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Juni 2017
„Literatur ist, wenn es knallt“, hat der Schriftsteller Rainald Goetz einmal gesagt, als er noch jung, wild, manisch produktiv und auf die antibürgerliche Dauer-Provokation bedacht war. Tatsächlich hat es auch am Ausgangspunkt der modernen Literatur, bei den Avantgardebewegungen des frühen 20. Jahrhunderts, heftig geknallt. Der Dadaismus zum Beispiel begann mit einem ohrenbetäubenden Krach, mit dem Lärm eines großen Trommelwirbels. Richard Huelsenbeck, der Arzt, Psychoanalytiker und Dadaist, kam 1916 von Berlin nach Zürich ins Cabaret Voltaire, um dort die Literatur in Grund und Boden zu trommeln. Huelsenbeck gilt seither als „Trommler des Dada“, der im Anschluss an die „Geräuschkunst“ des Futuristen Luigi Russolo mit seiner perkussiv unterstützten Poesie alle Literaturfrömmelei verscheuchen wollte. „Ich brüllte mit voller Lungenkraft“, so schreibt er in seinen Erinnerungen, „mehr Marktschreier als Vortragender, während ich mit einem Oxfordstöckchen in die Luft hieb.“ Die Poesie der Avantgarde, dies dokumentiert nun auf eindrückliche Weise der neue Hugo Ball Almanach, ist seit den Tagen Huelsenbecks eine performative Kunst, in der sich die Dichter körperlich verausgaben.
Seit 1977 gibt die Stadt Pirmasens, die Geburtsstadt des Dichters, den Hugo Ball Almanach heraus, seit 2010 erscheint er unter der Federführung von Eckhard Faul in der Edition Text + Kritik. Die Literaturwissenschaftlerin Karin Füllner porträtiert nun in der Nummer 8 der „Neuen Folge“ nicht nur den Dada-Trommler Huelsenbeck, sondern kann auch belegen, dass dessen Auftritte im Cabaret Voltaire eine Wende einleiteten – weg von der konventionellen Kabarett-Kunst hin zur konsequenten Auflösung der alten Präsentationsformen von Poesie. Das Klavier, auf dem bis dahin Hugo Ball die Rezitationen und Gesänge seiner Lebensgefährtin Emmy Hennings begleitete, wurde abgelöst durch die Kesselpauke Huelsenbecks. Es war ein anarchisches Trommeln, das quer lag zur disziplinierenden Trommelei des preußischen Militarismus, der damals seinen Erschöpfungskrieg gegen fast alle europäischen Nachbarn führte.
Neben dem luziden Huelsenbeck-Porträt hat der neue Hugo Ball Almanach noch einige aufregende Entdeckungen zu bieten. Die Literaturwissenschaftlerin Nicola Behrmann kommentiert einige neu aufgefundene Briefe Hugo Balls, die der stets am Rande des Existenzminimums lebende Dichter zwischen Januar 1913 und März 1914 an seinen früheren Arbeitgeber, den Lederhändler Ferdinand Schohl geschrieben hat. Schohl gehörte dem angesehenen jüdischen Bürgertum in Pirmasens an und übersiedelte in seinen letzten Lebensjahren nach Straßburg. Balls Brief ist ein aufschlussreiches Dokument eines Dichterlebens zwischen Größenphantasie und entwürdigender Bettelei. Auf Drängen seiner Eltern hatte Ball zwischen 1901 und 1904 bei Ferdinand Schohl eine Lehre absolviert, die er nach einer Nervenkrise abbrach, um das Abitur zu machen und mit dem ersehnten Studium beginnen zu können. Obwohl er 1913 bereits als Dramaturg an den Münchner Kammerspielen arbeitet, ist Balls finanzielle Situation damals prekär. So stellt er sich gegenüber Schohl als „junger kämpfender Künstler“ vor, dem eine große Karriere bevorsteht, der aber zur Überbrückung eines finanziellen Engpasses ein Darlehen benötigt. Weil Schohl mit der Auszahlung des versprochenen Darlehens immer wieder zögert, kommentiert Ball voller Bitterkeit die Zurückhaltung seines Gönners. Ausgehend von diesen Zeugnissen der chronischen Undankbarkeit des Dichters, erörtert Behrmann die Frage, ob vielleicht das Misstrauen seines Förderers Schohl ein Grund gewesen sein könnte für die antijüdischen Ressentiments, die an einigen wenigen Stellen in Balls Schriften sichtbar werden. Tatsächlich findet man nicht erst in Balls Streitschrift „Zur Kritik der deutschen Intelligenz“, sondern auch schon in frühen Briefen Spurenelemente antijüdischer Vorurteile, die sich jedoch zum Glück nie zu einer Theorie verfestigten. Äußerst lesenswert im Almanach ist auch eine Motivanalyse Martin Mittelmeiers, der sich mit dem auffälligen Interesse der Futuristen und Dadaisten am Rohstoff Kautschuk beschäftigt. Aus den Thematisierungen des sogenannten „Kautschukmanns“ bei dem französischen Künstler Francis Picabia und bei dem deutschen Maler George Grosz entwickelt Mittelmeier eine kleine Typologie des avantgardistischen Künstlers.
