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Oktober 2017
„Ich lernte Abschied: eine Wissenschaft“: Diese Verszeile des russischen Dichters Ossip Mandelstam, entstanden vor einhundert Jahren, ist zur poetischen Formel für vereinsamte Dichter geworden, die den Weg ins innere Exil antreten, in die freiwillige Absonderung von dem nervösen Getriebe der Welt. „Ich lernte Abschied: eine Wissenschaft“, könnte als Motto auch dem neuen Gedichtzyklus des Lyrikers und Erzählers Jürgen Theobaldy voranstehen, der in diesen Gedichten Abschied nimmt von seiner im Mai 2016 verstorbenen Frau Sanae Christen-Inoue, mit der er in den Jahren davor gemeinsam Japan bereist hatte, nicht ohne die Impulse japanischer Ästhetik für sein eigenes Schreiben fruchtbar zu machen. Im Jahr 2015 war dann auch Theobaldys Gedichtband „Hin und wieder hin“ erschienen, in der sich auch sechs Haiku-Übersetzungen von Christen-Inoue finden. In seinem neuen Gedichtzyklus vollzieht sich der Abschied in der unmittelbaren Begegnung des lyrischen Subjekts mit den Ritualen der Totenwache, der Grablegung und den Hinterlassenschaften des geliebten Menschen. Die Literaturzeitschrift „Sprache im technischen Zeitalter“ hat mit diesem berührenden Gedichtzyklus, diesem konzentrierten Memorial und poetischen Totengedächtnis, seine aktuelle Ausgabe, die Nummer 223 eröffnet. Es sind sehr stille Gedichte, die vom konzentrierten Schauen und meditativen Betrachten leben, letzte Blicke und Liebeserklärungen für einen Menschen, dessen fortdauernde Präsenz sich in die Gedichte eingraviert hat. Der 1944 in Mannheim geborene Theobaldy, der seit vielen Jahren in der Schweiz lebt, hatte in seinen literarischen Anfängen in den frühen 1970er Jahren für einige Aufregung gesorgt. Mit seinen Gedichtbänden „Blaue Flecken“ von 1974 und „Zweiter Klasse“ von 1976 war er als Exponent einer Lyrik der „Neuen Subjektivität“ hervorgetreten und hatte damals mit seinem Programm der lyrischen Leichtigkeit und sinnlichen Direktheit eine sehr polemische Debatte über die Möglichkeiten des zeitgenössischen Gedichts angefacht. In späteren Jahren eroberte er sich die klassischen Formen zurück, den catullischen Elfsilber oder auch das Sonett. Seit einiger Zeit zeichnen sich seine Gedichte durch eine zarte Anmut im Zeichen Goethes oder eben im Geist der japanischen Poesie aus. Seine poetischen Nachrufe in „Sprache im technischen Zeitalter“ beschwören nun die Erfahrung eines irreversiblen Endes, das im Augenblick des Schreibens aufgehalten und zugleich durch die Manifestation der Trauer bekräftigt wird. So etwa im Gedicht „Ein Ende doch“:
Ein Ende doch
Die Form verlangt die Ferne,
der Schmerz verspricht
den Zustand ohne Ende,
notiere ich im Stehen,
draußen vor dem Friedhofsgitter,
ohne Aussicht auf ein Ende,
ohne Wunsch nach einem Ende,
ein Ende wäre, zu vergessen,
ich vergäße sie, vergäße
ihre kalte Hand in meiner Hand.
Als ein literarisches Exerzitium in der „Wissenschaft des Abschieds“ lässt sich auch eine neue Erzählung von Michael Buselmeier lesen, der einst an der Seite von Jürgen Theobaldy die subjektive Erlebnislyrik, respektive Alltagslyrik profiliert hat. Im neuen Heft, der Nummer 118 der europäischen Kulturzeitung „Lettre International“ hat Buselmeier einen bewegenden Bericht über den Tod eines Freundes publiziert, der sich einst als linker Germanist an der Universität Heidelberg hervortat und später als eigensinniger Ethnologe die Hexenkulte und islamistischen Phänomene in Afrika analysierte. Der Protagonist Anselm erscheint als Außenseiter der etablierten Wissenschaften, der als Ethnologe weite Teile des „finsteren Kontinents Afrika“ bereiste, dort die Raubzüge der Clans und Warlords beobachtete und im Verlauf seiner Forschungen immer häufiger vor den bedrohlichen politischen Entwicklungen warnte. Einige Jahre lang faszinierte ihn ein mythisches Dorf in Nigeria, wo er