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April 2013
Das große Trauma unserer Epoche, so orakelte schon vor vierzig Jahren der Philosoph Jean Baudrillard, sei die „Agonie des Realen“, der Untergang der empirisch fassbaren Wirklichkeit im „Zeitalter der Simulation“. Das Internet war damals noch gar nicht geboren – und doch hatte Baudrillard schon eine Ahnung von der ungeheuren Beschleunigung und Informationsexplosion in unserer Lebenswelt. Das World Wide Web kam dann 1989 in die Welt. Im Blick auf den damit initiierten digitalen Kapitalismus hat ein Wissenschaftler errechnet, dass die immense Datenmenge, welche in der gesamten Geschichte der Menschheit bis zum Jahr 2003 hervorgebracht wurde, heute alle zwei Tage erzeugt wird. Und die Zeit ist nicht mehr fern, da diese riesige Datenmenge alle zwei Minuten produziert wird.
Wie können sich bei dieser gigantischen Vermehrung und Verzweigung von Informationsströmen überhaupt noch so alte Medien wie Literaturzeitschriften behaupten, die darauf vertrauen, dass es noch Leser gibt, die komplexe Denkwege gehen möchten? Der Publizist Frank Berberich, der seit 1988 im Alleingang die deutsche Ausgabe der europäischen Kulturzeitschrift „ Lettre International“ herausgibt, hat darauf eine verblüffende Antwort gegeben. Er setzte von Anfang an auf ein kosmopolitisches Konzept und bot international renommierten Essayisten, Dichtern und Künstlern eine offene Bühne, um „Lettre International“ in eine „Werkstatt der Geistesgegenwart“ zu verwandeln. Ein Vierteljahrhundert lang hat es Berberich vermocht, ohne jede finanzielle Förderung eine politisch wie ästhetisch herausragende Kulturzeitschrift zu etablieren. Das Geschäftsmodell der Zeitschrift ist einzig und allein – ihre Qualität. Als das großformatige Blatt 1984 von dem tschechischen Publizisten Antonin Liehm gegründet wurde, stand die Berliner Mauer noch. „Lettre“ entwickelte damals eine grenzüberschreitende Utopie unter dem Label „Mitteleuropa“ – und meinte damit die globale Zirkulation libertärer Ideen und machtkritischer Diagnosen, die der Tradition der politischen Dissidenz zu neuem Leben verhelfen sollten. 25 Jahre danach, im Jubiläumsheft 100, präsentiert sich „Lettre International“ noch immer als unentbehrliches ideologisches Handgepäck für den Weltenbürger. Die gesellschaftskritische Tradition der Zeitschrift repräsentieren in der Jubiläumsausgabe Beiträge wie die Reportage der ägyptischen Journalistin Yasmine El Rashidi, die sehr detailliert die islamistischen Entwicklungen in Ägypten unter der Präsidentschaft des ehemaligen Muslimbruders Mohammed Mursi offenlegt. Sehr lesenswert sind auch die Ausführungen des slowenischen Modephilosophen Slavoj Žižek, der sich selbst als gerne als „Hegelianer, Wagnerianer und christlichen Atheisten“ charakterisiert. Žižek analysiert den Zusammenbruch jedes ethischen Wertesystems im Fortschreiten der kapitalistischen Globalisierung. Dabei prangert er vor allem die sexuellen Perversionen katholischer Würdenträger gegenüber Schutzbefohlenen an, sowie – und das ist eine besonders schockierende Passage seines Essays – „das moralische Vakuum“ in einem Land wie Indonesien, in dem Massenmörder und Bürgerkriegsverbrecher zu hohem gesellschaftlichen Ansehen gelangt sind. In einer eigenen Abteilung des Heftes widmet sich „Lettre“ den tiefgreifenden Auswirkungen der digitalen Mobilisierung auf die Wahrnehmungsfähigkeit der sogenannten „User“. Die österreichische Schriftstellerin Sabine Scholl erinnert daran, dass es die literarische Avantgarde war, die die grundlegenden Veränderungen der Autorschaft antizipiert hat. Mit der Entwicklung der digitalen Medien, so Sabine Scholl, „erodiert die bislang unangreifbare Festung der Autorschaft tatsächlich, der Text ist offen, wird sozial und interaktiv“.
