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Eine kleine Ausgabe von Lourdes
Zwischen Idylle und Schock: Das 16. Internationale Literaturfestival in Leukerbad

Von Michael Braun
   16. Literaturfestival in Leukerbad

      


„Die einzige wirkliche Attraktion des Dorfes sind die heißen Quellen.“ Der ameri­kanische Schrift­steller James Baldwin hat sich im Februar 1951 zwar geirrt, als er das Walliser Bergdorf Leuker­bad als gottverlassenen Bäderort beschrieb. Aber mit seiner Beobachtung, dass es sich um „eine kleine Ausgabe von Lourdes“ handle, sollte er dann doch auf unerwartete Weise Recht behalten.

Denn die Zeiten haben sich geändert, seit im Februar 1951 mit Baldwin zum ersten Mal ein schwarzer Mann den Leukerbader Dorfplatz betrat. Es muss damals ein fassungs­loses Staunen gewesen sein, als die Dorf­bewohner den jungen Afroamerikaner vor sich stehen sahen. In seinem Essay „Stranger in the village“ hat Baldwin später diesen Kultur­schock beschrieben. Sechzig Jahre danach hat sich Leukerbad nicht nur als beliebter Bäder- und Wellness-Ort längst etabliert, sondern in noch höherem Maße als helvetisches Lourdes für fromme Literatur-Pilger. Seit der Buchhändler und Verleger Ricco Bilger 1996 das internationale Literaturfestival aus der Taufe hob, das seit einigen Jahren von Hans Ruprecht geleitet wird, ist Leukerbad zur belieb­testen Begeg­nungs­stätte mit der Welt­literatur der Gegenwart geworden. Als unverzicht­barer Initiationsritus für die Literaturpilger wurde auch diesmal wieder der Spaziergang durch die Dalaschlucht zelebriert, der unter einem tosenden Wasserfall hindurchführt und die Wanderer auf eine schwindel­erregend steile Metall­treppe leitet, die man durchaus als die profanierte Form einer Himmels­leiter empfinden kann. Erstmals wurde auch eine Hommage an James Baldwin ins Programm aufgenommen, der während seines Leukerbader Aufenthalts seinen Debüt­roman „Go Tell it on the Mountain“ schrieb, der ihn um­gehend welt­berühmt machte.

Unter den 21 Autoren aus zehn Nationen, die zur 16. Ausgabe des Festivals angereist waren, befanden sich mit Melinda Nadj Abonji und Clemens J. Setz nicht nur die aktuellen Träger der höchst­dotierten deutschen Buch­preise, sondern eben auch Romanciers, Essayis­ten und Lyriker, die im deutschen Sprach­raum bislang kaum präsent waren und hier mit intensiven Auftritten beein­druckten. Die junge weißrussische Dichterin Valzhyna Mort etwa, die in einer Mixtur aus weichen und rauen Tönen das Elend ihrer autoritär geprägten Gesell­schaft besang und sich dabei als „Arbeits­invalide in der Tränen­fabrik“ porträ­tierte. Oder der Ungar István Kemény, der mit surrealistischer Leichtig­keit die Paradoxien seines Zeitalters evoziert und dabei aus einer „kleinen schwarzen Kritzelei“ einen ganzen Schöp­fungs­kosmos zu erbauen vermag. Die fulminanten Höhepunkte des Festivals markierten diesmal die Gespräche, die der Zürcher Essayist und Übersetzer Stefan Zweifel mit den Sprach­erotikern Christian Uetz und Clemens J. Setz führte. Mit einer an Festi­vals nie erlebten Genauigkeit versenkte sich Zweifel in das Werk der beiden Autoren, berührte die wunden Punkte ihrer Poetiken und gelangte so in den Kern ihres Werks. Der Sprach­eksta­tiker Christian Uetz hatte zunächst in einer katarakt­haften Suada den Liebes­wahn seines Roman­prota­gonisten durch­buch­sta­biert – und fiel dabei in jene „gebetshaften Zustände“ der Sprach­exaltation, in denen seine Figuren ihre inneren Zerreiß­proben zwischen Begehren und Schmerz artikulieren. Stefan Zweifel verwies ungerührt auf das Egomanische des Uetzschen Sprach­rausches, dessen Ich-Erzähler in seiner Hingabe an den voka­bulären „Lustkörper“ das angebetete „Du“ nie zu er­reichen vermag. Und auch im Gespräch mit Clemens J. Setz analy­sierte Zweifel den „heiligen Eros“ als Grundlage jener Ästhetik der Grau­samkeit, die Setz in den Erzählungen seines preis­gekrönten Bandes „Die Liebe zu Zeiten des Mahlstädter Kindes“ unter Zuhilfe­nahme diverser Schock­strate­gien in den Mittel­punkt rückt.

Als ein Glanzpunkt des Festivals darf auch der Über­setzungs-Workshop gelten, in dem sechs Übersetzer die Ergebnisse ihrer Beschäf­tigung mit Melinda Nadi Abonjis preis­gekröntem Roman „Tauben fliegen auf“ präsen­tierten. Bereits die Diskussion über den so anmutig wirkenden, letztlich aber doppel­bödigen Romantitel „Tauben fliegen auf“ demon­strierte die Schwie­rig­keiten, in die ein avan­cierter Über­setzer gerät, wenn er den stilis­tischen Eigensinn des Originals in die Ziel­sprache hinüber­retten will. „Man muss das Original ver­raten“, so formu­lierte es ein Übersetzer, „um es zu retten.“ Beim Leukerbader Rendez­vous mit der Weltliteratur muss man eben so manche Paradoxie aushalten.
Michael Braun    12.07.2011   

 

 
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