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Oktober 2012
In den sechziger Jahren galt der Dichter Walter Höllerer als der große Wirbelwind des deutschen Literaturbetriebs. Als passionierter Zeitschriftenmacher und großer Literatur-Impresario versuchte er die Poesie in einem ganz buchstäblichen Sinn in Bewegung zu bringen. Bereits seine erste wegweisende Anthologie, die Gedichtsammlung „Transit“ von 1956, markiert im Titel die Entschlossenheit zum Durchgang durch den „Steinwald des Gewohnten“, wie es in einer Randnotiz des Bandes heißt. In „Transit“ propagierte Höllerer vor allem den Ausbruch aus jenen Konventionen und Korsettierungen, die eine formal konservative und ästhetisch immobile Nachkriegsliteratur geschaffen hatte. Die offene Struktur der Anthologie „Transit“ sollte dagegen die ideale Form für moderne Poesie vorführen: nämlich „da zu sein als Mosaik vieler Felder, in dem jeder Teil zu dem anderen in bewegliche, erfinderische Nachbarschaft treten kann“. Und diese Form der beweglichen Nachbarschaft poetischer Elemente realisierte Höllerer später in seinen Gedichten des 1969 erschienenen Bandes „Systeme“, ein Buch, das noch zu entdecken ist in seiner epochalen Bedeutung für die Poesie der Gegenwart.
Gleich zwei Literaturzeitschriften, das sehr experimentierfreudige Literaturheft „randnummer“ und die dereinst von Höllerer selbst begründete Zeitschrift „Sprache im technischen Zeitalter“, haben nun bislang unveröffentlichte Gedichte aus dem Nachlass des 2003 verstorbenen Höllerer ausgegraben, die im Umfeld des Bandes „Systeme“ anzusiedeln sind. Der Berliner Dichter und Veranstaltungsmacher Tom Bresemann hat vor einiger Zeit im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg ein Typoskript mit Höllerer-Gedichten gefunden, die vielleicht auch wegen ihrer formalen Kühnheit nie zur Veröffentlichung gelangt waren. In der aktuellen Ausgabe, dem Heft 5 der „randnummer“ hat Bresemann nun einige Funde zusammengetragen und in einem kleinen Vorwort kommentiert.
Im aktuellen Heft 203 von „Sprache im technischen Zeitalter“ werden weitere Höllerer-Gedichte im Faksimile präsentiert und in einem kundigen Aufsatz von Dieter M. Gräf in ihrem literaturhistorischen Kontext erschlossen. Gräf verweist zum Beispiel auf die berühmten „Thesen zum langen Gedicht“, in denen Höllerer bereits 1965 den Weg zu einer offenen Poetik bahnte, die dann in seinem Band „Systeme“ Gestalt annahm. In diesen Thesen spricht Höllerer dem langen Gedicht eine besondere Beweglichkeit zu: „die Entscheidung für ganze Sätze und längere Zeilen bedeutet Antriebskraft für Bewegliches.“ Die offene poetische Form manifestiert sich in den Nachlass-Gedichten in dem Umstand, dass die einzelnen Verse systematisch aus der Reihe tanzen und sich auf der Buchseite in vielfach aufgefächerten, sehr unregelmäßigen, oft auch fragmentierten Gedichtzeilen gruppieren. Diese sehr freie Versform ist zum Teil auch ein Import aus der modernen amerikanischen Poesie, den Höllerer in den frühen 1960er Jahren selbst organisiert hat. Oft scheint es, als gehe es darum, die Gleichzeitigkeit unterschiedlichster Bewusstseinsreize in der Gestalt des Gedichts selbst abzubilden. Das Ich der Gedichte beobachtet sich selbst bei der Formung der eigenen Wahrnehmungen und es wird, so heißt es an einer Stelle, „in eine Kombination gebracht und / sogleich wieder zerlegt“. Das Ich bleibt also Relaisstation disparater punktueller Wahrnehmungen : „›da bin ich noch nicht dahinter gekommen‹ / oder laut gewordene aufgezeichnete Gedanken oder / Gegenstimmen von uns / eine Art Telefonie“.
