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August 2011
Es ist die folgenreichste und schönste Verschwörung, die uns die Kulturgeschichte jemals geschenkt hat: die Konspiration der Dichtung. „You send mir your poems, / I“ll send you mine“ – „Du schickst mir deine Gedichte, / ich schick dir meine“: So beginnt das Gedicht „The Conspiracy“, auf deutsch „Die Verschwörung“ des amerikanischen Poeten Robert Creeley, der damit auf das unendliche Gespräch unter den Dichtern verweist, das in der Romantik begonnen hat und bis in die Spätausläufer der Moderne und Post-Moderne fortgeführt worden ist. Das dialogische Prinzip, der leidenschaftliche Austausch von Denkfiguren, Motiven, Ideen und Wortkonstellationen ist das intertextuelle Fundament einer Dichtkunst, die besonders engagiert von den Großmeistern der amerikanischen Lyrik propagiert worden ist. In Deutschland hat man im 20. Jahrhundert diese poetische Verschwörung der amerikanischen Dichter, die von Autoren wie Ezra Pound, Charles Olson und Robert Creeley angestiftet wurde, lange nicht bemerkt. Als erster hatte der genialische Jungdichter Rainer Maria Gerhardt um 1950 den Versuch eines „transatlantischen Dialogs“ mit den Anglo-Amerikanern unternommen. Dieses Experiment scheiterte, denn in Deutschland hegte man ein begründetes Misstrauen gegenüber Ezra Pound, hatte der sich doch an den italienischen Diktator Benito Mussolini angebiedert.
So kommt es, dass eine Schlüsselfigur der modernen amerikanischen Dichtung, der große Lyriker und Poetologe Charles Olson, hierzulande bis heute ein Unbekannter geblieben ist. Für die ersten öffentlich sichtbaren Spuren Olsons zeichneten 1966 Walter Höllerer und Klaus Reichert verantwortlich, die den sanften Riesen aus Massachusetts ans Literarische Colloquium Berlin holten, wo Olson mit seiner Poetik des „offenen, projektiven Verses“ und seiner Lehre vom Gedicht als hochwertigem „Energieträger“ die Matadoren der deutschen Lyrik beeindruckte. Walter Höllerer hatte damals das Literarische Colloquium nach dem Vorbild des sogenannten „Black Mountain College“ gegründet, in dem Olson als charismatischer Lehrer die Hauptrolle spielte. Ein halbes Jahrhundert danach hat nun das „Schreibheft“, die nach wie vor lehrreichste Zeitschrift zur Wiedererweckung der literarischen Moderne, in der aktuellen Nummer 77 ein umfangreiches Dossier zu dem eigensinnigen Weltpoeten Charles Olson zusammengestellt. Unter der Federführung von Norbert Lange und Gerd Schäfer sind hier instruktive Essays und Kommentare zu Olsons Werk versammelt und erstmals auch zentrale Teile von Olsons opus magnum „Maximus“ in deutscher Übersetzung zu lesen. Im Focus des Interesses steht hier die Zeit nach dem Ende der Dichterschule des „Black Mountain College“, als Olson 1957 von North Carolina nach Massachusetts umgezogen war und sich dort nach Gloucester zurückgezogen hatte, ein kleines Fischerstädtchen am nordöstlichen Rand der Vereinigten Staaten. Der Ort Gloucester wird im Großgedicht „Maximus“ zum dichterischen Kosmos und zum Kraftzentrum alles Lebendigen. Als Übersetzer ausgewählter Teile von „Maximus“ agieren mit Norbert Lange, Konstantin Ames, Ron Winkler und Uljana Wolf die experimentierfreudigsten Köpfe der jungen Dichtergeneration. Dazu treten mit Jürgen Brôcan, Rainer G. Schmidt, Ulf Stolterfoht und Gerhard Falkner sehr inspirierte Dichter und Übersetzer, die dafür gesorgt haben, dass diese Wiedererweckung Charles Olsons zu einem aufregenden literarischen Ereignis geworden ist.