Was diese Profilierung des „Kautschukmanns“ für jene Künstler der Gegenwart bedeuten könnte, die sich dem Geiste Dadas verpflichtet fühlen, kann man in einem instruktiven Almanach-Essay von Enno Stahl nachlesen. Stahl porträtiert drei Gegenwartsautoren als ästhetische Nachfahren Dadas: die Dichterinnen Mara Genschel und Ann Cotten und den Sprachmystiker Oswald Egger. Die Qualifizierung des aus frühromantischen Quellen schöpfenden Sprachmagiers Oswald Egger als Neo-Dadaist ist zwar vollkommen abwegig – aber Mara Genschel mit ihren eigenwilligen Performances und Ann Cotten mit ihren Subversionsstrategien knüpfen tatsächlich direkt an die Antikunst-Energien der Dadaisten an.
Die Antikunst-Strategien der literarischen Avantgarde haben immer auch die Herausgeber der Zeitschrift IDIOME animiert, die in ihrer aktuellen Jubiläumsausgabe, der Nummer 10, eine Bilanz nach zehn Jahren Zeitschriftenarbeit ziehen. 2007 hatten die Gründungsherausgeber Florian Neuner und Lisa Spalt die Zeitschrift als eine Probebühne für neue experimentelle Prosa konzipiert, die – wie es in schöner Prägnanz hieß – das „licht der verwirrung in die dunkelheit der übereinkünfte zu bringen“ suchte. Das Jubiläumsheft führt nun die Ergebnisse einer reizvollen Versuchsanordnung vor. Experimentelle Autoren und bildende Künstler wurden zu einer Kooperation eingeladen, zu bestimmten Stichworten sich in ein Text-Bild-Verhältnis zu setzen, visuelle und textuelle Impulse sollten sich gegenseitig beflügeln. In den neuen IDIOMEN geht es also, so eine lakonische Anmerkung von Lisa Spalt, um „gegenseitige Ausdeutungen, Ausbeutungen, Beziehungen, in denen man sich ergänzt oder die kalte Schulter zeigt, ja sogar Verbindungen, die man mit sich selber eingeht.“ Das Spektrum der Beiträge reicht von intermedialen Annäherungen zwischen Poesie und bildender Kunst bis zu hin zu Beiträgen, die sich der Zusammenarbeit zwischen beiden Gattungen total verweigern. Die norwegische Künstlerin Tone Avenstroup liefert hier einen sehr poetischen, zwischen norwegischen und deutschen Sentenzen changierenden Text, der mit starken Collagen der aus Los Angeles stammenden und mittlerweile in Oberösterreich lebenden Künstlerin Mary Fernety korrespondiert. Eine schöne Text-Bild-Symbiose wird in der Zusammenarbeit des von der japanischen Kultur und der Zen-Ästhetik beeinflussten Künstlers Toni Kleinlercher und dem in Linz lebenden Autor Robert Stähr realisiert. Die minimalistischen Texte Robert Stährs zum Thema „Amnesie“ werden von Kleinlercher auf verschiedene Papiere in unterschiedlichen Faltungen aufgetragen. Der Schweizer Schriftsteller und Maler Urs Jaeggi schließlich, der sich in den frühen achtziger Jahren als radikal linker Autor profilierte, umkreist in IDIOME in Prosagedichten und Collagen das Thema „freier Fall“ als Erfahrung eines inneren Chaos: „Viel näher die Erde des / Entsetzlichen, ungeheure Angst, / Und es schwellen die Arme des Meers / Vom Ungetüm, das Menschen bedroht.“
Wo aber, um noch einmal die Fragestellung des Hugo Ball Almanachs aufzugreifen, könnte heute eine radikale moderne Literatur ansetzen, die das ästhetische Erbe der Dadaisten aufgreift? In seiner Beschreibung des „Kautschukmanns“ als Charakteristikum der dadaistischen Kunst hatte Martin Mittelmeier auf die „extreme Elastizität“ als Grundeinstellung des neuen Künstlertypus hingewiesen: „Es geht darum“, so Mittelmeier, „veränderungsoffen zu bleiben für eine innovationshungrige Gesellschaft, sich zu lockern für die Herausforderung, sich immer wieder neu erfinden zu müssen.“
