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Juni 2016
„Was alles hat Platz in einem Gedicht?“, hat der Dichter Helmut Heißenbüttel einmal gefragt – und seine verblüffend einfache Antwort enthielt ein großes Freiheitsversprechen für die Poesie. Es sind, so Heißenbüttel im Jahr 1968, die Wörter jedweder Provenienz, die alle gleichberechtigt ihren Platz haben im Gedicht: „erhabene, feierliche, gefühlvolle, technische, ordinäre, gedruckte, gesprochene, Tabuwörter, Fremdwörter, erfundene Wörter.“
Und dieses Freiheitsversprechen für die Poesie hat im gleichen Jahr 1968 der rebellische Poet Rolf Dieter Brinkmann noch weiter radikalisiert: „Man muss vergessen, dass es so etwas wie Kunst gibt! Und einfach anfangen.“ Diese Lizenz zur poetischen Freiheit haben seither die neuen Poeten der Moderne und Post-Moderne immer wieder in Anspruch genommen.
Wer in den aktuellen Literaturzeitschriften die neuesten Sprachgesten und Techniken der jüngsten Dichtergeneration studiert, der bekommt einen starken Eindruck von dieser neuen poetischen Freiheit und Beweglichkeit. Die wilde Montagekunst, der schnelle lyrische Schnitt, die Akkumulation digital generierter und digital rezipierter Bewusstseinsreize und die schroffe Fügung heterogenster Alltagsmaterialien - all das manifestiert sich in der Poesie unserer Tage.
Und viele interessante Beispiele dieser überraschungsbereiten Sprachassoziationskunst finden wir in der neuen Ausgabe der Zeitschrift „randnummer“, die gleich drei Hefte, die Nummer 6, 7 und 8, mit jeweils dicker Fadenheftung verklammert. Die Gestaltung der neuen „randnummer“ ist an den ästhetischen Konzepten eines Urvaters der experimentellen Poesie orientiert, an Max Bense, dem ästhetischen Kopf der „Stuttgarter Schule“. Bereits in den fünfziger Jahren erfand Bense eine an formalisierbaren Kriterien orientierte Ästhetik, die von einer „Programmierung des Schönen“ träumte. In der neuen „randnummer“ findet man nun Gedichte, die ganz unterschiedliche Wege gehen: Die einen versuchen sich an wagemutiger lyrischer Engführung, andere an bloßer minimalistischer Reihung, wieder andere an ausufernder Zusammenraffung. Auch der Brinkmannsche Gestus des Abräumens feiert ein Comeback, etwa in einem Gedicht von Björn Kuhligk.
„Das Gedicht grenzt im Westen an die Vereinigten Staaten der Zwecklosigkeit“, heißt es etwa in einem aus ironischen Behauptungen geformten Gedicht, das kalauernd fortfährt: „Das Gedicht grenzt im Osten an eine freiwillige Feuerwehr. / Das Gedicht grenzt im Süden an eine Tüte Bio-Mehl. / Das Gedicht grenzt im Norden an subventionierte Kinderbetreuung. / Das Gedicht grenzt, wenn es Grenzen hat, an seine Selbstgefälligkeit.“ Und dieses lockere Pendeln zwischen Ernst und Unernst, zwischen Schnoddrigkeit und unterkühltem Pathos kehrt wieder in vielen Texten dieser „randnummer“. Eine hübsche Verszeile Ron Winklers präludiert dabei die poetischen Techniken der allerjüngsten Dichter, von denen hier stellvertretend die „Wunderkammer“ des 1993 geborenen Rick Reuther betrachtet werden soll. Ron Winkler also schreibt kokett: „Ich / und das Andere ergeben eine schöne Wahnwitzkongruenz.“ Und die vorsätzliche Herstellung einer möglichst bizarren „Wahnwitzkongruenz“ zwischen dem lyrischen Subjekt und der äußeren Wirklichkeit gehört vielleicht auch zu den Merkmalen des Autors Rick Reuther. Das lyrische Ich in seinem Gedicht „# prolonged“ spaltet sich auf und verzweigt sich in unzählige Stellvertreterfiguren und es wird ausdauernd in der Wühlkiste der neuen Kommunikationsmedien und in Zufallsfunden im Internet gekramt. So entsteht ein Reigen von Ich-Projektionen, die in ihrer bizarren Zusammenfügung sicherlich Verblüffungseffekte zu erzeugen vermögen, ohne auf ein Ziel zusteuern zu müssen. Was ist das für ein Ich, das uns hier entgegentritt? Es ist ein nomadisierendes Subjekt, das sich als Kunstfigur in sozialen Netzwerken neu erfindet: „auf instagram bin ich cinderella / pflanze schlagbäume in bagdad, ..., bin freier link/ & gigolosohn, beamter der gehaltsklasse c“,/ im ministerium für bad & boden vergebe ich musen/ an öde motzer, arbeite im fem-muslimischen/ archiv, köpfte gestern alex k. unweit von alabama, / erfand in oslo den fado neu, hatte tage, wollte futures.“
Im Vagabundieren durch das endlose Universum des Digitalen entsteht eine Poesie der Ich-Auflösung, die unablässig neue Rollenmasken für das Ego ausprobiert. Mit solchen Ich-Zerstäubungen nähert sich die jüngste Poesie in gewisser Weise wieder den Erzvätern der Avantgarde an, den poetischen Alchemiekünstlern des Dadaismus.