Die Beschleunigung herkömmlicher Informationssysteme ist auch zentrales Thema im aktuellen Aprilheft des „ Merkur“, in dem Lothar Müller und Wolfgang Hagen in zwei glänzenden Essays die Geschichte der Aktualität erzählen – und diese Geschichte erweist sich zugleich als Requiem auf das Massenmedium Zeitung. Mit der Erfindung der gedruckten Zeitung durch den Straßburger Verleger Johannes Carolus im Jahre 1605 begann die zweite Medienrevolution der Frühen Neuzeit – nach Gutenbergs Erfindung der Druckerpresse. Und noch 1804 konnte Hegel von dem Ritual der Zeitungslektüre schwärmen: „Das Zeitungslesen des Morgens ist eine Art von realistischem Morgensegen.“ Die klassische Tageszeitung, so resümiert Lothar Müller, war das Medium des Ausgangs aus der Welt religiöser Gewissheiten und festgefügter Traditionen – die Zeitungsblätter des 19. Und frühen 20. Jahrhunderts, die oft mehrfach am Tag erschienen, wurden in der Moderne die großen Resonanzverstärker des ökonomischen und politischen Wandels. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts durfte sich die gedruckte Zeitung als das Medium gesteigerter Aktualität verstehen. In der Ära des Internets ist das nun alles perdu, die Zeitung als Printmedium ist dem Tode geweiht und muss Online-Formaten weichen, die uns indes nur ein „täuschendes Gefühl des Bescheidwissens“ liefern.
Die Verheißungen des Internet als unendlicher Informationskosmos und interaktives Medium haben seit dem Milleniumswechsel auch einige Sumpfblüten in der Literaturtheorie gedeihen lassen. So entwirft der Schweizer Schriftsteller und Internet-Theoretiker Lukas Jost Gross im aktuellen Heft 35 der Literaturzeitschrift „Bella triste“ die farbenprächtige Apologie einer digitalen Ästhetik, die alle traditionellen Literaturkonzepte transzendiert. Und wie üblich werden nicht nur der alte Genie-Begriff und die von ihm abgeleiteten Autor-Konzepte ausgehebelt, sondern es werden alle Illusionen einer kollektiven Netz-Produktivität in schönster begriffsberauschter Naivität wiederholt. Zur Aufladung seiner revolutionären Ambitionen entnimmt Lukas Gross seine Theoreme den Arsenalen des Strukturalismus, vermischt mit den einschlägigen Stichworten der Internet- Technologie. Und das klingt dann so: „Im Raum der digitalen Hyperinformation hat die isolierte Figur des leidenden, erschaffenden Genies endgültig ausgedient. Eine nächste Generation von Autoren sind Programmierer und „Patchwriter“, denen buchstäblich nichts anderes übrig bleibt, als Sprache zu permutieren, sie ständig voranzupeitschen, sie als Material zu behandeln.“ Und so geht es weiter mit der Digitalitäts-Propaganda. Schade nur, dass ein Element der Literaturproduktion in solchen Manifesten gerne vergessen wird: die Phantasie bzw. die Einbildungskraft.
Zu den altehrwürdigen Institutionen, die sehr aufmerksam an der Geschichte der poetischen und philosophischen Einbildungskraft weiterarbeiten, gehört die Literatur#-zeitschrift „Sinn und Form“. Nun steht dieser Zeitschrift eine große Zäsur bevor. Im Laufe des Jahres wird Sebastian Kleinschmidt, der seit 22 Jahren als Chefredakteur von „Sinn und Form“ amtiert, seinen Posten räumen. Das ist zugleich das Ende einer Ära. Denn Kleinschmidt hat in „Sinn und Form“ in signifikanter Weise Geistesgeschichte geschrieben. Er hat neben die Bewusstseinslinien eines undogmatischen Marxismus, die bis zur Wende 1989 in der Zeitschrift dominierten, mit großer Emphase die Denkfiguren eines poetischen und philosophischen Konservatismus gerückt. Das aktuelle März/April-Heft von „Sinn und Form“ darf man nun als Demonstration für den metaphysischen Ernst und das konservative Stilbewusstsein der Zeitschrift lesen. Hier werden ausdrücklich die Repräsentanten einer konservativen Geistes gewürdigt, die sich in ihrer dezidierten Verteidigung der Tradition ein elitäres Profil gaben: Richard Wagner, Stefan George, Peter Wapnewski – und dazu der messianische Geschichtsphilosoph Walter Benjamin. In seiner hier abgedruckten Gedenkrede auf Peter Wapnewski würdigt der Soziologe Wolf Lepenies den herausragenden Germanisten, der mit großer Vehemenz und noch größerem Formgefühl die Dichtungen des Mittelalters für unsere Zeit bewahrte. Das elitäre Selbstverständnis und das Charisma, das Wapnewski ausstrahlte, wird