Zu „Hammer und Bolzen des Versbaus“ hat Olson die Silbe erklärt – und es ist ein lehrreiches Vergnügen, die kongenialen Nachdichtungen der Übersetzer zu studieren, die den „offenen Vers“ Olsons, der typographisch den ganzen Raum der Seite in weit ausschwingenden Langzeilen ausnutzt, in ganz unterschiedliche Tonarten transferieren. Mal liest sich Olsons „Maximus“ wie eine hymnische Schöpfungsgeschichte, in der der „tiefwirbelnde Okeanos“ alle Dinge „durch alles“ steuert, dann wieder wie eine Rhapsodie auf „Dogtown“, einen Weltenwinkel in Massachusetts. Grundiert werden diese Rhapsodien durch eine Lobpreisung eines neuen Gesellschaftsideals, einer Apologie auf die neue „polis“. Olson selbst verstand sich eigentlich nicht als Dichter oder Schriftsteller, sondern als „Archäologe des Morgens“, zudem als Sänger der erdgeschichtlichen Fakten und der Freisetzung aller menschlichen Möglichkeiten.
Dank des neuen „Schreibhefts“ ist Charles Olson, dieser Sohn eines Briefträgers und leidenschaftliche „Ideenhändler“ in gleich dreifacher Hinsicht neu zu entdecken: als Pionier des Langgedichts mit beweglicher Form und freiem Atem; als Dichter der politischen Utopie, der freien „polis“ – und als Dichter des Raumes, wie es eine Fußnote festhält: „Ich sage, der RAUM ist die zentrale Tatsache für den in Amerika geborenen Menschen, von der Folsom-Höhle bis jetzt. Ich schreibe ihn groß, denn groß kommt er daher. Groß und gnadenlos.“
Wenn man sich umsieht nach etwaigen Nachgeborenen der amerikanischen Poesie-Erneuerer Olson und Creeley, findet man an den Dichterschulen unserer Tage durchaus einige Begabungen. Wer die Experimentierfreudigkeit dieser Postmodernisten überprüfen will, der sollte zu der aktuellen Sonderausgabe, der laufenden Nummer 30 der Zeitschrift „ BELLA triste“ greifen, die ganz im Geiste des alten Avantgardismus sym-poetische Literaturprojekte vorführt, die demonstrativ die Gattungsgrenzen überschreiten und die traditionelle Buchform aufheben. Bei einigen dieser transgressiven Projekte weiß man indes nicht, ob man sie eher kühn-originell oder nur putzig finden soll. All diese Wunderdinge sind in einer kartonierten Box deponiert, die nicht zufällig an die vor zehn Jahren recht aktive Literaturschachtel „ Die Aussenseite des Elementes“ erinnert. In einem Jutesäckchen finden sich hier etwa literarische Spielkarten von Niklas Bardelli, die doppelseitig mit kleinen Textfragmenten bestückt sind und die man als mobile Textelemente nach Belieben collagieren kann. Ein schöner Fund in der neuen „BELLA triste“ ist dagegen die sehr unterhaltsame Soundkarte von Christian Filips, Monika Rinck und dem Musiker Bo Wiget, die eine fein-assoziative Verbindung von „Schwester Scham und Bruder Duden“ herstellen. Eine rigide Methode des Minimalismus verwenden Uljana Wolf und Christian Hawkey, um englische und deutsche Sonette unter anderem von Rainer Maria Rilke gleichsam auf ihren semantischen Kern hin zusammenzukürzen, so dass nur einige Poesiesplitter übrig bleiben. In der großen Wunderbox tummeln sich daneben einige recht dürftige Gags – und zum Glück auch drei ambitionierte Versuche über Literatur und die an ihr angrenzenden Künste und Schockstrategien. Dieter M. Gräf reflektiert etwa über seine „Poesie der Fakten“, die zeithistorische Stoffe mit Hilfe schroffer Montagen in lyrische Reibungshitze versetzt. Hendrik Jackson entwirft einige Denkbilder zur Differenz von Literatur und Terrorismus. Last not least gelingen dem Prosaautor Michael Stavarič und der Fotografin Laetizia Praiss verstörende Text-Bild-Kombinationen: In die finsteren Foto-Collagen werden nach Art einer Überschreibung hochverdichtete Prosaminiaturen eingetragen. Es sind existenzielle literarische Grenzgänge, die den Boden unter den Füßen schwanken lassen.