Einen der ehrgeizigsten Versuche, sich selbst als Autor neu zu erfinden, hat nun der junge Schriftsteller Max Wallenhorst in der jüngsten Ausgabe, der Nummer 72 der Leipziger Literaturzeitschrift EDIT vorgelegt. Wallenhorst installiert ein Ich, das sich durch einen Raum bewegt, dessen genaue Örtlichkeit und dessen Konturen diffus bleiben. Auch hier agiert ein Erzähler mit kautschukartiger „extremer Elastizität“. Der „Raum“, den sein Ich-Erzähler durchmisst, ist eine Hotel-Lobby und zugleich der virtuelle Raum des Internets. „Ich lebe jetzt hier“, konstatiert der Erzähler am Ende des ersten Abschnitts – und es ist ein Leben, das auf einem permanenten Download und Floating durch die unendlichen Tiefen und Möglichkeiten einer virtuellen Welt beruht. Das Ich delegiert die eigene Existenz an ein fluides Einerlei im digitalen Raum, an die Unentschiedenheit als Lebensform. Was zählt, ist einzig, weiterzumachen so lange das Datenvolumen reicht: „Unser wir ist schwach“, heißt es treffend, und weiter: „diese Nähe besteht nicht nur aus Nebeneinander-Sitzen-Wollen, sie ist textuell und internetförmig.Der Raum gibt uns das Gefühl, als wäre das Internet noch einmal zu uns niedergekommen, oder zum allerersten Mal. Alles davor ist nur Praktikum und bin ich jetzt noch im praktikum oder schon nääher bei dir …“
In ähnlicher Weise versuchen in EDIT die Gedichte der 1995 geborenen Dichterin Christiane Heidrich ein ungefestigtes Ich vorzuführen, das nach einer stabilen Position im digitalen Raum sucht. Auch hier ist die soziale Wirklichkeit kaum greifbar, allenfalls als zufällige Meldung oder schneller Facebook-Kommentar: „Auf einer rutschigen Fläche unbeantworteter Nachrichten. Auf einer geschäftigen / Fläche zu- und abgesagter Events. // Beim Blinzeln in Überwachungskameras wissen wir. Die unangenehmen Gefühle stehen am offensten für ihren Verbrauch.“
Solches unsichere Flanieren auf der „rutschigen Fläche unbeantworteter Nachrichten“ ist sicher ein Merkmal der allerjüngsten Dichtergeneration. Einen weiteren, offeneren Blick auf die Möglichkeiten des Gedichts gewinnt man, wenn man die aktuelle Ausgabe, das Heft 2/2017 der Neuen Rundschau studiert. Hier entwirft Mitherausgeber Hans Jürgen Balmes unter dem Stichwirt „Lyrikosmose“ eine Sternkarte der neuen Poesie, eine Karte von poetischen Korrespondenzen und Nachbarschaften zwischen Dichtern, die in Deutschland leben, und polnischen, russischen, amerikanischen und chinesischen Autoren. Die lakonischen Erzählgedichte des Polen Lukasz Jarosz treffen hier zum Beispiel auf hinreißende „Wiegenlieder“ von Olga Martynova. Die kühlen Bewusstseinspoeme Ron Winklers begegnen den radikalen Nullansagen des aufsässigen Berliner Punk-Autors „Matthias“ BAADER Holst, der im Juni 1990 unter mysteriösen Umständen von einer Straßenbahn erfasst wurde und kurz darauf seinen schweren Kopfverletzungen erlag. Zu den schönsten Texten zählen gewiss die locker gefügten Erzählgedichte des Amerikaners Ron Padgett, einem Autor aus dem Umfeld der New York School of Poetry, der seinem großen Westschweizer Kollegen Blaise Cendrars ein berührendes Abschiedsgedicht gewidmet hat:
Kleine Elegie
Blaise Cendrars in seinen letzten Tagen, alt
und krank, schrieb seine letzten Worte hin:
Ein Vogel diesen Morgen auf der Fensterbank.
Ich finde das über jeden Begriff
anrührend und schön, obwohl
ich auch den greisen Dichter dabei sehe, das Haupt
gedreht zum Fenster, und ein kleiner Vogel
hockt dort, starrt hinein, dreht sein Haupt
der Knollennase und den schielenden Augen zu:
Komme dich besuchen, alter Mann.
Doch gleich heb ich die Flügel, und sie schlagen,
denn Fliegen ist mein großes Ding,
und wenn sich Flügel einmal spreizen,
ist es Zeit für Absprung und den Flug.
Mach's gut.
Morgen, Fensterbank und Vogel
sind verflogen. Mach's gut, mach's gut.
Hugo Ball Almanach, Neue Folge 8 (2017)
Hrsg. von der Stadt Pirmasens.
Edition Text+Kritik, München 2017, 260 Seiten, 24 Euro
IDIOME, Heft 10 (2017)
c/o Florian Neuner, Lübecker Str. 3, 10559 Berlin, 182 Seiten, 15 Euro
Edit, H. 72
Käthe-Kollwitz-Str. 12, 04109 Leipzig, 128 Seiten, 7 Euro
Neue Rundschau, H. 1/2017
Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt am Main, 240 Seiten, 15 Euro
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Michael Braun
Bericht
Archiv
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