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Juni 2011
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Zeitschriftenlese  –  Juni 2011
von Michael Braun | Saarländischer Rundfunk – Literatur im Gespräch


Wer in den vergan­genen Jahren an den Überhitzungen und den Fehl­steuer­ungen des intel­lektuel­len Dis­kurses gelitten hat, der konnte immer auf ein bewährtes Gegenmittel zurück­greifen: auf die Zeitschrift „Merkur“, die mit ihren scharf­sinnigen Diagnosen zuver­lässig den Kern der hyste­rischen Debatten freilegte. Der „Merkur“ präsen­tierte sich stets als ein verläss­liches Forum für das unab­hängige Denken, immun gegen die Versu­chun­gen der Gesinnungs­ethik und souverän in der Korrektur aller ideolo­gischen Moden.
  Seit über einem Viertel­jahrhundert hat der Literatur­wissen­schaftler Karl Heinz Bohrer mit einer gewissen Provo­kations­lust den „Merkur“ auf seinem nonkon­formis­tischen Kurs gehalten, hat dafür aber keines­wegs nur Lob geerntet, sondern auch einige Schmä­hungen über sich ergehen lassen müssen. Denn als Bohrer 1984 die Heraus­geber­schaft des „Merkur“ übernahm, hatte er kurz zuvor mit seinem Buch „Plötz­lichkeit“. Zum Augen­blick des ästheti­schen Scheins“ die neuen Er­kennt­nis­interessen der Zeit­schrift bereits markiert. Karl Heinz Bohrers „Plötz­lich­keit“ wurde zur Fibel eines Denkens, das ganz entschieden die ästhetische Bewusst­seins­heraus­forderung ins Zentrum stellte, gegenüber der zuvor dominie­renden sozial­geschicht­lichen Per­spektive. In seiner Fokus­sierung auf eine „Ästhetik des Schreckens“, die er bei so umstrit­tenen Kron­zeugen wie Ernst Jünger vorfand, und mit seinen bos­haften Attacken auf den Konsensus des linksliberalen Milieus reizte Bohrer seine Leser regel­mäßig zum empörten Widerspruch. Das entschlos­sene Plädoyer für die Wieder­ver­einigung und die vorbehaltlose Parteinahme für die Kultur des Westens haben dem „Merkur“ mittlerweile den Ruf einge­tragen, ein Zentralorgan der konservativen Intelligenz zu sein. Solche Zuschrei­bungen haben Bohrer und sein Mit­heraus­geber Kurt Scheel grund­sätzlich ignoriert – getragen von einer intellek­tuellen Neugier, die auch nie den Beifall von der falschen Seite fürchtet. In wenigen Monaten geht nun die Ära des Herausgeber-Duos Bohrer/Scheel zu Ende, der „Merkur“ wird unter der Leitung des Journa­listen und Kunsttheoretikers Christian Demand neue Wege gehen.
  Im aktuellen Juni-Heft des „Merkur“ formuliert der Bestsellerautor und Rechts­wissen­schaftler Bernhard Schlink gleichsam stell­vertretend das intel­lektuel­le Ver­mächt­nis, das die alten Heraus­geber ihrer Zeit­schrift hinterlassen. Schlink analy­siert die intel­lektuel­len Defizite in unserer Wahr­nehmung von Geschichte und in unserem Rechts­verständnis und spricht von einer „Kultur des Denun­ziato­rischen“, die derzeit unsere Debatten bestimme. Er zielt dabei auf den „Posi­tivismus der Gegen­wär­tigkeit“, der sich als aufklärerischer Impetus geriert und vor allem die Diskurse über die Lebenswelt des Dritten Reiches mit einem triumphalen Moralis­mus auflädt. Als auf­schluss­reiche Exempel dieser Morali­sie­rung nennt Schlink die Debat­ten über die Diplomaten des Auswärtigen Amtes während der Nazi-Zeit, über den Umgang mit der DDR-und Stasi-Ver­gan­gen­heit und die Bewertung von Thilo Sarrazins skan­dal­umwit­terten Buch „Deutschland schafft sich ab“. In all diesen Fällen, so Schlink, bringe sich in der Debatte ein „Entlar­vungs­impuls“ zur Geltung, der nicht auf dif­feren­zierte Betrach­tung, sondern auf morali­sche Skanda­lisierung zielt. So wird die Lebenswelt des Dritten Reiches nicht im historischen Kontext, sondern „von der Höhe heutiger Moral“ beurteilt. Diese „Kultur des Denun­ziato­rischen“ sei in Deutsch­land stil­prägend geworden – und es gehört zu den Aufgaben des „Merkur“, diese Bornierung der Kultur schonungs­los offen­zulegen. Um den Erregungs-Pegel einer empö­rungs­reichen Debat­te etwas zu senken, lässt der „Merkur“ einen britischen Journa­listen das skandal­umwit­terte Buch von Thilo Sarrazin rezen­sieren. David Goodhart leistet hier eine bewun­derns­werte Versach­lichung, wenn er Sarrazin gegen den Vorwurf des Rassismus in Schutz nimmt, gleich­zeitig aber seine Erwä­gun­gen zur vererb­baren Intelligenz und zu den gene­tischen Grund­lagen einer Kultur als „hoch­gradig speku­lativ“ verwirft.
