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Juni 2011
Wer in den vergangenen Jahren an den Überhitzungen und den Fehlsteuerungen des intellektuellen Diskurses gelitten hat, der konnte immer auf ein bewährtes Gegenmittel zurückgreifen: auf die Zeitschrift „ Merkur“, die mit ihren scharfsinnigen Diagnosen zuverlässig den Kern der hysterischen Debatten freilegte. Der „Merkur“ präsentierte sich stets als ein verlässliches Forum für das unabhängige Denken, immun gegen die Versuchungen der Gesinnungsethik und souverän in der Korrektur aller ideologischen Moden.
Seit über einem Vierteljahrhundert hat der Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer mit einer gewissen Provokationslust den „Merkur“ auf seinem nonkonformistischen Kurs gehalten, hat dafür aber keineswegs nur Lob geerntet, sondern auch einige Schmähungen über sich ergehen lassen müssen. Denn als Bohrer 1984 die Herausgeberschaft des „Merkur“ übernahm, hatte er kurz zuvor mit seinem Buch „Plötzlichkeit“. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins“ die neuen Erkenntnisinteressen der Zeitschrift bereits markiert. Karl Heinz Bohrers „Plötzlichkeit“ wurde zur Fibel eines Denkens, das ganz entschieden die ästhetische Bewusstseinsherausforderung ins Zentrum stellte, gegenüber der zuvor dominierenden sozialgeschichtlichen Perspektive. In seiner Fokussierung auf eine „Ästhetik des Schreckens“, die er bei so umstrittenen Kronzeugen wie Ernst Jünger vorfand, und mit seinen boshaften Attacken auf den Konsensus des linksliberalen Milieus reizte Bohrer seine Leser regelmäßig zum empörten Widerspruch. Das entschlossene Plädoyer für die Wiedervereinigung und die vorbehaltlose Parteinahme für die Kultur des Westens haben dem „Merkur“ mittlerweile den Ruf eingetragen, ein Zentralorgan der konservativen Intelligenz zu sein. Solche Zuschreibungen haben Bohrer und sein Mitherausgeber Kurt Scheel grundsätzlich ignoriert – getragen von einer intellektuellen Neugier, die auch nie den Beifall von der falschen Seite fürchtet. In wenigen Monaten geht nun die Ära des Herausgeber-Duos Bohrer/Scheel zu Ende, der „Merkur“ wird unter der Leitung des Journalisten und Kunsttheoretikers Christian Demand neue Wege gehen.
Im aktuellen Juni-Heft des „Merkur“ formuliert der Bestsellerautor und Rechtswissenschaftler Bernhard Schlink gleichsam stellvertretend das intellektuelle Vermächtnis, das die alten Herausgeber ihrer Zeitschrift hinterlassen. Schlink analysiert die intellektuellen Defizite in unserer Wahrnehmung von Geschichte und in unserem Rechtsverständnis und spricht von einer „Kultur des Denunziatorischen“, die derzeit unsere Debatten bestimme. Er zielt dabei auf den „Positivismus der Gegenwärtigkeit“, der sich als aufklärerischer Impetus geriert und vor allem die Diskurse über die Lebenswelt des Dritten Reiches mit einem triumphalen Moralismus auflädt. Als aufschlussreiche Exempel dieser Moralisierung nennt Schlink die Debatten über die Diplomaten des Auswärtigen Amtes während der Nazi-Zeit, über den Umgang mit der DDR-und Stasi-Vergangenheit und die Bewertung von Thilo Sarrazins skandalumwitterten Buch „Deutschland schafft sich ab“. In all diesen Fällen, so Schlink, bringe sich in der Debatte ein „Entlarvungsimpuls“ zur Geltung, der nicht auf differenzierte Betrachtung, sondern auf moralische Skandalisierung zielt. So wird die Lebenswelt des Dritten Reiches nicht im historischen Kontext, sondern „von der Höhe heutiger Moral“ beurteilt. Diese „Kultur des Denunziatorischen“ sei in Deutschland stilprägend geworden – und es gehört zu den Aufgaben des „Merkur“, diese Bornierung der Kultur schonungslos offenzulegen. Um den Erregungs-Pegel einer empörungsreichen Debatte etwas zu senken, lässt der „Merkur“ einen britischen Journalisten das skandalumwitterte Buch von Thilo Sarrazin rezensieren. David Goodhart leistet hier eine bewundernswerte Versachlichung, wenn er Sarrazin gegen den Vorwurf des Rassismus in Schutz nimmt, gleichzeitig aber seine Erwägungen zur vererbbaren Intelligenz und zu den genetischen Grundlagen einer Kultur als „hochgradig spekulativ“ verwirft.
