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April 2012
Manche Dichter leben auf der dunklen Seite der Welt, ohne jede Aussicht, ins Offene zu gelangen. Bereits als junger Mann hatte sich der genialische Thomas Brasch ins Gehäus einer unaufhebbaren Einsamkeit zurückgezogen, eingeschlossen in ein grüblerisches Selbstgespräch, das unablässig um die Erwartung einer nahen Katastrophe kreiste. Die ihm zugedachte Bilderbuchkarriere in der DDR hatte der Sohn jüdischer Emigranten durch ästhetischen und politischen Eigensinn frühzeitig zerstört. Während sein Vater zum stellvertretenden Kulturminister der DDR aufstieg, wurde Brasch 1968 wegen „staatsfeindlicher Hetze“ zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, weil er Flugblätter gegen den Einmarsch der Warschauer Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei in Umlauf gebracht hatte. 1976 verließ er die DDR, ohne im Westen jemals heimisch zu werden. Sein erstes fatalistisches Prosabuch „Vor den Vätern sterben die Söhne“ erschien 1977 im Westberliner Rotbuch Verlag.
Den gerade mal dreißigjährigen Dichter hatte man zwar emphatisch als „Ulysses aus Charlottenburg“ gepriesen, ohne ihn aber von seinem unglücklichen Bewusstsein abbringen zu können, das immerfort Bilder vom Verhängnis der eigenen Existenz hervorbrachte. Was nun die Literaturzeitschrift „ Sinn und Form“ in ihrem aktuellen März/April-Heft aus dem literarischen Nachlass des 2001 verstorbenen Thomas Brasch ans Tageslicht befördert, vertieft das Bild eines Tragikers, dem eine heillose Traurigkeit zur Signatur seines Daseins wurde. „die beschäftigung mit der kunst“, so schreibt der 27jährige Brasch in seinen autobiografischen Aufzeichnungen, „erschien mir immer als etwas besonderes, als die tätigkeit der am stärksten einsamen, der verletzlichsten, derer, denen die mitteilungen an die außenwelt mit hilfe der gesten und des mundes nicht genügen, die sich dem papier, der leinwand zugewandt haben und einen ständigen monolog mit sich selbst dem großen geschwätz der welt vorziehen.“ Bereits der Brasch des Jahres 1972 befindet sich in einem „Monolog“, der nur wenig Möglichkeiten einer Veränderung entwirft, auch wenn er sich zur trotzigen Forderung an die Intellektuellen seines Landes durchringt, es komme darauf an, im erstarrten DDR-Sozialismus „die linke Straßenseite zu besetzen“ und den Kommunismus beim Wort zu nehmen. Die Tagebuchaufzeichnungen in „ Sinn und Form“ zeigen einen Künstler, der sich selbst als Ertrinkender beschreibt „auf einem untergehenden Schiff“ und dennoch eine „Neue Sprache“ lernen will. Trotz seines Gefühls des Erwähltseins lässt Brasch keine Gelegenheit aus, sich als künstlerisches Subjekt der bodenlosen Eitelkeit zu bezichtigen und sich als selbst als „charakterlosen Schauspieler“ bloßzustellen, dem die Eitelkeit wie ein „Blutegel“ im Hirn sitzt. Daneben finden sich Sätze, in denen der Dichter seine Isolation in der Einzelhaft zum Lebensgefühl erklärt: „Im Gefängnis teile ich die Menschheit in den Teil, der drin und den, der draußen ist. Ich bin draußen drin.“
Einen fesselnden Beitrag in „ Sinn und Form“ liefert auch die Schriftstellerin Katharina Born, die vor einigen Jahren eine überaus akribische Werkausgabe mit den Gedichten und Briefen ihres Vaters, des Dichters Nicolas Born, vorgelegt hat und die kürzlich mit dem Roman „Schlechte Gesellschaft“ als Autorin debütierte. In „ Sinn und Form“ porträtiert sie nun die Schriftstellerin und Reporterin Erika Mann, die von ihrem berühmten Vater zwar als kluge „Tochteradjutantin“ geschätzt wurde, die sich selbst aber immer nur als „bleichen Nachlaßschatten“ sah. Über Erika Mann wurde oft anerkennend gesagt, dass sie „die Thomas Mann-Sprache fließend“ beherrsche – so etwa Ludwig Marcuse –, aber dahinter verbirgt sich ja das eigentliche Drama. Dass nämlich, wie Katharina Born schreibt, selten die Sprache einer Tochter „so sehr Vatersprache war“. Es gehört zu den kunstvollen Momenten dieses Porträts, dass Katharina Born in die Geschichte Erika Manns die Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Dichtervater eingeschrieben hat. Letztlich muss man auch Erika Mann trotz ihrer rastlosen Reisetätigkeit und trotz ihrer Reportagen von diversen Kriegsschauplätzen zu den großen Einsamen der Literaturgeschichte rechnen.
