle“. Alexander Goldstein hat diese fabelhafte Geschichte wie eine detektivische Spurensicherung angelegt – ein kleines Meisterwerk.
Dass beim Wettstreit der Strategen im Literaturkampf immer auch Grausamkeit im Spiel ist, davon erzählt bereits der antike Mythos. Der antike Historiker Herodot berichtet etwa vom Wettstreit zwischen dem Gott Apoll und dem bocksbeinigen Marsyas, dem Satyr aus Phrygien, einem halbgöttlichen Wesen. Dieser Wettbewerb zwischen Apoll und Marsyas war auch eine Rivalität zwischen der Lyra und der Flöte und endete tödlich. Marsyas hatte eine Flöte gefunden und gelernt, so betörend auf ihr zu spielen, dass die Tiere des Waldes hingerissen waren. So forderte er den Gott und Lyraspieler Apoll zum künstlerischen Wettstreit heraus. Apoll erklärte sich selbst zum Sieger und zur Strafe für den aufmüpfigen Marsyas hängte er ihn kopfüber an einem Baum auf und zog ihm bei lebendigem Leib die Haut ab. Diese schockierende Urszene des Wettstreits der Künste stellt nun der Philosoph Reinhardt Brandt ins Zentrum seiner Überlegungen über die „Schönheit in der Verneinung“, die soeben im April-Heft des „Merkur“ erschienen sind. Brandt erinnert auch an ein legendäres Buch aus dem Jahr 1968, das vom Schicksal der Schönheit in der Moderne handelt. Der Titel dieses legendären Buches: „Die nicht mehr schönen Künste“ suggerierte, dass sich die Künste in der Moderne von allen ästhetischen Forderungen des Schönen losgesagt haben. „Ob ein Werk schön ist oder hässlich, ist keine einschlägige Frage mehr“, so resümiert Brandt. Je näher man diesen Befund anschaut, desto wackliger wird er. Zwar gibt es in der Geschichte der Kunst und der Literatur die Gegenentwürfe einer Ästhetik der Hässlichkeit oder Grausamkeit, aber ohne den Begriff der Schönheit kommt auch die moderne Literaturtheorie nicht aus. Bemerkenswert im Aprilheft des „Merkur“ ist noch ein Essay des Literaturwissenschaftlers Daniel Graf, der die insgesamt sechs Beiträge zur Theorie und Praxis der Lyrik-Übersetzung, die im „Merkur“ in den vergangenen Monaten erschienen sind, noch einmal resümiert. Graf beruft sich auf eine berühmte These des russischen Sprachphilosophen Roman Jakobson, die besagt, Dichtung sei per definitionem unübersetzbar, möglich sei nur die „schöpferische Übertragung“. Ein direkter, gerader Weg in die Zielsprache sei für den Lyrikübersetzer unmöglich, möglich sei nur der „ungerade Weg“, die kreative Umschreibung.
Es gibt sie indes immer noch, die modernen Poetiken, die sich an eine Ursprache der Natur herantasten wollen. Der Gesang der Vögel ist seit je ein Faszinosum für die Dichtung. Der Komponist Olivier Messiaen etwa hat sich zeitlebens um eine genaue Notation des Vogelgesangs bemüht und insgesamt etwa siebenhundert Vogelstimmen genau aufgezeichnet, um zum Beispiel in seiner Oper über den heiligen Franziskus klangliche Abbilder des Vogelgesangs zu liefern. Die Lyrikerin Ulrike Draesner hat vor drei Jahren in ihrem Band „Subsong“ an dieses ehrgeizige Unternehmen Messiaens angeknüpft und poetische Entsprechungen für die Sprache der Vögel ausgearbeitet. Letztlich zweifelte Messiaen daran, dass es irgendeine Menschenmusik geben kann, die der souveränen Freiheit des Vogellauts nahekommt. Nun ist ein großartiges Heft der „Neuen Rundschau“ erschienen, die Nummer 1/2017, das unter dem Titel „Poetische Ornithologie“ die Vögel als poetologische Geschöpfe, fabelhafte Begleiter und künstlerische Vorbilder erkundet. Die anregendsten und inspiriertesten Beiträge darin stammen von Marcel Beyer und dem jungen Romanautor Franz Friedrich. Marcel Beyer schreibt eine grundsätzliche Abhandlung über die Begegnungen von großen Dichtern und Kulturanthropologen mit Tieren, Zum Beispiel über den Wunsch des berühmten Verhaltensforschers Konrad Lorenz, einen Roman von Selma Lagerlöf, nämlich die „Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“ ganz wörtlich zu nehmen und sich selbst in eine Wildgans zu verwandeln. Franz Friedrich erinnert in seinem Essay „Schreiben wie die Vögel singen“ an die Legende vom heiligen Franz von Assisi, der vor den Toren der umbrischen Stadt Bavegna eine Predigt an die Vögel gehalten haben soll, der die Vögel – so die Überlieferung – andächtig und schweigend zuhörten.