  Neben dem „Merkur“ ist es seit vielen Jahren die Literatur­zeitschrift „Sinn und Form“, die auf konstant hohem Niveau die Marksteine setzt für ein litera­risches Tra­ditions­bewusst­sein, das die Denk­figuren des Marxismus ebenso sorgsam auf ihre Aktualität prüft wie die Motive eines religiös gefärbten Humanis­mus und Konser­vatismus.
  Das aktuelle Mai/Juni-Heft von „Sinn und Form“ spannt den Bogen von einigen auf­regenden Konstel­lationen der Nach­kriegs-Ver­gangen­heit bis zu den philo­sophi­schen Selbst­veror­tungen Durs Grünbeins. Der Lite­ratur­wissen­schaftler Florian Welle porträ­tiert drei Autoren, die in der Weimarer Republik ihre ersten Werke vorlegten und danach in Hitler­deutsch­land ihre lite­rarische Identität bewahren wollten. Es geht um die Freund­schaft der Schrift­steller Günter Eich, Horst Lange und Jürgen Eggebrecht, die sich in den dreißiger Jahren im Umfeld der Dresdner Autoren­gruppe und Zeitschrift „Die Kolonne“ kennen­gelernt hatten und dann den schwierigen Weg der „Inneren Emigra­tion“ einschlugen. Günter Eichs Versuche der Selbst­behauptung sind bekannt: Er konnte bis in die Kriegs­jahre hinein seine publi­zis­tische Präsenz durch unpoli­tische Arbeiten für den Rundfunk sichern und sich in Poberow an der Ostsee ein Sommer­häuschen leisten. Sein Freund Horst Lange konnte 1940 den politisch unlieb­samen Roman „Ulanen­patrouille“ nur ver­öffent­lichen, weil sich der mutige Lyriker und ehemalige Ullstein-Lektor Jürgen Eggebrecht für ihn einsetzte. Anders als Horst Lange und Günter Eich trat Eggebrecht nie der Reichs­schrift­tums­kammer bei, um den Preis, dass er in den Jahren der Nazi-Herr­schaft fast ganz aus dem litera­rischen Leben verschwand. Nach 1945 bewährte sich der risiko­bereite Eggebrecht erneut als ein Genie der Freund­schaft, als er Günter Eich selbstlos mit größeren finan­ziel­len Zuwen­dungen unter­stützte. „Sinn und Form“ doku­mentiert erstmals den Brief­wechsel zwischen Eggebrecht, Eich und Lange aus den Jahren 1945 bis 1947– ein ungemein fesselndes Dokument der jüngeren Literatur­geschichte.
  Als ein solches auf­regendes Dokument darf auch die kleine private Literatur­geschichte Helmut Heißen­büttels gelten, der hier in einem Essay aus dem Jahr 1982 seine Lieb­lings­gedichte resümiert. Der 1996 verstor­bene Altmeister der experi­mentellen Lite­ratur, der in diesen Junitagen 90 Jahre alt geworden wäre, verweist auf ganz unter­schied­liche Weg­gefährten, die seine diversen Werkphasen beflügelten: Arno Holz ebenso wie Stefan George, der heute kaum mehr bekannte Peter Gan oder auch die erotischen Sonette von Bertolt Brecht, die sich wie variantenreiche Preislieder auf die libidi­nösen Wünsche sexuell aktiver Männer lesen. In dem überaus reichen „Sinn und Form“-Heft finden sich auch überaus lesens­werte Gedichte von Jan Wagner, Sabine Schiffner und Michael Buselmeier. Besonders Busel­meiers „Schatten­hunde“, düstere Traumfragmente, die an Motive seines Dante-Zyklus anschließen, verstören durch ihren Wechsel zwischen „Auf­erste­hungs­gefühlen“ und fins­tersten Hades­wanderungen. Fetzen von Kinderliedern wehen heran, von Endzeit-Tönen schwarz gefärbt: „Vor vielen Jahren schrieb ich einen Brief / so kurz die Sommer die am Teich ich schlief / so tief die Sumpf­gerüche die ich rief / ein Schattenhund der durch die Wüste lief“.