Zu den großen Unverstandenen der modernen Poesie zählt auch der häretische Dichter und Mystiker Hugo Ball, der zwar als Wegbereiter des Dadaismus und Galionsfigur der literarischen Avantgardebewegungen zu einiger Berühmtheit gelangte, dessen Spätwerk aber bis heute haarsträubenden Fehldeutungen ausgesetzt ist. Da sich Hugo Ball nach seiner dadaistischen Periode wieder dem Katholizismus zuwandte und in seinen späten Schriften eine Apologetik der Askese und der Gottergebenheit entwickelte, gilt er den aufgeklärten Zeitgenossen von heute als religiöser Eskapist. In einem philosophisch weit ausgreifenden und direkt in die Gegenwart weisenden Essay versucht nun der Theologe Johannes Hoff Hugo Balls späten Aufsatz „Der Künstler und die Zeitkrankheit“ aus dem Jahr 1926 als „wegweisende Intervention in eine anhaltende Krisenkonstellation“ zu lesen. Dieser Aufsatz findet sich in der überaus lesenswerten und wunderbar unberechenbaren Zeitschrift „ Kultur & Gespenster“, die in ihrer aktuellen Nummer 13 einige großartige Beiträge zu bieten hat. Johannes Hoff unternimmt es hier, Hugo Balls Zeitdiagnose von 1926 mit Begrifflichkeiten der Gegenwartsphilosophie aufzurüsten. Dabei würde es genügen, Hugo Balls eigener Denkbewegung zu folgen. Hat der ketzerische Mystiker Ball in seiner Analyse der „Zeitkrankheit“ doch eine verblüffende Hierarchie entworfen: Unten steht bei ihm der Bürger, oben der „Exorzist“, in der Mitte aber, als Vermittler, der Künstler, den Ball auch „Psychiker“ nennt. Dieser Hierarchie- Gedanke geht auf einen Autor des Mittelalters zurück, den vermutlich syrischen Philosophen Dionysius Areopagita, der zu Beginn des 6. Jahrhunderts lebte. Während er in seiner Dada-Zeit den alle Sinne mobilisierenden Künstler zum Idealtyp erklärte, sieht der späte Hugo Ball im „Exorzisten“, also im Teufelsaustreiber die Persönlichkeit, die zum „immer schärferen Erfassen des Substanziellen“ befähigt ist.
Ein ebenso inspirierter Beitrag in „Kultur & Gespenster“ widmet sich dem ambitioniertesten Experimentallabor für die Gegenwartsliteratur, das vor einem halben Jahrhundert eröffnet wurde. „Die Begriffsbildung der Sprache hat mit der technischen Entwicklung nicht Schritt gehalten“: Mit solchen Thesen bereitete der unermüdliche Projektemacher Walter Höllerer 1959 die Gründung einer experimentierfreudigen Institution zur Modernisierung der Literatur vor. Im August 1961 startete dann die Zeitschrift „Sprache im technischen Zeitalter“, die sich die experimentelle Erforschung der Literatur unter den veränderten technologischen Bedingungen zur Aufgabe gemacht hatte. 1963 folgte dann die Gründung des „Literarischen Colloquiums Berlin“, des Prototyps aller Schreibinstitute in der Bundesrepublik. Till Greite rekonstruiert nun in „Kultur & Gespenster“ die Anfangsjahre dieser Berliner „Agentur des Kreativen“, die ganz im Zeichen der ästhetischen Grundlagenforschung zur Materialität der Sprache stand. Der Sprachphilosoph Max Bense räsonierte damals über „die Programmierung des Schönen“, Höllerer selbst initiierte akustische Sprach-Dokumentationen auf Tonbändern und Schallplatten. Es ist hier verblüffend zu lesen, in welcher Weise die klassische Autorfunktion in Frage gestellt wurde – etwa durch die Animierung eines kollektiv verfassten Gruppenromans, der das isolierte Autor-Ich in einen offenen Arbeitsprozess mit Kollegen stellen sollte. Ein Vorgang, der heute, im Zeitalter forcierter Individualisierung, kaum noch denkbar scheint.
Dass sich Walter Höllerers Gründungsidee bis heute ihre Frische bewahrt hat, zeigt sein programmatischer Aufsatz aus dem Jahr 1961, der im Jubiläumsheft 200 der immer noch sehr lebendigen Zeitschrift „Sprache im technischen Zeitalter“ nachzulesen ist. Höllerer erörtert hier die literarischen und wissenschaftlichen Möglichkeiten, wie der universellen „Erstarrung der Sprache“ zu entkommen sei.