Das Ich, das man fallen lassen soll wie einen „durchlöcherten Mantel“ und das man verabschieden muss wie die „vermaledeite Sprache, an der Schmutz klebt wie von Maklerhänden“ – das war auch ein Angriffspunkt der radikalsten Literaturbewegung des frühen 20. Jahrhunderts, des Dadaismus. Im aktuellen „Hugo Ball Almanach“, der wieder einmal mit großer Intensität die Ästhetiken und die Wirkungsgeschichte der Dadaisten erforscht, finden sich drei Beiträge, die ein neues Licht auf die Turbulenzen der kurzen Dada-Ära werfen.
Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho untersucht die verschiedenen Formen der Dissidenz, mit denen der aus Pirmasens stammende Dada-Erfinder Hugo Ball gegen die deutsche Geisteswelt aufbegehrte. Neben die Sprachkritik und neben die anarchistische Revolte tritt bei Hugo Ball, so Macho, die „spirituelle Dissidenz“, das ausgeprägte Interesse an frühchristlichen Heiligengeschichten und an der religiösen Konversion. 1924 war Ball für eine Weile nach Rom übergesiedelt und hatte sich dort mit den Schriften des italienischen Experimentalpsychologen Sante de Sanctis beschäftigt, vor allem mit dessen Studie La conversione religiosa. Mit dem Interesse an den Begleiterscheinungen der „religiösen Konversion erwachte bei Ball eine Faszination für die Rituale des Exorzismus. Wieso sich aber der Konvertit Hugo Ball, der die katholische Kirche 1912 verlassen hatte, um dann 1922 wieder in ihren Schoß zurückzukehren, auf einmal für den Exorzismus interessierte – dieser nun wirklich brisanten Frage, der sich die Ball-Forschung bislang nur zögernd zugewendet hat, weicht auch Macho aus.
Die poetischen Querköpfe im expressionistischen Jahrzehnt kämpften als Rivalen meist mehr gegeneinander als miteinander. Das zeigt der Fall der beiden Dichter Hugo Ball und Klabund alias Alfred Henschke. Eckhard Faul, der Herausgeber des „Hugo Ball Almanachs“,erörtert die Gründe, warum Klabund, der noch 1914 gemeinsam mit Hugo Ball und der Münchner Kabarettistin Marietta di Monaco skurrile Gedichte verfasste, sich nie zum Dadaismus im Zürcher Cabaret Voltaire bekennen wollte. Zwar beteiligte sich Klabund, den seine gefährliche Lungenkrankenheit zu einer rasanten Produktion antrieb, an der Programmgestaltung im Cabaret Voltaire, einmal trat er sogar im März 1916 selbst im Cabaret auf. Aber er hatte wenig Lust, die öffentliche Aufmerksamkeit mit den Dada-Kollegen zu teilen. Seine Poesie ist auch nicht an formaler Aufsässigkeit interessiert, sondern gefällt sich in ironischer Zuspitzung altvertrauter Volksliedstrophen. Klabund war eher ein boshaft-moderner Heinrich Heine als ein Dadaist. Abgesehen von seinem formalen Konservatismus war er auch politisch ein schwankender Charakter. Er gab noch 1915 eine Sammlung nationalistisch gestimmter „Soldatenlieder“ heraus und war während des Ersten Weltkriegs für den deutschen Nachrichtendienst tätig. Unvergessen ist jedoch seine leicht vulgäre Ironisierung des Treibens im Cabaret Voltaire. Es ist ein sehr boshaftes Gruppenbild der Dadaisten, mit expliziter Erwähnung von Emmy Hennings, Marietta di Monaco und Hugo Ball: „Die Emmy singt, Marietta spricht, /Zuweilen ist es ein Gedicht. / Ball spielt den Typerarymarsch/ Und kratzt sich den Poetenarsch.// Ein deutscher Dichter singt Französisch,/ Rumänisch klingt an Siamesisch. / Es blüht die Kunst. Halleluja!/ s´ war auch schon mal ein Schweizer da.“
