Dem Schweizer Dichter Klaus Merz genügen wenige Pinselstriche, um zum Kern der Dinge zu gelangen und die schwankenden Fundamente des Weltgebäudes freizulegen. Dieser Autor ist ein Meister der Kürze, der sich extrem zurücknimmt und lieber die Phänomene selbst sprechen lässt, anstatt ihnen von außen Bedeutungen aufzunötigen. In seiner lakonischen Kargheit gelingt es ihm, an den Gegenständen ihre Substanz und metaphysische Tiefe sichtbar zu machen. „Große Geschäfte“ spielen sich bei ihm auf kleinen „Nebenschauplätzen“ ab. Hinter unspektakulären Alltagsszenen verbergen sich oft die „alten Fragen“ nach den letzten Dingen. Für „drei Kurzgeschichten“ in Gedichtform benötigt Merz gerade mal vier Zeilen, mehr vokabulären Aufwand will sich sein „Widerstand gegen die Ausführlichkeit“ nicht gestatten. Diese „drei Kurzgeschichten“ sind in zarten Wörtern wie „Windrose“ oder „Läutwerk“ deponiert, Wörter, die bereits durch ihre lautliche Gestalt etwas Poetisches in sich tragen und von Himmelsrichtungen oder von begütigenden Geräuschen erzählen. Im zweiten Gedicht seines neuen Bandes Aus dem Staub nennt Merz en passant sein Vorbild – den spätmittelalterlichen japanischen Dichter Matsuo Bashô, den Erfinder des Haiku. Von Bashô hat Merz die Kunst des Innehaltens und ruhigen Zuwartens gelernt. Aus diesem Warten und geduldigen Hinsehen entsteht die Poesie, die nah an Dingen ist: „Sitzen bleiben auf der minderen / Seite des Flusses. Und die Sand-/bank gegenüber als Eiland im Auge / zurückbehalten, unentdeckt.“ Der Titel von Merz' neuem Gedichtband weist in zwei Richtungen, die von den Gedichten gleichzeitig aufgesucht werden: Aus dem Staub meint die Bewegung des Flüchtenden, der seinen angestammten Platz auf Nimmerwiedersehen verlässt – und zugleich wird die biblische Sentenz von der Vergänglichkeit des Menschen wachgerufen. In einer Verdichtungs-Intensität, wie sie in zeitgenössischer Poesie nur noch selten anzutreffen ist, hat Klaus Merz „die Vergänglichkeit in Klänge verwandelt“, wie es in einer seiner so beiläufig wirkenden Miniaturen heißt. Diese Sprache der Sterblichkeit ist auch präsent, wenn der Dichter im Dreizeiler „Hohe See“ zeigt, wie die religiöse Heilsgewissheit zerbrechen kann. Denn die Gläubigen sind hier auf einer gekenterten Arche Noah unterwegs: „Kiel oben steuert / das Kirchenschiff aufs Jenseits zu. / Die Mannschaft singt.“ Seine Beobachtungen und Begegnungen verwandelt Merz ganz unaufdringlich in metaphysische Gleichnisse, Erinnerungen an die Kindheit weiten sich zu Expeditionen zu unseren Lebens-Ängsten. Die poetischen Miniaturen dieses Gedichtbuchs, oszillierend zwischen Schwermut und Leichtigkeit, öffnen uns den Blick auf die instabilen Fundamente unserer Existenz. Und manchmal, für Augenblicke nur, heilen sie von der Melancholie: „Es gibt Sätze / die heilen // und Tage / leichter als Luft. // Es gibt eine Stimme / die ich wiedererkenne // noch bevor sie / mich ruft.“
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Michael Braun
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