sich als bekennender Aktivist einer Pfingstkirche zugehörig fühlte. Aus dem linksradikalen Bürgerschreck Anselm wurde schließlich ein fatalistischer Kritiker Schwarzafrikas, bis ihn schließlich eine Krebserkrankung in einen Verzweifelten verwandelte. Zwei Tage vor Ostern entschloss er sich 2015 zum finalen Akt, ließ sich von einer nahen Freundin zu einer furchterregend hohen Brücke beim südbadischen Titisee-Neustadt fahren und stürzte sich dort zu Tode. Das traurige Ende seines Freundes, der ihn einst auf einer Afrika-Reise begleitet hatte, erzählt Buselmeier als finstere Parabel über den Freitod eines Einsamen, orchestriert mit verstörenden Bildern der Selbsttötung. Das neue „Lettre“-Heft enthält neben dieser Todeserzählung ein fesselndes Dossier über die Russische Revolution des Jahres 1917. Der französische Schriftsteller Phillipe Videlier rekonstruiert zum Beispiel das Scheitern eines genialen Militärführers der Roten Armee, des Marschalls Wassili Blücher, der den gleichen Namen trug wie der erfolgreiche preußische Generalfeldmarschall, der einst in der Schlacht in Waterloo Napoleon den entscheidenden Schlag zufügte. Als die Armee Stalins 1941 nach dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion in große Not geriet, glaubten viele Experten, dass Stalin nun den genialen Militärführer Blücher an die Front beordern würde, um dem Krieg die entscheidende Wende zu geben. Zu diesem Zeitpunkt war Blücher allerdings schon drei Jahre tot. Denn nach vielen Jahren leidenschaftlichen Kampfes im Dienste des kommunistischen Regimes hatte die sowjetische Geheimpolizei das hoch dekorierte Militärgenie Blücher 1938 als angeblichen Verräter verhaftet und nach entsetzlichen Foltertorturen ermordet. Ohne seine militärischen Erfolge hätten die Bolschewiki ihr Regime niemals etablieren können. Aber Marschall Wassili Blücher teilte das Schicksal so vieler Führer der Roten Armee. Auf dem Höhepunkt ihrer Popularität wurde ein Großteil der sowjetischen Generalität zum Opfer der sogenannten Säuberungen.
Ein weiterer „Lettre“-Beitrag handelt von dem monumentalen Großwerk des heute fast schon vergessenen Literaturnobelpreisträgers Alexander Solschenizyn, seiner chronikhaften Darstellung der Russischen Revolution in acht Bänden mit über sechstausend Seiten, mit dem Titel „Das Rote Rad“. Bei der jahrzehntelangen Arbeit an diesem Werk überforderte die Materialfülle schließlich die Kräfte des Schriftstellers. Das verwundert nicht, denn Solschenizyn versuchte in mühseliger Kleinarbeit, aus unzähligen Presseberichten, Briefen und Lebenserinnerungen der Beteiligten die Ereignisse des Jahres 1917 als großes Gesellschaftspanorama zu erzählen. Und er durchlief dabei einen Lernprozess, der in tiefen Pessimismus mündete. Die mörderische Natur der Revolution entnimmt er dabei schon den Proklamationen des „Jungen Rußlands“ von 1862: „Es gibt nur einen Ausweg:…eine blutige und unerbittliche Revolution…Wir werden nicht davor zurückschrecken, dreimal mehr Blut zu vergießen, als es die Jakobiner getan haben….Greift zu den Äxten!“
Die einst von Ossip Mandelstam aufgerufene „Wissenschaft des Abschieds“ durchwirkt auch einige Beiträge im aktuellen September/Oktoberheft der Literaturzeitschrift „Sinn und Form“. Hier ist zum Beispiel eine filigran gebaute Erzählung von Ralph Schock zu lesen, dem langjährigen Leiter der Literaturredaktion des SR. Die Erzählung über „Monsieur Schneider“ basiert auf genauer Recherche und einer geduldigen Auswertung von Zeugenberichten, die sich in vielen Details widersprechen. Es geht um einen mysteriösen Mann aus dem Ruhrgebiet, der in einem Dorf im Südwesten Frankreichs ein kleines Hotel betreibt und nach allerlei Fehlschlägen das Hotel in Brand setzt und dabei ums Leben kommt. Die Dorfbewohner stricken an ihren eigenen Legenden über Monsieur Schneider – die Lösung des Rätsels bleibt dem Leser überlassen.
