Februar 2006
Zeitschriftenlese – Februar 2006
von Michael Braun | Saarländischer Rundfunk
Im Sommer 1969, als in Westeuropa die Atmosphäre von kulturrevolutionären Manifesten stark erhitzt war, wagte die österreichische Zeitschrift „Literatur und Kritik“ ein aufschlussreiches Experiment. Den damals bekanntesten österreichischen Dichtern legte man einen Fragenkatalog vor, der sich mit poetologischem Feinsinn nicht lange aufhielt, sondern gleich ins Grundsätzliche ging. Die zwei wichtigsten Fragen: „1. Was ist das eigentlich, Lyrik?“ Und zweitens: „Warum schreiben Sie Gedichte?“ Ingeborg Bachmann, damals schon von Liebeskummer und quälenden Selbstzweifeln zermürbt, gestand ihre Ratlosigkeit ein und antwortete auf alle Fragen knapp: „Das weiß ich nicht.“ Erich Fried aber, der Heros einer radikal politisierten Lyrik, erinnerte an ein altes Diktum des norwegischen Klassikers Hendrik Ibsen, das Dichtung als existenzielle Selbstprüfung begreift: Gedichte schreiben, so Ibsen, bedeute „Gerichtstag halten über sein eigenes Ich“. Natürlich versuchte Erich Fried die individualistische Anmutung dieser Formel zu kritisieren und die Dichtung auf den „Kampf gegen Entfremdung“ festzulegen. Aber beeindruckend bleibt von seinem Statement nur der existenzielle Imperativ Ibsens: Dichten sei „Gerichtstag halten über das eigene Ich“. Das Ich des Dichters wird hier also nicht als omnipotente Wahrheits-Instanz inthronisiert, sondern im Gegenteil in den Status des Angeklagten zurück versetzt, der sich vor der Sprache und der Welt zu rechtfertigen hat. Es ist dem aktuellen Jubiläumsheft der Zeitschrift „Literatur und Kritik“ zu verdanken, dass man an solche hilfreichen ästhetischen Maximen erinnert wird. In einem Streifzug durch die ersten 25 Jahre der 1966 gegründeten Zeitschrift hat der jetzige Herausgeber Karl-Markus Gauß auf über 220 Seiten die überraschendsten Funde aus den Anfängen zusammengestellt: neben der Lyrik-Rundfrage etwa ein aufregendes Interview mit Ingeborg Bachmann und wunderbare Essays von Manès Sperber und Ilse Aichinger.
Weil „Literatur und Kritik“ stets auf skeptische Distanz gegenüber den literarischen Modeströmungen in Österreich bedacht war, muss sich die Zeitschrift bis heute mit dem sonderbaren Vorwurf herumschlagen, eine immer gediegene, aber eben auch brave und ein bisschen langweilige Zeitschrift zu sein.
Gewiss fehlt ihr der vorwärtsweisende Entdecker-Leidenschaft der „manuskripte“ von Alfred Kolleritsch. Aber beide Zeitschriften verbindet mittlerweile ein durchaus traditionalistischer Impuls, eine Geste der Rückwendung auf die glorreichen Anfänge der österreichischen Moderne. Das aktuelle „manuskripte“-Heft etwa, die Nummer 170, porträtiert einen jungen Wilden der sechziger Jahre, den kürzlich verstorbenen Dramatiker Wolfgang Bauer. In dem Wolfgang Bauer-Memorial findet sich ein anrührender Brief des Gestorbenen, der die Lebensleistung des bald 75jährigen Alfred Kolleritsch eindrucksvoll zu würdigen weiß: „Lieber Fredi...du bist nämlich in der ganzen Vielfalt deiner Tätigkeiten, ob als Dichter, Lehrer, Koch, Redakteur, Berater und anderem mehr, immer auf Understatement bedacht gewesen. Ich meine: Du bist trotz aller Versuchungen kein Bonze geworden. Du hast dich nicht verbonzen lassen. Du bist kein buddhistischer und kein politischer Priester geworden, du brauchst für deine Existenz sicher ein paar Philosophen, aber kein Mandala und schon gar keine Kärntner Mandalan.“
Was für Österreich Alfred Kolleritsch ist, das war für Deutschland der vor zwei Jahren verstorbene Walter Höllerer, der sicherlich einfallsreichste Matador des Westberliner Literaturbetriebs in den sechziger Jahren. Höllerer begann als Schüler des Naturlyrikers Georg Britting zu schreiben und stieß 1952 mit seinem lyrischen Debüt „Der andere Gast“ das Tor auf zur literarischen Moderne. Aber mit einem Dasein als bloßer Lyriker fühlte sich Höllerer unterfordert. Seine kreativen Energien entfesselte er auch als Literaturvermittler und Wissenschaftler, als Zeitschriftengründer und Literaturimpresario. Er gründete in seiner vibrierenden Produktivität 1954 die mittlerweile legendäre Zeitschrift „Akzente“, initiierte 1963 das „Literarische Colloquium“ Berlin und übernahm nebenbei auch noch den Lehrstuhl für Literaturwissenschaft an der Technischen Universität Berlin. Zwischen den verschiedenen literarischen Identitäten sprang er mühelos hin und her und es gelang ihm im Alleingang die Neuerfindung des literarischen Lebens.