Die poetischen Impulse zur Wiedererweckung der von Stereotypien aller Art bedrohten Sprache liefern heute Literaturzeitschriften wie „Ostragehege“ und das immer kühner auftretende Literaturmagazin „poet“. Im aktuellen Heft 65 eröffnet uns das „Ostragehege“ beispielsweise einen Zugang zu den avancierten Dichtern Polens, der Ukraine und Weißrusslands, wobei eine fantastische Autorin wie die ukrainische Dichterin Halyna Kruk überhaupt erst durch die Veröffentlichung in „Ostragehege“ für den deutschen Sprachraum entdeckt worden ist. Im Zentrum des neuen „Ostragehege“ steht indes ein langer Gedichtzyklus und ein Briefwechsel des bald 90jährigen Naturmystikers Yves Bonnefoy, den Una Pfau ins Deutsche übertragen hat. In einem überaus fesselnden Briefwechsel mit seiner Übersetzerin berichtet Bonnefoy, was 1947 zu seinem Zerwürfnis mit den Surrealisten führte: Es waren vor allem die Defizite der Surrealisten an Musikalität, die Bonnefoy auf Distanz gehen ließen. Wie sein Vorbild Stéphane Mallarmé verlangt Bonnefoy nämlich, dass die Dichtung „das Beste von der Musik nimmt“.
Just dieses Wechselverhältnis von Literatur und Musik steht diesmal auch im Zentrum der neuen, 330 Seiten starken Ausgabe des Literaturmagazins „poet“. Dabei fällt auf, wie weit doch das Bewusstseinsniveau der im „poet“ befragten Autoren, Musiker und Komponisten auseinander liegt. In dem äußerst inspirierten Gespräch zwischen Jan Kuhlbrodt und dem Komponisten und Lyriker Asmus Trautsch erfährt man grundlegende Dinge über „die anthropologische Dimension des Rhythmus“ in der Dichtung und über die „formgebende Kraft“ von Wortklängen, Vokal- oder Konsonantenhäufungen im poetischen Prozess. Dagegen wirkt doch recht blass und dürftig, was der junge Musiker Spaceman Spiff über seine instinktgeleitete Ästhetik mitzuteilen hat: „ich kann nicht richtig Noten lesen und mache das meiste aus dem Instinkt heraus.“ Einem Lyriker würde man so eine unterkomplexe Poetik kaum durchgehen lassen. Als aufregendste Entdeckung des Heftes darf der polnische Poet Miron Bialoszewski gelten, der raue Alltagssprache, Stottern, Lallen und schräge Neologismen in seine Dichtung integriert. Als Übersetzerin dieser fabelhaften Texte von Bialoszewski überzeugt Dagmara Kraus, die soeben mit dem Band „kummerang“ ein fantastisches Lyrikdebüt vorgelegt hat.
Zum Schluss sei noch darauf verwiesen, dass zwei der wichtigsten deutschen Kulturzeitschriften ein digitales Archiv eröffnet haben: Der „Merkur“, die substantiellste deutsche Kulturzeitschrift, hat sein komplettes Archiv ab 1947 freigeschaltet, gleichsam das geistesgeschichtliche Panorama der Bundesrepublik in all seinen kulturellen Wechselbädern. Freilich sind nur einige ausgewählte Artikel gratis zu bekommen; wer diesen Schatz vollständig heben will, muss den Online-Zugang abonnieren. Noch weiter zurück in die Geschichte führt uns die Online-Datenbank der „Neuen Rundschau“, die ihre Beiträge ab dem Gründungsjahr 1890 zur Verfügung stellt –auch hier freilich nur zahlenden Abonnenten. Dennoch ist das eine großartige Möglichkeit, am Reichtum des unabhängigen Denkens, der sich in diesen Zeitschriften angesammelt hat, teilzuhaben.
Sinn und Form, Heft 2/2012
Postfach 210250, 10502 Berlin. 130 Seiten, 9 Euro.
Kultur & Gespenster, H. 13 (2012)
Textem Verlag, Postfach 306341, 20329 Hamburg. 296 Seiten, 12 Euro.
Sprache im technischen Zeitalter, H. 200 (2011)
SH-Verlag, Redaktion: Am Sandwerder 5, 14109 Berlin, 120 Seiten, 14 Euro.
Ostragehege H. 65 (2012)
c/o Axel Helbig, Birkenstraße 16, 01328 Dresden, 84 Seiten, 4,90 Euro.
Poet Nr. 12 (2012)
poetenladen Verlag, Blumenstraße 25, 04155 Leipzig. 330 Seiten, 9,80 Euro.
Michael Braun 18.04.2012
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Michael Braun
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