Neben dem „Merkur“ ist es seit vielen Jahren die Literaturzeitschrift „ Sinn und Form“, die auf konstant hohem Niveau die Marksteine setzt für ein literarisches Traditionsbewusstsein, das die Denkfiguren des Marxismus ebenso sorgsam auf ihre Aktualität prüft wie die Motive eines religiös gefärbten Humanismus und Konservatismus.
Das aktuelle Mai/Juni-Heft von „Sinn und Form“ spannt den Bogen von einigen aufregenden Konstellationen der Nachkriegs-Vergangenheit bis zu den philosophischen Selbstverortungen Durs Grünbeins. Der Literaturwissenschaftler Florian Welle porträtiert drei Autoren, die in der Weimarer Republik ihre ersten Werke vorlegten und danach in Hitlerdeutschland ihre literarische Identität bewahren wollten. Es geht um die Freundschaft der Schriftsteller Günter Eich, Horst Lange und Jürgen Eggebrecht, die sich in den dreißiger Jahren im Umfeld der Dresdner Autorengruppe und Zeitschrift „Die Kolonne“ kennengelernt hatten und dann den schwierigen Weg der „Inneren Emigration“ einschlugen. Günter Eichs Versuche der Selbstbehauptung sind bekannt: Er konnte bis in die Kriegsjahre hinein seine publizistische Präsenz durch unpolitische Arbeiten für den Rundfunk sichern und sich in Poberow an der Ostsee ein Sommerhäuschen leisten. Sein Freund Horst Lange konnte 1940 den politisch unliebsamen Roman „Ulanenpatrouille“ nur veröffentlichen, weil sich der mutige Lyriker und ehemalige Ullstein-Lektor Jürgen Eggebrecht für ihn einsetzte. Anders als Horst Lange und Günter Eich trat Eggebrecht nie der Reichsschrifttumskammer bei, um den Preis, dass er in den Jahren der Nazi-Herrschaft fast ganz aus dem literarischen Leben verschwand. Nach 1945 bewährte sich der risikobereite Eggebrecht erneut als ein Genie der Freundschaft, als er Günter Eich selbstlos mit größeren finanziellen Zuwendungen unterstützte. „Sinn und Form“ dokumentiert erstmals den Briefwechsel zwischen Eggebrecht, Eich und Lange aus den Jahren 1945 bis 1947– ein ungemein fesselndes Dokument der jüngeren Literaturgeschichte.
Als ein solches aufregendes Dokument darf auch die kleine private Literaturgeschichte Helmut Heißenbüttels gelten, der hier in einem Essay aus dem Jahr 1982 seine Lieblingsgedichte resümiert. Der 1996 verstorbene Altmeister der experimentellen Literatur, der in diesen Junitagen 90 Jahre alt geworden wäre, verweist auf ganz unterschiedliche Weggefährten, die seine diversen Werkphasen beflügelten: Arno Holz ebenso wie Stefan George, der heute kaum mehr bekannte Peter Gan oder auch die erotischen Sonette von Bertolt Brecht, die sich wie variantenreiche Preislieder auf die libidinösen Wünsche sexuell aktiver Männer lesen. In dem überaus reichen „Sinn und Form“-Heft finden sich auch überaus lesenswerte Gedichte von Jan Wagner, Sabine Schiffner und Michael Buselmeier. Besonders Buselmeiers „Schattenhunde“, düstere Traumfragmente, die an Motive seines Dante-Zyklus anschließen, verstören durch ihren Wechsel zwischen „Auferstehungsgefühlen“ und finstersten Hadeswanderungen. Fetzen von Kinderliedern wehen heran, von Endzeit-Tönen schwarz gefärbt: „Vor vielen Jahren schrieb ich einen Brief / so kurz die Sommer die am Teich ich schlief / so tief die Sumpfgerüche die ich rief / ein Schattenhund der durch die Wüste lief“.