Der Literaturkritiker Helmut Böttiger hat nun diesem mitreißenden Literatur-Impresario eine Ausstellung und einen schönen Essay gewidmet, der im aktuellen Heft, der Nummer 4/2005 der Kulturzeitschrift „Neue Rundschau“ nachzulesen ist.
Zu den spektakulärsten Aktivitäten Walter Höllerers gehörten seine Interventionen in die Lyrik-Diskussion der sechziger Jahre. Er versammelte im „Literarischen Colloquium“ die Großmeister der europäischen und amerikanischen Lyrik und sorgte in seiner Zeitschrift „Akzente“ mit eigenwilligen Thesen zum kurzen und zum langen Gedicht für große Aufregung. So zirkulierte schließlich auf den Lesungen der legendären Veranstaltungsreihe „Ein Gedicht und sein Autor“ ein schönes Bonmot von Arnfrid Astel, das den Höllerer-Hype prägnant zusammenfasste: „Zur Hölle mit den kurzen Gedichten, zu Höllerer mit den langen.“
Vierzig Jahre nach Walter Höllerers „Thesen zum langen Gedicht“ bewegen sich die „Akzente“ in ruhigerem Fahrwasser. Den Status des poetologischen Denkzentrums und literarischen Branchenführers haben sie längst verloren, nur selten gibt es noch Hefte, in denen sich Schriftsteller der jüngeren Generation mit schroffen Themensetzungen exponieren wollen. Indes hat sich Michael Krüger, der die „Akzente“ seit 1982 im Alleingang leitet, eine starke Passion für die Lyrik bewahrt – auch wenn er dabei wesentlich diskreter vorgeht als Höllerer und den Debatteneifer eher bremst. Aber auch ohne „Thesen zum langen und kurzen Gedicht“ ist Krüger nun mit der Dezember-Ausgabe, der Nummer 6/2005 ein wunderschön komponiertes Lyrik-Heft gelungen, in dem apokalyptisch gestimmte Temperamente mit ihren negativen Utopien der Vereisung und des Kältetods auf äußerst gegenwartshungrige und daseinsbejahende Poeten treffen. Es beginnt mit weit ausschwingenden Gedichten aus dem Nachlass des Nobelpreisträgers Joseph Brodsky in der Übersetzung von Ralph Dutli, Gedichte, die aufgeladen sind mit Phantasmagorien einer gewaltigen Sintflut und der alles verschlingenden und alles zermahlenden Zeit. Die Mittelachse dieses Heftes bilden Gedichte und Prosagedichte von Urs Widmer und Ascher Reich, die das apokalyptische Motiv aufnehmen und es in unterschiedlichster Weise anverwandeln. Die Topoi der Sintflut oder des Weltenbrands in Hiroshima konterkariert Widmer mit sarkastischen, mitunter komisch-grotesken, meist aber finster-pessimistischen Sentenzen: „Vor der Gewalt“, heißt es an einer Stelle, „zieht jede Schönheit den kürzeren.“ Aber am Ende des Heftes werden zwei englische Lyriker porträtiert, die sich mit der universellen Dominanz der Gewalt und der Unterdrückung des Schönen nicht abfinden wollen. Jan Wagner stellt den 1963 geborenen Simon Armitage vor, einen Star der englischen Gegenwartspoesie. Und Hauke Hückstädt plädiert enthusiastisch für die „intensive und zwingende Gedächtniskunst“ des Dichters, Übersetzers und Hölderlin-Forschers David Constantine. Es bleibt die Hoffnung, dass die Poesie bei ihrer Begegnung mit dem Todesengel der Apokalypse zwar nicht unbedingt die erlösenden Antworten, aber die richtigen Fragen parat hat. Respektlose Fragen, wie sie der israelische Lyriker Ascher Reich an den „Todesengel“ seines Gedichts stellt: „Hast du jemals Tränen vergossen? / Warst du jemals Kollaborateur? // Wieviele Augen hast du, / Beine, Hände? / Hast du Brüste? // Wann schläfst du? / Brauchst du Schlaf? // Bist du das Ende oder der Anfang?“