Es geht bei dieser Ausgrabung der nachgelassenen Gedichte Walter Höllerers jedoch nicht um bloße Literatur-Archäologie. Denn die „randnummer“ nutzt diese offene Poetik Höllerers ganz offenkundig als literarisches Leitbild. Neben die Höllerer- Gedichte platziert die Redaktion sehr reizvolle visuelle Poeme der Autorin Angelika Janz, in denen durch verschiedene Montagetechniken Zeitungsausrisse oder kleine Malereien in die poetische Textur integriert werden. Das ist ebenso als eine widerständige Poesie in Bewegung zu begreifen wie die hier abgedruckten Gedichte von Norbert Lange, Léonce Lupette oder Jan Skudlarek, in denen Verfahren der Überschreibung, der semantischen De-Regulierung oder gar des Rückbaus von Texten angewandt werden. Jan Skudlarek beispielsweise reduziert expressionistische Großstadtgedichte von Georg Heym oder Ernst Blass auf wenige Wörter, um sie damit gleichzeitig semantisch ungeheuer aufzuladen. Überhaupt ist dieses neue Heft der „randnummer“ als ein vielversprechendes Manifest der offenen Poetik und ihrer avanciertesten Autoren aus der jungen Generation zu lesen. Diese offene Poetik mit ihrem Anspruch auf Subversion findet ihre Fürsprecher auch in den amerikanischen Dichtern und Poetologen Bruce Andrews und Charles Bernstein, die hier mit forschen Plädoyers auf die Sabotage der herrschenden Grammatik zielen. Es geht darum, so Andrews in seinem programmatischen Essay, „Wörter zum Ausgangspunkt von Erweiterungen (zu) machen“ und „aus dem geschlossenen Kreislauf des Zeichens auszubrechen“. In einer Melange aus französischem Strukturalismus und Kritischer Theorie wird eine politisch radikale Poetik der „Subversion“ gefordert: „Eine anti-systemische Detonation gefestigter Beziehungen und anarchische Freisetzung von Energieströmen.“ Gut gebrüllt, Löwe!
Wer sich an traditionellere Konzepte der Dichtung halten will, sei auf die neue Ausgabe, die Nummer 67 der Zeitschrift „Ostragehege“ verwiesen. Dort resümiert die Lyrikerin Dorothea Grünzweig in einem sehr inspirierten Gespräch mit Axel Helbig ihre Vorstellungen einer religiös grundierten romantischen Poetik. Seit 1989 lebt die in einem protestantischen Pfarrhaus aufgewachsene Autorin als „Bürgerin zweier Sprachwelten“ in Finnland und schreibt dort Gedichte, die nicht nur von der innigen Berührung der finnischen Landschaft und Wörterwelt zeugen, sondern auch von einem spirituell-mystischen Verständnis poetischer Schwebezustände. Eine direkte Linie führt von Grünzweigs emphatischer Dichtung zurück zu ihrer Herkunftswelt, zum „freien Herzensgebet“ des schwäbischen Pietismus. Ihre Gedichtzeilen sind durchzogen von den Liedern ihrer Kindheit, von Wiegenliedern, Psalmversen und Gebetsformeln. Die Dichterin selbst fühlt sich angesichts dieser Gedichtformen an die bergende Wirkung eines Zelts, einer sogenannten Jurte erinnert – „mit dem Gestänge und dem weichen Tuch dazwischen.“
Von einem Schwebezustand ganz anderer Art, nämlich einer unheimlichen Wahlverwandtschaft zwischen moderner Musik, einer Befreiungsphantasie und dem Tod berichtet ein faszinierender Essay von Bruno Preisendörfer, der in der aktuellen Ausgabe, der Nummer 59 der Zeitschrift „Edit“ nachzulesen ist. Zwei scheinbar unzusammenhängende Erfahrungen – das längste Orgelstück der Welt und ein sehr kurzer, lebensgefährlicher Sprung in die Tiefe über dem afrikanischen Fluss Sambesi – werden hier zusammengeführt. Preisendörfers Essay verknüpft in magischer Weise diese zwei Extremzustände. Drei Sekunden währt der Sprung in den Sambesi an einem Bungee-Jumping-Seil, dagegen dauert die Aufführung des längsten Orgelstücks der Welt von John Cage in einer Kirche in Halberstadt in Sachsen-Anhalt insgesamt zwanzig Milliarden Sekunden, das sind 639 Jahre. Am Ausgangspunkt dieses faszinierenden Textes besucht ein Mann, der den Sprung in den Sambesi wagen wird, die Kirche in Halberstadt, in der am 5. September 2001 das Orgelstück von John Cage begonnen hat. Aber erst im Februar 2003 ertönt der erste Pfeifton, denn die Orgel muss gleichsam siebzehn Monate Atem holen, bevor der erste Ton erklingt. Und bei jedem Ton wird der Orgel eine Pfeife hinzugefügt, so dass am Ende, im September des Jahres 2640 die Orgel 640 Pfeifen enthalten wird. Die Suggestion dieses Essays ist nun, dass sich die „Zeit-Sprünge“ der Orgel und die des Bungee-Jumping-Springers ähneln. Am Ende steht aber für den Springer und für die Hörer des Stücks von John Cage der Tod. Oder, wie es Preisendörfer mit einem Satz Flauberts sagt: „Der weiße Katarakt des Todes.“
