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Juni 2015
Die Literatur der Moderne hatte seit ihren Anfängen im späten 19. Jahrhundert eine Neigung zur Ästhetisierung der Gewalt. Als spiritus rector der ästhetischen Gewaltphantasie gilt dabei der italienische Futurist Filippo Tommaso Marinetti, der in einem berühmten Manifest aus dem Jahr 1909 den Krieg als „die einzige Hygiene der Welt“ feierte. Ein weiterer Exponent der Avantgarde, der Surrealist André Breton, erklärte recht großmäulig, die „einfachste surrealistische Handlung“ bestehe darin, „mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings soviel wie möglich in die Menge zu schießen“. Der Typus des Amokläufers wurde also zum perfekten Surrealisten erklärt. Eine durchaus verstörende Erkenntnis, wobei bis heute nicht klar ist, ob sich diese Apologie des Amokschützen dem Geltungsbedürfnis des Avantgardisten Breton oder irgendeinem ästhetischen Raffinement verdankt. Sicher ist nur: Das Kokettieren mit der Gewalt pflanzte sich bis in die gegenwärtige Ästhetik fort.
In einem faszinierenden Aufsatz im aktuellen Hugo-Ball-Almanach untersucht nun die Kunstwissenschaftlerin Barbara Kuon die „tiefe Komplizenschaft“ im Verhältnis der modernen Kunst zu Gewalt und Zerstörung und kommt dabei zu hochinteressanten Ergebnissen. „Der destruktive Charakter“, so glaubte einst Walter Benjamin, „ kennt nur eine Parole: Platz schaffen; nur eine Tätigkeit: räumen. Sein Bedürfnis nach frischer Luft und freiem Raum ist stärker als jeder Hass.“ Dieser „destruktive Charakter“, so Benjamin weiter, „ist jung und heiter. Denn Zerstören verjüngt.“ Man muss sich diese Pointe noch einmal genauer anschauen, um Missverständnisse zu vermeiden. Also: „Zerstören verjüngt.“ Was heißt das für die moderne Kunst und Literatur?
Barbara Kuon entfaltet dazu eine verblüffende Kulturtheorie des modernen Subjekts. Über unseren Körper und seine Extensionen – also über die Medien, die wir benutzen – sind wir mit der Welt, der Natur und dem Internet verbunden. Und je größer diese medialen Extensionen sind – so die These Kuons – desto größer wird auch der Bereich des Unbewussten, des nicht Erfassten, Unkontrollierten, Bedrohlichen. Je weiter die technische Entwicklung voranschreitet, desto mehr verlieren wir uns selbst und desto stärker sind wir und unsere Körper mit Medien, Maschinen und Apparaten verbunden. So ist die Ästhetik der Zerstörung, mit der sich die Avantgarde exponiert, nur als Rettungsmaßnahme zu verstehen. Der Künstler, so resümiert Kuon, kommt der Zerstörung des Ich durch äußere, gesellschaftliche, technisch-mediale Kräfte zuvor. Er macht die Zerstörung, die ohnehin stattfindet, zu seinem eigenen Werk – und macht sich dadurch unangreifbar.
Hier beruft sich Kuon auf einen erstaunlichen Satz des aus Pirmasens stammenden und 1927 im Tessin gestorbenen Dichters und Mystikers Hugo Ball. „Es gilt, unangreifbare Sätze zu schreiben ... je besser der Satz, desto höher der Rang.“ Und auch Kuon glaubt an die Selbstrettung und an das Unanfechtbare des vorsätzlich auf Destruktion gerichteten Künstlers. Das ist nun eine sehr versöhnliche Pointe, und zugleich eine sehr anfechtbare These. Denn wenn „Zerstören verjüngt“ und wenn der „destruktive Charakter“ alles abräumen kann, um Platz zu schaffen – wie soll sich da etwas Unanfechtbares etablieren können?