Und wenn Klabund hier ironisch konstatiert: „Es blüht die Kunst. Halleluja!“, dann wird mit diesem eingestreuten „Halleluja“ auch die katholische Passion Hugo Balls aufgerufen. Und die Merkmale dieser katholischen Passion werden nun im „Hugo Ball Almanach“ in einem exzellenten Aufsatz des Literaturwissenschaftlers Carsten Dutt an zwei Elementartexten des Dichters analysiert. Dutt sieht sich das 1916 entstandene Lautgedicht „Totenklage“ und das im gleichen Jahr entwickelte bruitistische „Krippenspiel“ ganz genau an – und gelangt zu entscheidenden Differenzierungen, die über die bisherigen Lesarten hinausführen. Die „Totenklage“ Balls, die man noch heute gerne in die Abteilung der sinnfreien Lautgedichte gruppiert, hat nichts gemein mit der „Unbeschwertheit lautpoetischer Scherze“, sondern arbeitet bewusst – so Carsten Dutt – mit den Endrucksqualitäten einer „in Trümmer gegangenen...und amputierten Sprache“, sie ist ein erschütterndes „Kriegsgedicht“. Und auch an den Regievorgaben des „Krippenspiels“ kann Dutt eindrucksvoll nachweisen, wie hier der Dadaist eine christliche Spieltradition in eine erschütternde Geräusch-Komposition transformiert: „Es ist der unerhörte Kontrast zwischen der christlichen Heilsbotschaft von der Menschwerdung Gottes und dem unter Propellergeräusch, Scheinwerferlicht, Zischen, Zerplatzen und fortwährendem Fallen sich aufhäufendem Unheil der geschichtlichen Gegenwart des Jahres 1916.“
Von den unerhörten Ereignissen einer katastrophischen Geschichte durchwirkt war auch das Werk des großen Malers und Schriftstellers Peter Weiss, der in den sechziger und siebziger Jahren des alten Jahrhunderts im Zentrum der literarischen Welt stand und dessen grandioses Werk heute fast vergessen ist. Weiss hat der linken Öffentlichkeit immer wieder Stoff geliefert, indem er die so hoffnungserfüllte wie mörderische Geschichte des Kommunismus wie auch den Abgrund der faschistischen Barbarei mit politisch wie ästhetisch anstößigen Theaterstücken und Romanen ausleuchtete. Ein Sonderheft der Literaturzeitschrift „die horen“, die aktuelle Nummer 262, widmet sich der Entwicklung des vielseitigen Künstlers, der wegen seiner jüdischen Herkunft 1939 Deutschland verlassen musste, in Schweden als Maler arbeitete und fünf Bücher auf Schwedisch schrieb, bevor er 1964 mit seinem Theaterstück „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats“ seinen Siegeszug auf deutschen Bühnen begann. Dieser Siegeszug war dann aber 1970 zu Ende, als Weiss es wagte, in seinem Stück „Trotzki im Exil“ den von der Partei verstoßenen Aktivisten der Oktoberrevolution als legitimen Erben Lenins darzustellen. Die linke Öffentlichkeit war enttäuscht und nach dem anschließenden Verriss seines „Hölderlin“-Stücks erlitt Weiss einen Herzinfarkt. Was danach geschah, resümiert Hans-Ulrich Treichel in seinem spannenden „horen“-Aufsatz. Weiss´ Bericht über seine Krise, festgehalten in seinem Tagebuch „Rekonvaleszenz“, wurde von seinem Verleger Siegfried Unseld zunächst brüsk zurückgewiesen. Unseld forderte eine „stoffliche wie ästhetische Distanz zum eigenen Ich“.
Weiss versuchte das Geforderte in einer unglaublichen literarischen Anstrengung in das Schreiben der „Ästhetik des Widerstands“ umzusetzen, diesem absatzlos geschriebenen Roman in drei Bänden, der die Geschichte des Kommunismus wie der großen Kunstwerke unserer Welt aufzeichnen will. Als er seinen Roman fertiggestellt hatte, wandte sich Peter Weiss im April 1982 flehentlich an einen Freund: „Gebt mir etwas zu schreiben, sonst sterbe ich.“ Vier Wochen später war er tot.
Randnummer, Literaturhefte 6/7/8 (2016)
c/o Kornappel, Katzbachstr. 36, 10965 Berlin. 176 Seiten, 15 Euro
(info@randnummer.org)
Hugo Ball Almanach, Neue Folge 7, 2016
edition text+kritik im Richard Boorberg Verlag, Levelingstr. 6a, 81673 München;
234 Seiten, 19,80 Euro
die horen, Heft 262 (2016)
Wallstein Verlag, Geiststraße 11, 37073 Göttingen, 16,50 Euro
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Michael Braun
Bericht
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