Im Zentrum des „Sinn und Form“-Heftes steht der erstmals veröffentlichte Briefwechsel zwischen dem Kritiker-Genie Alfred Kerr und dem österreichischen Dramatiker und Meistererzähler Arthur Schnitzler. Der Theaterkritiker Kerr, Abkömmling einer jüdischen Weinhändlerfamilie, wollte zeitlebens die Kritik als eine eigene Dichtungsart etablieren und begann seine erfolgreiche Karriere ab 1895 mit seinen „Berliner Briefen“, in denen er über das Kulturleben der Hauptstadt räsonierte. 1896 begann sein intensiver Austausch mit dem in Wien lebenden Schnitzler, dessen frühe Stücke er freundlich und oft enthusiastisch kommentierte. Ab 1900 begann aber der Enthusiasmus des Kritikers zu erlahmen, der sehr selbstkritische Schnitzler reagierte auf das wachsende Missbehagen Kerrs durchaus respektvoll. Die Korrespondenz drohte aber zu kollabieren, als sich Schnitzler im Januar 1905 erlaubte, seinen Ärger über eine Kritik Kerrs anzudeuten. Der leicht kränkbare Kerr verstummte daraufhin über ein Jahrzehnt lang und ließ auch spätere Versuche Schnitzlers, die alte Freundschaft wiederaufleben zu lassen, kühl abtropfen. Der Kritiker als überempfindliche Mimose und der Dichter als unendlich geduldiger Knecht, der die Züchtigung des Kritikers über sich ergehen lässt – auch das sind Konstellationen, die der aktuelle Literaturbetrieb kennt. Wie man sich eine forcierte Außenseiter-Position im meist konfliktscheuen Literaturbetrieb erhalten kann, lässt sich auch am Beispiel der eigensinnigen Dichterin und Poesie-Performerin Mara Genschel zeigen, die immer sehr unorthodoxe Darbietungsformen für ihre Texte wählt. Ihr jüngstes Projekt mit dem Titel „Cute Gedanken“, das heiter-schräge Protokoll eines Stipendienaufenthalts im amerikanischen Iowa, ist gewissermaßen aus der Zusammenarbeit eines registrierenden Tagebuch-Ichs und der Korrekturfunktion eines amerikanischen Mobiltelefons entstanden. Genschels Autorinnen-Ich notierte Überlegungen zu ihrem Aufenthalt in ihr amerikanisches Handy – und das Gerät verwandelte dank der rustikalen Korrekturfunktion die Aufzeichnungen in ein bizarres Brockenamerikanisch bzw Brockendeutsch. Der Eintrag „Ich bin einer von euch“ mutiert dann zu „Ich bin diner / von such“. Bei einer Lyriknacht in Stuttgart vermochte es Genschel, durch eine bizarre Live-Übersetzung des eigenwilligen Brockenamerikanisch die Zuhörer auf die Palme zu bringen. Der schlimmste Feind dieser Autorin ist eine biedere Literaturfrömmigkeit, der man erhabene Botschaften ablauschen will. Was für Genschel „Erhabenheit“ bedeutet, erklärt in der sehr erfrischenden Nummer 17 der Literaturzeitschrift „Mütze“ der Dichter Christian Steinbacher. In seiner Laudatio auf Genschel dechiffriert Steinbacher einige Verfahrensweisen der auf ästhetische Renitenz abonnierten Autorin. Ein Genschel-Text mit dem Titel „ERHABENES“, findet sich zum Beispiel in ihrem in mehreren Lieferungen erschienenen Lyrikheft „Referenzflächen“, das Genschel in geringer Auflage im Self-Publishing-Modus anbietet - und das zur Zeit nur als Leihgabe zu haben ist. Die Gedichte werden hier alle einem Verfahren der Überschreibung, Durchstreichung oder Überklebung unterzogen. Beim Text „ERHABENES“ werden zum Beispiel auf zwei gegenüberliegenden weißen Seiten zwei Tesafilm—Streifen platziert, jeder Streifen in sich so zusammengeschoben, dass eine Faltung entsteht. Im Durchstreichen und Überkleben poetischer Notate manifestiere sich eben – so der Genschel-Exeget Steinbacher - eine große „Freude an Schieflagen“. Solche postavantgardistischen Einübungen in die Herstellung ästhetischer Abweichungen und „Schieflagen“ gehört zum Erkenntnisvergnügen des „Mütze“-Herausgebers Urs Engeler. Im aktuellen Heft 18 der „Mütze“ präsentiert er ein fantastisches Interview mit dem amerikanischen Lyriker Robert Kelly, der in unglaublich geschliffenen Sentenzen das Erkenntnisglück beim Herstellen von Gedichten beschreibt. In Heft 17 sind auch grandiose minimalistische Maximen von Kelly zu lesen, die durch Lakonie überzeugen. Etwa die Maxime Nr. 198: „Schönheit ist eine Frage, die keine Antwort braucht.“ Oder die superkurze Poetik der Nr. 199: „Ein Gedicht ist ein kleines Ding, das viel Zeit braucht.“ Diese Zeit werden wir uns mit Hilfe von Zeitschriften weiter gönnen.
Sprache im technischen Zeitalter, H. 223 (Sept. 2017)
Am Sandwerder 5, 14109 Berlin. 130 Seiten, 14 Euro
Lettre International, Heft 118 (2017)
Erkelenzdamm 59/61, 10999 Berlin, 146 Seiten, 13,90 Euro
Sinn und Form, H. 5/2017
Postfach 210250, 10502 Berlin, 140 Seiten, 11 Euro
Mütze, H. 17 und H. 18
Urs Engeler, Turnhallenstr. 166, CH-4325 Schupfart, je 52 Seiten, je 6 Euro.
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Michael Braun
Bericht
Archiv
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