Den historisch reflektierten und spannungsreichen Kontrast zu solchen gegenwartsverhafteten Exerzitien markiert immer wieder erfolgreich die Kulturzeitschrift „ Sinn und Form“. Detlev Schöttker hat im aktuellen Juli/August-Heft von „Sinn und Form“ den Briefwechsel zwischen Ernst Jünger und dem Kulturphilosophen und Journalisten Dolf Sternberger genau studiert. Dabei hat er wieder einmal ein Zeugnis für die ambivalente Ernst Jünger-Verehrung gefunden, die auch im liberalen und linken Milieu beheimatet ist. Dolf Sternberger hatte während der Nazi-Diktatur wie einige der besten Köpfe der „Inneren Emigration“ für die „Frankfurter Zeitung“ gearbeitet. Im Oktober 1941 lernte er in Paris Ernst Jünger kennen. Jüngers 1939 publizierten Roman „Auf den Marmorklippen“ hat Sternberger wie viele Leser als „prophetische Phantasie“ und allegorischen Blick auf die Schrecken der Nazi-Herrschaft gedeutet, eine Lesart freilich, der Jünger nie explizit zustimmte. Aus der Bekanntschaft zwischen Jünger und Sternberger erwuchsen noch weitere staunenswerte Verbindungen: so etwa Jüngers erotische Passion für Sophie Ravoux, eine jüdische Ärztin, die Kontakte zur Résistance hatte und dadurch Jünger tatsächlich in jene Gefahr brachte, die er stets als Elixier seines Lebens beschrieb. Ein weiterer brisanter Beitrag in „Sinn und Form“ stellt einige Grundthesen der Celan-Forschung auf den Kopf: Paul Celans Briefpartner und langjähriger Freund Klaus Demus mokiert sich hier in einem Gespräch über die bislang kanonische Deutung des Celan-Gedichts „Todtnauberg“. Man hat in diesem Gedicht bislang eine Distanzierung von Martin Heidegger und eine Kritik an dessen Opportunismus gegenüber dem Hitler-Regime erkennen wollen. Klaus Demus erklärt nun diese Lesart für „lächerlich“. Celan habe nur „das schlichte Denkmal einer Begegnung“ gesetzt, „das die wenigen Einzelheiten, die es gab, als gemeinsam beschrittenen Weg festhalten will“. Demus gestattet sich auch einige Respektlosigkeiten, die ihm von den Celan-Exegeten sicherlich angekreidet werden. So erklärt er beispielsweise, dass die zunehmende Kryptik in den Gedichten Celans seit dem 1963 publizierten Band „Die Niemandsrose“ in direktem Zusammenhang mit der paranoischen Erkrankung des Autors stehe. Solche biografistischen Lesarten, enigmatische Poesie in einen direkten Zusammenhang mit der Krankheit des Dichters bringen, stellen sich indes unfreiwillig selbst unter Ideologieverdacht.
Schreibheft 77
Nieberdingstr. 18, 45147 Essen. 160 Seiten, 13 Euro.
Bella triste 30, Sonderausgabe
Neustädter Markt 3-4, 31134 Hildesheim, Karton,15 Euro.
Sinn und Form, Heft 4 (2011)
Postfach 21 02 50, 10502 Berlin. 140 Seiten, 9 Euro
Michael Braun 14.08.2011
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Michael Braun
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