  Während „Sinn und Form“ in der Komposition der einzelnen Hefte stets die Wirkungs­kraft der lite­rari­schen Traditionen dokumentieren will, müht sich die Leipziger Zeitschrift „Edit“, das „Papier für junge Texte“, immer wieder um eine Standort­beschrei­bung der aller­jüngsten Gegen­warts­literatur. Das Früh­jahrs­heft, die Nummer 54/55 von „Edit“ ist den Selbst­verortungen der jungen deutschen Prosa­lite­ratur gewidmet. Hier sind einige exzel­lente Stücke zeit­genös­sischer Prosa(theorie) zu besich­tigen, von Jan Peter Bremer, Judith Zander oder Verena Ross­bacher. Die 1982 geborene Nora Bossong, eine der größten Bega­bungen der jungen Autoren­generation, versucht in einem Essay einige Grenz­linien zu ziehen zu den konkur­rierenden Medien des Erzählens: den Narra­tions­ver­fahren von Film und Fernsehen. Nora Bossongs Reflexionen sind eigentümlich defensiv, wenn es darum geht, die Leistungskraft der Schrift gegenüber den raschen Bild- und Blickwechseln der visuellen Medien zu beglaubigen. „Dem Fern­seh­bild“, heißt es da etwa, „glauben wir vieles, der Prosa wenig.“ Aber ist dem wirklich so? Zwar gibt es die Sug­gestion der überwältigenden Schnitte, der sinnlichen Über­wältigung durch raffiniert kompo­nierte Bilderfolgen in der filmischen Narration. Aber die Glaubwürdigkeit dieser visuellen Raf­finessen bleibt doch gering, ein kleiner Rausch, der rasch vorüber ist. Dagegen kann das langsamere Medium, die Prosa, mit der Wider­ständigkeit seiner inneren Bilder eine viel nachhaltigere Schule des Sehens stiften.
  Wie Glaubwürdigkeit und Authentizität in künstle­rischen und wissenschaftlichen Zusammen­hängen ins Wanken geraten können, zeigt auf sehr anregende Weise eine neue inter­diszipli­näre Zeit­schrift aus Berlin, die im Umfeld des Instituts für Kultur­wissenschaft an der Humboldt-Uni­versität ent­standen ist. Dieses neue Perio­dikum nennt sich „ilinx“, in Anleh­nung an das griechische Wort für „Wirbel“. Die Nummer 2 von „ilinx“ beschäftigt sich mit Phäno­menen der Nach­ahmung, Anpassung und Mimikry, die man mit einem Begriff Walter Benjamins dem „mimetischen Ver­mögen“ zuordnen könnte. Während sich Benjamin in seinen Schriften mit diversen Formen spiele­rischer Verwand­lung und Nach­ahmung beschäftigte, widmet sich „ilinx“ sehr unter­schied­lichen Spiel­arten von „Mimesis“ und „Mimesen“, und zwar aus kunst­theoretischer, psycho­logi­scher und philo­sophi­scher Perspektive. Der auf­regendste Beitrag des Heftes ist sicher­lich Olaf Brieses akribische Rekon­struktion eines spekta­kulären Falls von Fäl­schung in der Altertums­wissen­schaft des frühen 18. Jahr­hun­derts. Es geht um den pas­sionier­ten Fossi­lien-Sammler Johann Bartho­lomäus Beringer, einen Univer­sitäts­professor und Leib­arzt verschiedener Fürst­bischöfe von Würzburg, der zur Beglau­bigung seiner Disser­tations-Thesen im Jahr 1725 viele hundert früh­geschicht­lich anmu­tende Objekte selbst ange­fertigt hatte. Die von ihm lancierten Fossilien-Funde und Figu­ren­steine sollten seine philo­sophisch hoch­speku­lativen Thesen von den „Urbildern“ der Natur beweisen. Beringer berief sich auf die „Metamor­phosen“ von Ovid, um den theo­lo­gischen Kern seiner Schöpfungs­lehre auch kultur­historisch zu legitimieren. Die Fossilien verstand er nicht etwa als früh­geschicht­liche Relikte kreatür­lichen Lebens, sondern als gleich­sam gött­liche Erdobjekte, als magische „Urbilder“, denen die Entwicklung der Natur gefolgt war. Die insge­samt fast 2000 gefälsch­ten Fos­silien, die er selbst in seinem Ehr­geiz ange­fertigt hatte, sollten als Belege eines eigen­schöpfe­rischen Erd­organis­mus herhalten. Dieser Fall eines vor­sätzlich täu­schenden Wissen­schaft­lers aus dem 18. Jahr­hundert wirft aber auch einen erhel­lenden Blick auf die Figur des akade­mischen Fälschers, Plagiators und Hoch­staplers, wie sie in diesen Tagen von entlar­vungs­bereiten Medien als absolute Unperson vorgeführt wird. Es ist zum beliebten Gesell­schafts­spiel geworden, pro­minen­te Poli­tiker als Fälscher, Plagia­toren und Hoch­stapler zu Fall zu bringen. Der Fall des Paläonto­logen Johann Beringer zeigt aber ein­drucks­voll, dass auch raffi­nierte Hoch­stapelei eine schwie­rige Kunst­übung ist, die große Bega­bung voraus­setzt.

Merkur Heft 6/2011  externer Link  
Mommsenstr. 27, 10629 Berlin. 90 Seiten, 12 Euro.

Sinn und Form, Heft 3 (2011)  externer Link
Postfach 21 02 50, 10502 Berlin. 140 Seiten, 9 Euro

Edit 54/55  externer Link  
Haus des Buches, Gerichtsweg 28, 04103 Leipzig. 156 Seiten, 5 Euro

ilinx, Heft 2   externer Link  
Boxhagener Str. 111, 10245 Berlin. Philo Fine Arts Verlag, 260 Seiten, 14 Euro.

Michael Braun    15.06.2011       

 

 
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