in gleich zwei Beiträgen auch als konstituierendes Merkmal des Dichters Stefan George beschrieben. Wolfgang Graf Vitzhum untersucht das Verhältnis Georges zur Demokratie und kommt zu dem etwas vorhersehbaren Ergebnis, dass Georges selbstgewählte „Distanz zur Menge“ auch einen Abstand zu den Institutionen der Weimarer Republik und überhaupt zu allem Politischen einschloss. Auf dem Terrain des Politischen vertraute George auf große Könige und glanzvolle Gestalten, auf den „principe“ und den „uomo virtuoso“. „Seine Gewährsleute“, heißt es dazu, „sind große Fürsten, geistige Führer. “ Georges Verehrung für große Einzelne korrespondiert mit seiner Vorliebe für eine ästhetizistische Privatreligion, die im mysteriösen Kult um den früh verstorbenen Jungen Maximilian Kronberger kulminierte. Statt poetischer Kommunikation sucht Georges Dichtung denn auch die große Absonderung: „In der Dichtung (…) ist jeder, der noch von der Sucht ergriffen, ist ›etwas sagen‹, etwas wirken zu wollen, nicht einmal wert, in den Vorhof der Kunst einzutreten.“ In diese Ahnengalerie exklusiv-esoterischer Ästhetik fügt sich dann auch Martin Mosebach bestens ein, der seine kühle Sicht auf Stefan George mit einer großen Apologie des Katholizismus einleitet. Mosebachs Essay in „Sinn und Form“ liest sich wie das Gründungsdokument einer katholischen Ästhetik. Ausgehend von der These, dass alle europäische Literatur und Malerei nur aus der sorgfältigen Kenntnis der christlichen Theologien entzifferbar ist, erhebt er den traditionellen Ritus der katholischen Liturgie sogar zum „Stiftungsereignis der europäischen Kultur“.
Gegen solche Inthronisierungen einer religiösen wie ästhetischen Feierlichkeit wendet sich das neue und an Überraschungen reiche Heft 61 der Literaturzeitschrift „EDIT“. Hier zeigt sich die soeben mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnete Dichterin Monika Rinck in bester intellektueller Spiellaune und zelebriert in virtuoser Weise jene „Heiterkeit des Denkens“, die sie zuletzt in ihrem Gedichtbuch „Honigprotokolle“ vorgeführt hat. In ihrem Essay „Das Alberne hat Glück“ lässt sie die Theoreme der berühmten bulgarischen Literaturtheoretikerin Julia Kristeva mit mehr oder minder funkelnden Sprachwitzen kollidieren. Rincks Essay zieht überraschende Verbindungslinien von der strukturalistischen Philosophie zu diversen Kalauern und will damit die verbissene „Härte“ in der philosophischen Theoriebildung mit „tiefholdem Unfug“ und „taumelnden Spielen“ konterkarieren.
Eine Entzauberung des hohen Tons hat sich auch der Dichter Norbert Lange in seinen „Dummkopfelegien“ vorgenommen, von denen er einige Kostproben in „Edit“ serviert. Diese „Dummkopfelegien“ bedienen sich zunächst an der „fetten Speckschicht“ von Pathos, die Rainer Maria Rilke in seinen legendären Duineser Elegien angesetzt hat. Den gravitätischen Tonfall und die suggestive Musikalität Rilkes transformiert Lange in eine ständig über sich selbst stolpernde Kunstsprache zwischen Wohltönerei und kalkulierter Komik.
Am Ende von „Edit“ findet sich schließlich eine subtile Anleitung zu einer Bibliothek substantieller 100 Seiten-Bücher, wobei die einzelnen Titel in originellen Kurzrezensionen charakterisiert werden. Initiator dieses Projekts ist übrigens das empfehlenswerte Literatur-Portal www.umblaetterer.de und der Stichwortgeber dafür ist der Literatur-Gigant Arno Schmidt: „Das Leben ist so kurz! Selbst wenn sie ein Bücherfresser sind, und nur fünf Tage brauchen, um ein Buch zweimal zu lesen, schaffen Sie im Jahr nur 70. Und für die fünfundvierzig Jahre, von Fünfzehn bis Sechzig, die man aufnahmefähig ist, ergibt das 3150 Bände: die wollen sorgfältigst ausgewählt sein!“
Lettre International, Heft 100 (2013)
Erkelenzdamm 59/61, 10999 Berlin. 186 Seiten, 15 Euro.
Merkur, Heft 4/2013
Mommsenstr. 27, 10629 Berlin. Je 96 Seiten, je 12 Euro.
Bella triste, Heft 35 (2013)
Neustädter Markt 3-4, 31134 Hildesheim. 80 Seiten, 5,35 Euro.
Sinn und Form, Heft 2/2013
Postfach 20 02 50. 10502 Berlin. Akademie der Künste, 130 Seiten, 9 Euro.
Edit, Heft 61 (2013)
Gerichtsweg 28, 04103 Leipzig. 130 Seiten, 5 Euro.
Michael Braun 10.04.2013
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Michael Braun
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