Während „Sinn und Form“ in der Komposition der einzelnen Hefte stets die Wirkungskraft der literarischen Traditionen dokumentieren will, müht sich die Leipziger Zeitschrift „ Edit“, das „Papier für junge Texte“, immer wieder um eine Standortbeschreibung der allerjüngsten Gegenwartsliteratur. Das Frühjahrsheft, die Nummer 54/55 von „Edit“ ist den Selbstverortungen der jungen deutschen Prosaliteratur gewidmet. Hier sind einige exzellente Stücke zeitgenössischer Prosa(theorie) zu besichtigen, von Jan Peter Bremer, Judith Zander oder Verena Rossbacher. Die 1982 geborene Nora Bossong, eine der größten Begabungen der jungen Autorengeneration, versucht in einem Essay einige Grenzlinien zu ziehen zu den konkurrierenden Medien des Erzählens: den Narrationsverfahren von Film und Fernsehen. Nora Bossongs Reflexionen sind eigentümlich defensiv, wenn es darum geht, die Leistungskraft der Schrift gegenüber den raschen Bild- und Blickwechseln der visuellen Medien zu beglaubigen. „Dem Fernsehbild“, heißt es da etwa, „glauben wir vieles, der Prosa wenig.“ Aber ist dem wirklich so? Zwar gibt es die Suggestion der überwältigenden Schnitte, der sinnlichen Überwältigung durch raffiniert komponierte Bilderfolgen in der filmischen Narration. Aber die Glaubwürdigkeit dieser visuellen Raffinessen bleibt doch gering, ein kleiner Rausch, der rasch vorüber ist. Dagegen kann das langsamere Medium, die Prosa, mit der Widerständigkeit seiner inneren Bilder eine viel nachhaltigere Schule des Sehens stiften.
Wie Glaubwürdigkeit und Authentizität in künstlerischen und wissenschaftlichen Zusammenhängen ins Wanken geraten können, zeigt auf sehr anregende Weise eine neue interdisziplinäre Zeitschrift aus Berlin, die im Umfeld des Instituts für Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität entstanden ist. Dieses neue Periodikum nennt sich „ ilinx“, in Anlehnung an das griechische Wort für „Wirbel“. Die Nummer 2 von „ilinx“ beschäftigt sich mit Phänomenen der Nachahmung, Anpassung und Mimikry, die man mit einem Begriff Walter Benjamins dem „mimetischen Vermögen“ zuordnen könnte. Während sich Benjamin in seinen Schriften mit diversen Formen spielerischer Verwandlung und Nachahmung beschäftigte, widmet sich „ilinx“ sehr unterschiedlichen Spielarten von „Mimesis“ und „Mimesen“, und zwar aus kunsttheoretischer, psychologischer und philosophischer Perspektive. Der aufregendste Beitrag des Heftes ist sicherlich Olaf Brieses akribische Rekonstruktion eines spektakulären Falls von Fälschung in der Altertumswissenschaft des frühen 18. Jahrhunderts. Es geht um den passionierten Fossilien-Sammler Johann Bartholomäus Beringer, einen Universitätsprofessor und Leibarzt verschiedener Fürstbischöfe von Würzburg, der zur Beglaubigung seiner Dissertations-Thesen im Jahr 1725 viele hundert frühgeschichtlich anmutende Objekte selbst angefertigt hatte. Die von ihm lancierten Fossilien-Funde und Figurensteine sollten seine philosophisch hochspekulativen Thesen von den „Urbildern“ der Natur beweisen. Beringer berief sich auf die „Metamorphosen“ von Ovid, um den theologischen Kern seiner Schöpfungslehre auch kulturhistorisch zu legitimieren. Die Fossilien verstand er nicht etwa als frühgeschichtliche Relikte kreatürlichen Lebens, sondern als gleichsam göttliche Erdobjekte, als magische „Urbilder“, denen die Entwicklung der Natur gefolgt war. Die insgesamt fast 2000 gefälschten Fossilien, die er selbst in seinem Ehrgeiz angefertigt hatte, sollten als Belege eines eigenschöpferischen Erdorganismus herhalten. Dieser Fall eines vorsätzlich täuschenden Wissenschaftlers aus dem 18. Jahrhundert wirft aber auch einen erhellenden Blick auf die Figur des akademischen Fälschers, Plagiators und Hochstaplers, wie sie in diesen Tagen von entlarvungsbereiten Medien als absolute Unperson vorgeführt wird. Es ist zum beliebten Gesellschaftsspiel geworden, prominente Politiker als Fälscher, Plagiatoren und Hochstapler zu Fall zu bringen. Der Fall des Paläontologen Johann Beringer zeigt aber eindrucksvoll, dass auch raffinierte Hochstapelei eine schwierige Kunstübung ist, die große Begabung voraussetzt.
Merkur Heft 6/2011
Mommsenstr. 27, 10629 Berlin. 90 Seiten, 12 Euro.
Sinn und Form, Heft 3 (2011)
Postfach 21 02 50, 10502 Berlin. 140 Seiten, 9 Euro
Edit 54/55
Haus des Buches, Gerichtsweg 28, 04103 Leipzig. 156 Seiten, 5 Euro
ilinx, Heft 2
Boxhagener Str. 111, 10245 Berlin. Philo Fine Arts Verlag, 260 Seiten, 14 Euro.
Michael Braun 15.06.2011
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Michael Braun
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