Einen ebenso verstörenden Essay finden wir in der aktuellen Ausgabe, dem Heft 5/2012 der Kulturzeitschrift „Sinn und Form“. Hier resümiert der todesbesessene Schriftsteller Ulrich Horstmann, der seit langem an einer Philosophie des Freitods arbeitet, die letztlich wirkungslosen Versuche unserer Therapiegesellschaft, die Selbstmörder durch präventive Maßnahmen von ihrem Tun abzuhalten. Horstmann beschreibt dagegen den Selbstmord als einen Akt der Souveränität und der Selbstbestimmung des Menschen, der durch Maßnahmen der Suizidprävention nicht verhindert werden kann, der aber auch an Dritte nicht delegierbar ist. Und hier zeigt sich denn auch die Pointe dieses Essays, der als rabenschwarzes Plädoyer für den Freitod daherkommt, aber sich am Ende in aller Schärfe gegen eine Ethik der Sterbehilfe wendet. Denn wer Vollstrecker des Sterbens einsetzt, so argumentiert Horstmann, der ist nicht mehr Herr seiner selbst und liefert sich der Fremdbestimmung aus. „Selbstmörder“, so Horstmann trocken, „heißt jemand, der Hand an sich legt, wer Hand an sich legen läßt, heuert einen Auftragskiller an“. Wie eine erzählerische Beglaubigung dieser Philosophie des Freitods liest sich in „Sinn und Form“ die großartige Erzählung „Die Ewigkeit des Augenblicks“ von Hartmut Lange. Ein Mann trauert hier um seine jung verstorbene Frau und zieht sich nicht nur aus seinem Beruf als Architekt, sondern aus allen sozialen Zusammenhängen zurück. Er wird Taxifahrer, aber nur, um sich in seinem Taxi in einer immer kleiner werdenden Welt einzurichten. Eines Tages kehrt die Vergangenheit zurück. Er trifft auf einen Fahrgast, der sich in der Wohnung eingenistet hat, die der Trauernde zuvor mit seiner Frau bewohnte. Am Ende der Erzählung, die auch eine schöne Topografie einiger Berliner Stadtbezirke entwirft, verschwindet der lebensmüde Protagonist am Ufer des Teltowkanals auf Nimmerwiedersehen.
Zum Schluss noch ein Hinweis auf „Idiome“, eine sehr lebendige Zeitschrift für neue Prosa, die der österreichische Schriftsteller Florian Neuner zusammen mit dem Verleger Ralph Klever herausgibt. Hier werden mehr oder weniger gelungene Texte von Aktivisten der experimentellen Poesie vorgestellt, in der Nummer 4 beispielsweise ein Virtuosenstück aus dem Geiste des Buchstabens „A“ von Chris Bezzel und Tagebuchaufzeichnungen von Altmeister Paul Wühr. Der aufregendste Fund in diesem Heft der „Idiome“ ist aber das letzte Interview des linksradikalen und der Avantgarde nahestehenden Schriftstellers Peter O. Chotjewitz, der eine Woche vor seinem Tod im Dezember 2010 noch mit Florian Neuner gesprochen hat. Hier erinnert sich Chotjewitz an sein spannungsreiches Verhältnis mit den Autoren der Wiener Gruppe und den Aktivisten der „Fluxus“-Bewegung. Als Schriftsteller ging Chotjewitz einen gänzlich anderen Weg als die Experimentellen – den einer ästhetischen wie politischen Radikalisierung. Sein letztes großes Prosaprojekt war ein Roman über den RAF-Anwalt Klaus Croissant, dem er – wie sich selbst – bescheinigte, ein veritabler „linker Kotzbrocken“ zu sein. An Nonkonformismus ließ sich ein Peter O. Chotjewitz von niemandem übertreffen.
randnummer, No 05
c/o Simone Kornappel, Okerstr. 43, 12049 Berlin. 252 Seiten, 8 Euro.
Ostragehege, No 67
c/o Axel Helbig, Birkenstr. 16, 01328 Dresden, 70 Seiten, 4,90 Euro
Edit, No 59
Gerichtsweg 28, 04103 Leipzig. 112 Seiten, 5 Euro.
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Sinn und Form, 5/2012
Postfach 2102 50, 10502 Berlin. 130 Seiten, 9 Euro.
Idiome, No 4
c/o Florian Neuner, Lübecker Str. 3, 10559 Berlin.104 Seiten, 9,90 Euro.
Michael Braun 24.10.2012
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Michael Braun
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