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In solchen Kippfiguren wird das Denken still
Der 17. Leonce-und-Lena-Wettbewerb in Darmstadt

Von Michael Braun
  Steffen Popp, Jan Volker Röhnert, Andre Rudolph
Die Preisträger: Steffen Popp, Jan Volker Röhnert, Andre Rudolph
Weitere Teilnehmer: Nadja Küchenmeiser, Walter F. Schmid, Levin Westermann u.a.


Erst wenn die Mikrophone außer Reichweite sind, schlägt in Darmstadt die Stunde der Wahrheit. Was man am Rande erfährt, in den ungeschützten, unbedachten, beiseite gesprochenen Äußerungen, ist oft lehrreicher als die eloquenten und wohl abgewogenen Diskurse auf dem Podium. Da trifft man in einem Café auf die gerade von der Jury arg gerupften Dichter, denen die Ent­täuschung noch in den Knochen steckt und die sich, entlastet vom Ausgewogenheitszwang, nicht mehr zu diplomatischen Statements durch­ringen müssen. Einer versichert durchaus glaubhaft, dass er nur wegen des Preisgelds angereist sei und die mühsam inszenierten Lyrik-Debatten vor Ort für äußerst ent­behrlich halte. Was sich beim Literarischen März in Darmstadt als fein­sinniges Gespräch über die Möglich­keiten des Gedichts drapiere, sei in Wahrheit nur ein vor Klischee­haftig­keit ächzender Aufguss längst obsoleter Reiz­wörter. Gemeint war der riskante Versuch des Moderators Hajo Steinert, in einer Gesprächs­runde mit Nico Bleutge, Andrea Heuser und Judith Zander einen Adorno-Evergreen wieder­zubeleben und die Frage zu stellen: „Kann man nach Fukushima noch Gedichte schreiben?“ Derlei Fragen nach der Legitimität von Gedichten sind heute offenbar nicht mehr satis­faktions­fähig.

Bei allem Groll über die Darmstädter Debatten­kultur war aber doch spürbar, dass der Leonce-und-Lena-Wettbewerb auch in seiner 17. Auflage als Exzel­lenz­initiative für ambitionierte junge Lyriker wahr­genommen wird. Für eine Ökonomie der Aufmerksamkeit innerhalb der Lyrik-Community ist es immer noch von Bedeutung, wer bei diesem Wettbewerb reüssiert oder scheitert.

Wer von der Jury mit betrüb­lichen Befunden abgestraft wird, sollte sich in jener Gelassen­heit üben, mit der sich der Lyrik-Novize Walter Fabian Schmid in Darmstadt gewappnet hatte. Bislang war Schmid als Literatur­journalist und redak­tioneller Mitarbeiter des „Poeten­ladens“, nicht jedoch als Lyriker in Erscheinung getreten. Mit seiner wuchtigen Per­formance, gemixt aus aggre­ssiver Exaltation und ironischer Stimmen­imitation, hatte er ganz hoch gepokert – und konnte die abseh­baren Verluste begrenzen. Seine coura­gierte Darbietung („A Schmähgedicht braucht an Schmäh“) lief Gefahr, den gesammel­ten Zorn der Jury auf sich zu ziehen, bediente er sich doch eines Verfahrens der Sprach­zertrüm­merung, das der Poesie Thomas Klings abge­lauscht schien. Aber die Jury blieb milde und fand sogar einige anerken­nende Worte für den einzigen Autor des Wett­bewerbs, der dem Gedicht wieder poli­tische Protest-Energien zuführen wollte.

Zu einer Gelassenheit zu finden, war für Nadja Küchenmeister viel schwerer, zumal ihre fein geweb­ten Texturen von Schwebe­zuständen und Fin de Siècle-Stim­mungen in der Tradition Stefan Georges („juli-schwermut“) von der Jury boshaft abgefertigt wurden. Nadja Küchenmeisters Debüt­band „Alle Lichter“ wurde vor gar nicht langer Zeit in Darmstadt als „Buch des Monats“ ausge­zeichnet. Nun traf sie jedoch das scharfe Verdikt des Jurors Raoul Schrott, der in Küchen­meisters Sehnsuchts­poesie nur einen bleichen „Maoam-Existen­zialis­mus“ erkennen wollte.

Solche polemischen Ausritte wären diskutabel gewesen, wenn in allen Fällen so harsch und unerbittlich geurteilt worden wäre. Von einer sehr kollegialen Großzügigkeit konnte indes der Förder­preisträger Jan Volker Röhnert zehren, der mit tenden­ziell selbst­zufriedenen, wie von einem Weisheits-Podium herab­gespro­chenen Elegien hervortrat und seine Remi­nisze­nzen an Emily Dickinson mit über­flüssigem Lektüre­stolz würzte: „Sicher, ein Buch ist weder Leben noch Welt, / doch wir nehmen es mit in die Welt / erwägen danach die verflossene Zeit: / Mit der Uhr am Handgelenk las ich Balzac.“ Über alle Zweifel erhaben waren dagegen die meister­haften Anti-Idyllen von Steffen Popp, die mit ihren raffi­nierten anti­thetischen Setzungen und semanti­schen Brüchen das Landschafts­gedicht und die Meeres-Metaphorik neu definier­ten: „In solchen Kippfiguren wird das Denken still.“ Die Jury bescheinigte dem Leonce-und-Lena-Preis­träger gleich mehrfach einen außer­ordent­lichen „Reife­zustand“ seiner Gedichte. Die sehr berechtigte kollektive Lobeshymne klang wie eine Bußübung, denn vier Jahre zuvor, beim ersten Darmstädter Auftritt Popps, hatte man der metapho­rischen Kühnheit seiner Bilder noch die Anerkennung verweigert. Ein sehr großes Risiko ging der als Mitfavorit ange­tretene Andre Rudolph mit seinem kombina­torischen Lang­gedicht „die spinnen, die liebe, der tod“ ein, in das die antiken Topoi des Schicksals mit empha­tischen Anrufungen des toten Bruders und Zitaten des Trivial­mythos Fußball mosaikartig einge­flochten waren. Die „philosophische Klugheit des Textes“ (so Juror Kurt Drawert) wurde mit dem Förderpreis belohnt, wobei die mobile Ordnung der einzelnen Textelemente des Zyklus nicht immer zwingend erschien.

Viel zu wenig Beachtung fanden in Darmstadt die verschlos­senen, in ein namen­loses Dunkel gehenden, sehr ein­samen Gedichte Levin Westermanns, in denen sich ein Ich auf das eigene Verschwinden vorzubereiten scheint. Es ist beklemmend, diese verstörenden Protokolle eines Weltverlusts zu lesen, in denen das Subjekt immer mehr erstarrt und am Ende nur noch das Verstummen bleibt: „allein im wilden land aus wind und wasser, wir / erfinden eine neue art von schweigen.“ Ein Ich, das alles aufs Spiel setzt, das vom Weltgefühl der Verlorenheit umzingelt wird und dennoch spricht, am Rande des Schweigens: Für diese existenzielle Zerreißprobe noch Wörter zu finden – das ist Poesie.
Michael Braun    28.03.2011   

 

 
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