Überhaupt herrscht im Hugo-Ball-Almanach, der von der Stadt Pirmasens gemeinsam mit der Hugo-Ball-Gesellschaft herausgegeben wird, an anfechtbaren Beiträgen kein Mangel. Hinweisen möchte ich auch noch auf zwei Aufsätze, die sich mit der extremen Widersprüchlichkeit Hugo Balls beschäftigen. Ball zelebrierte ja zunächst mit kulturrevolutionärem Eifer den Dadaismus, floh dann aber blitzschnell ins Tessin, um sich dort neu zu erfinden, als frommer Katholik, byzantinischer Mönch und Asket. Der niederländische Theologe Frank Bosman begibt sich auf die Suche nach der „fehlenden Verbindung zwischen Dada und Catholica“ und sieht den Dadaismus bei Hugo Ball in einer expliziten „Lauttheologie“ fundiert. Die Theologie des mystischen oder heiligen Lauts, die Ball in seinem Byzanz-Buch entwickle, sei zugleich eine Transformation seiner dadayistischen Verskunst. Der Radiokünstler Reto Friedmann versucht im „Almanach“ den berühmten Auftritt Hugo Balls am 23. Juni 1916 im Zürcher „Cabaret Voltaire“ gewissermaßen als spiritualitätsgeschichtliches Urereignis zu lesen, das mehr mit dem Pfingstwunder und dem ekstatischen Zungenreden, also der sogenannten Glossolalie zu tun hat als mit avantgardistischer Literatur. Hugo Ball, soviel ist sicher, bleibt bis auf weiteres ein sonderbarer, vielfarbig funkelnder Heiliger der modernen Literatur – und er bleibt die Schlüsselfigur für den Diskurs über Poesie und Religion.
An das spannungsreiche Verhältnis zwischen Literatur und Religion tastet sich auch das neue, lesenswerte Heft, die Nummer 28/29 der Zeitschrift „Kritische Ausgabe“ heran, das Periodikum für Germanistik und Literatur, das immer wieder mit Gewinn die Grenzen des eigenen Fachs überschreitet. „Wie soll oder wie kann man es wagen, in der heutigen Zeit ohne Furcht und Zittern in der Einzahl von der Religion zu sprechen?“ Das ist hier die Ausgangsfrage für ein halbes Dutzend instruktiver Essays, die sich mit so unterschiedlichen Dichtern wie Daniel Kehlmann, Peter Stamm oder dem dezidiert antimodernen, von den Nazis hofierten Autor Erwin Guido Kolbenheyer beschäftigen. Sascha Monhoff widmet sich in der „Kritischen Ausgabe“ dem Werk des Dichters Christian Lehnert, der in streng gebauten Versen, die an die Tradition des geistlichen Lieds anknüpfen, nach dem Arkanum des Göttlichen fragt. Seine Gedichte kann man durchweg als religiöse Meditationen lesen, die verankert sind in einer Art Schöpfungs-Gewissheit, also in einer Evidenz christlicher Heilserfahrung.
Von Heilsgewissheiten jedweder Art hat sich unser nervöser Literaturbetrieb seit dem Eintritt in die digitale Ära von Facebook und Twitter endgültig verabschiedet. Denn auf Facebook werden immer häufiger Entrüstungen in Umlauf gebracht – bei gleichzeitigem Schwund von Argumenten. Im aktuellen Juni-Heft der immer noch scharfsinnigsten Kulturzeitschrift unserer Tage, dem „Merkur“, liefert Ekkehard Knörer einen klugen Bericht über die jüngsten kritischen Aufblähungen im literarischen Betrieb. Vor einiger Zeit beklagte der Verleger des aufsässig gestimmten Verbrecher Verlags, Jörg Sundermeier, markante Verfallserscheinungen in der gegenwärtigen Literaturkritik. Die Klage über den defizitären Zustand der Literaturkritik ist freilich uralt, gewissermaßen ein Evergreen der Literaturdebatte.