„Schreiben wie die Vögel singen“ – diese poetische Maxime gilt auch für die späte Lyrik des französischen Dichters Yves Bonnefoy, der im Juli 2016 im Alter von 93 Jahren gestorben ist. Die herrliche Dresdner Literaturzeitschrift „Ostragehege“ hat in den letzten Lebensjahren Bonnefoys einen intensiven Austausch mit dem Dichter gepflegt und in mehreren Ausgaben Gedichte und Essays von ihm veröffentlicht. In der aktuellen Ausgabe, der Nummer 83 von „Ostragehege“, erzählt nun die Übersetzerin Una Pfau von ihren Begegnungen mit Bonnefoy und zeigt anhand seiner späten Gedichte die fast pantheistische Ausrichtung des Dichters auf das Wunderbare der Schöpfung: „Die Dichtung“, so Bonnefoy, „muss in die Urgründe herabsteigen, um die grundlegenden Tatsachen des Wesens auf der Welt – die Beziehung der Männer, der Frauen, die zu den Bergen, den Bäumen, den Flüssen, zu all dem, was den Horizont einer weit und frei atmenden Existenz errichtet – erscheinen zu lassen. Das wäre die wirksamste Art, die Demokratie zu begründen und aufs Neue zu begründen.“
Zum Schluss sei noch auf eine Zeitschrift verwiesen, die mit einer sehr wachen Neugier und originellen Denkansätzen einen angenehm unakademischen Blick auf die Phänomene unserer Gegenwartskultur wirft. Der junge Medienwissenschaftler Mads Pankow hat 2013 gemeinsam mit seinem Kollegen Fabian Ebeling die Zeitschrift „Die Epilog“ gegründet, die sehr unorthodox und intellektuell überaus beweglich eine Soziologie unseres Alltags entwirft. Sie erinnert in Ausstattung und intellektueller Physiognomie an die wunderbare Zeitschrift „Der Alltag“, die sich unter der Federführung von Michael Rutschky zwanzig Jahre lang den „Sensationen des Gewöhnlichen“ widmete, bis sie 1997 eingestellt wurde. In ihrer aktuellen Nummer 6 widmet sich „Die Epilog“ den sehr anfechtbaren Versuchen, eine bestimmte Alterskohorte mit den Merkmalen einer „Generation“ zu versehen. Nach der „68er Generation“, der „Generation Golf“ und der „Generation Praktikum“ hat man die heute Zwanzig- bis Dreißigjährigen mit dem Label „Generation Y“ behängt und sie als völlig ambitionslos, selbstbezogen und beziehungsunfähig abgehakt. Das Einzige, so spottet nun Mads Pankow in seinem „Epilog“-Essay, was immer gleich ist, sind die Absender der Generationsanalysen – es ist die Generation, die um ihre Deutungshoheit fürchtet und die nachrückenden Jungen bloßstellen will. „Wir leben erstmals in einer Zeit“, so behauptet nun Pankow kühn, „in der die Jungen schlauer sind als die Alten.“ Denn durch das Internet trete der Mensch wieder ins Zentrum der Wissensordnung, das Di-viduum werde durch das Netz wieder ein Individuum. Wem dieser Optimismus zu naiv klingt, der lese den glänzenden „Epilog“-Beitrag des Literaturwissenschaftlers Manfred Schneider, der darlegt, wie sich in der Moderne immer mehr Söhne auf neue Weise von den Vätern lossagen: „Die Kinder der Moderne verstehen sich kaum noch als Abkömmlinge ihrer Vorfahren oder als Erben ihres Wissens ... sie verstehen sich vielmehr als Selfmade-Existenzen, die alles den eigenen Fähigkeiten und Tätigkeiten verdanken.“ Was diesen Selfmade-Existenzen von heute fehlt, erklärt Schneider mit einem Walter Benjamin-Zitat: „Diese Jugend hat den Feind, den geborenen, den sie hassen muss, noch nicht gefunden.“
Lettre international, Nr. 116 (2017)
Erkelenzdamm 59/60, 10999 Berlin. 130 Seiten, 13,90 Euro
Merkur, H. 4/2017
Klett Cotta-Verlag, Redaktion: Mommsenstr. 27, 10629 Berlin, 102 Seiten, 12 Euro
Neue Rundschau, H. 1/2017
Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt am Main, 272 Seiten, 15 Euro
Ostragehege 83 (2017)
c/o Axel Helbig, Birkenstraße 16, 01328 Dresden. 94 Seiten, 4,90 Euro
Die Epilog, Nr. 6 (2017)
Große Fahrt Weimar KG, Helmholtzstr. 15, 99425 Weimar, 162 Seiten, 8 Euro
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Michael Braun
Bericht
Archiv
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