Von „Todesengeln“ und Würgeengeln der Geschichte weiß auch die Dresdner Literaturzeitschrift „Ostragehege“ zu berichten, die seit einiger Zeit sehr inspiriert am Brückenschlag zwischen west- und osteuropäischen Dichtungstraditionen arbeitet und dabei den poetischen Dialog zwischen den je spezifischen Erinnerungskulturen erprobt. Das neue Heft, die Nummer 40 von „Ostragehege“ blickt zunächst in das von Nadeschda Mandelstam dereinst apostrophierte „Jahrhundert der Wölfe“ und seine diversen Schrecknisse, um dann in einem weiten Bogen bei den avancierten Schreibweisen der jungen deutschen Lyriker-Generation zu landen. In der Reihe „Lagebesprechung“ widmet sich Brigitte Oleschinski in einem sehr präzisen Porträt der in Wien lebenden Dichterin Anja Utler, die in ihrer Dichtung die Wörter und die Natur-Dinge in ein so dicht geflochtenes Wechselverhältnis einwebt, dass aus der Reibung von Sprache, Stimme und Schrift, von Lautung und Bedeutung eine hochmusikalische Textur entsteht. Im Blick auf die Gedichte von Anja Utler, in denen Sprachstoff und Naturstoff ineinander aufgehen, muss die anfangs zitierte Formel von Ibsen modifiziert werden: Dichten ist eben nicht nur „Gerichtstag halten über das eigene Ich“, Dichtung ist auch „Sprachhandlung“, die den Stoff der Welt im Gedicht erst sinnlich sprechend entstehen lässt. Und erst im Verlauf dieser „Sprachhandlung“ kann dann auch ein Ich konturiert werden, dass auf seine Bestände hin überprüft werden kann. Einige weitere poetologische Maximen, die für eine avancierte Lyrik von Bedeutung sind, findet man in dem lehrreichen Gespräch mit Ilma Rakusa, die dort ihre Poetik des Schwebens entwickelt: Es geht, bei Ilma Rakusa wie bei Anja Utler, um ein – ich zitiere – „fragiles Gleichgewicht zwischen Semantik, Syntax und lautlich-rhythmischen Valeurs“. Es geht also um Polyphonie und um Bedeutungs-Reichtum, um das Herstellen schöner Mehrdeutigkeit.
Bei der Betrachtung dessen, was Ilma Rakusa „fließendes Schreiben“ nennt, reichen die alten Kategorien der Lyrik-Kritik nicht mehr aus. Die Lyrik-Theorie müsste hier ihre Termini neu justieren. Seit einiger Zeit ist es der 1973 geborene Ron Winkler, der ehrgeizigste Poetologe unter den jüngeren Lyrikern, der mit großer Beharrlichkeit nach neuen verlässlichen Begriffsbildungen für die Lyrik-Theorie sucht. Was er nun in der neuen Ausgabe, dem Heft 35 der Berliner Literaturzeitschrift „Lose Blätter“ über Brigitte Oleschinski schreibt, ist alles sehr klug, sehr fein und distinktiv, aber mitunter etwas steil geraten.
Das literarische Ereignis dieser „Losen Blätter“ ist das intime „Blumentagebuch“ von Andreas Maier und Christine Büchner. Als Vorbild für dieses Journal werden die Tagebücher Wilhelm Raabes genannt, der in seinen Aufzeichnungen eine „Enthaltsamkeit sich selbst gegenüber“ praktizierte und sich auf Notate über das Wetter und das Essen beschränkte. Aber Maier und Büchner setzen sich hier entschieden ab von dieser literarischen Askese. Ihr Journal rückt die seelischen Qualen Raabes in den Blick und denkt nach über den Zusammenhang von Sehnsucht und Schwermut, über das Leiden an der industriellen Planierung der Welt und die tiefe Depression. Der Blumebeobachter Raabe ist mindestens ebenso ein Vorbild wie der „radikale Ökoterrorist“ Raabe, der bereits 1884 über die Vergiftung eines Flusses durch eine chemische Fabrik nachdachte. Zur Blumenbeobachtung und zur Käuterheilkunde zurück führen schließlich die pessimistischen Sätze der verzweifelten Mystikerin Hildegard von Bingen. Sie lauten: „Denn die Menschen kehren uns mit ihren schlechten Taten wie in einer Mühle von unterst zu oberst. Wir stinken schon wie die Pest und vergehen vor Hunger nach der vollen Gerechtigkeit.“
Literatur und Kritik, Nr. 399/400
Ernest-Thun-Str. 11, A-5020 Salzburg
224 Seiten, 6,80 Euro
manuskripte, Heft 170
Sackstraße 17, A-8010 Graz
146 Seiten, 10 Euro
Neue Rundschau, Heft 4/2005
S. Fischer Verlag
Hedderichstraße 114, 60596 Frankfurt a.M.
182 Seiten, 10 Euro
Akzente, Heft 6/2005
Hanser Verlag
Postfach 86 04 20, 81631 München
96 Seiten, 7,90 Euro
Ostragehege, Nr. 40
c/o Axel Helbig, Birkenstraße 16, 01328 Dresden
70 Seiten, 4,90 Euro
Lose Blätter, H. 35
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28 Seiten, 1,50 Euro
Michael Braun 12.03.2007
Saarländischer Rundfunk | Zeitschriftenlese Februar 2006
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