Schon vor einem Vierteljahrhundert hat Hans Magnus Enzensberger dazu den unsterblichen Satz formuliert: „Der literarische Journalist lebt von der Substanz, die der Kritiker ihm hinterlassen hat; wenn sie aufgezehrt ist, bleibt nur noch Gequassel übrig.“ „Manche festangestellten Literaturkritiker“, so spottet nun Jörg Sundermeier, „können viel viel mehr über edle Schuhe oder gutes Essen sagen als über die Qualität literarischer Texte.“ Das mag auf die Premium-Klasse der Literaturkritiker durchaus zutreffen, und einige aus dieser Zunft werden auch in Knörers Bericht genannt. Als auffälligste Erscheinung und „größten Allrounder“ in der Kritiker-Zunft klassifiziert er Hubert Winkels, der als Deutschlandfunk-Redakteur, Gastprofessor, Wortführer in diversen Literatur-Jurys und Moderator omnipräsent ist. Auf einem Symposion hat Winkels kürzlich die Veränderungen innerhalb seines Berufsstands eingehend analysiert. Es ist offenbar vor allem der Zeitmangel, der die Beschleunigung der Literaturkritik generiert. Knörer schreibt dazu: „Zum Lesen und Denken und Schreiben kommt man dabei, wie er offen bekannte, eher nur zwischendurch.“
Die nach wie vor größte Stärke des „Merkur“ ist seine Fähigkeit, die neuesten Erhitzungen des intellektuellen Diskurses kritisch zu sezieren. Im aktuellen Juni-Heft hat sich der Literaturwissenschaftler Claude Haas die Debatte über die Drohne vorgenommen, jene unheimliche Waffe, die es ermöglicht, dass ihr Lenker über weite Entfernungen hinweg per Mausklick und Satellit Menschen töten kann, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Nicht nur innerhalb des linken Milieus ist der Einsatz von Drohnen durch die Regierung Obama zum Kernpunkt scharfer Amerika-Kritik geworden. Claude Haas weist nun auf das schwarze Loch der Drohnen-Kritiker, die nicht wahrhaben wollen, dass sie mit der Klage über die Drohne als einer „Waffe des Feiglings“ einem uralten romantischen Kriegsverständnis das Wort reden. Ausgerechnet die linke Kritik an der Drohne rehabilitiert, so Haas, eine Ethik des Krieges, die nur im Duell auf Augenhöhe, im offenen Zweikampf eine rechtliche Grundlage für kriegerische Handlungen sieht. Damit knüpfen die Drohnen-Kritiker unfreiwillig an Überlegungen des Rechtsphilosophen Carl Schmitt an, dessen Theorie darauf abzielte, den Status des „Feindes“ als gleichwertigem Gegenüber zu erhalten und ihn nicht zum minderwertigen, kriminellen Subjekt zu dämonisieren.
Zum Schluss gilt es noch, auf ein Zeitschriftenprojekt hinzuweisen, das die Sprachgrenzen bewusst überschreitet. Die Zeitschrift „Limen“ ist, wie der Untertitel annonciert, eine „mehrsprachige Zeitschrift für europäische Dichtung“ und wird von Literaturwissenschaftlern an der Universität Osnabrück herausgegeben, die sich zum Verein „Limen e.V.“ zusammengeschlossen haben. In der aktuellen Nummer 2 von „Limen“ werden insgesamt 12 Dichterinnen und Dichter aus Argentinien, Mexiko, Deutschland, Spanien, Kanada und den USA vorgestellt, mit ausgewählten Gedichten in Original und Übersetzung, nebst einem hilfreichen Autorenporträt. Hier kann man einige aufregende Entdeckungen machen, etwa die nervös flackernden Großstadtpoeme der jungen Mexikanerin Claudina Domingo, die ihren Bewusstseinsstrom in der Mega-Metropole Mexico City aufzeichnet. Oder auch die zwischen der digitalen Welt und den klassischen Topoi der Dichtung unruhig changierende Amerikanerin Amanda Davidson. Unter den deutschen Autoren fällt vor allem das ehrgeizige Projekt der 1979 geborenen Dichterin und Essayistin Kenah Cusanit auf, die hier Auszüge aus ihrem Gedichtzyklus „Chronographe Chorologien“ präsentiert. Der „Chronograph“, die Messinstanz von Zeit, wörtlich der „Zeitschreiber“, trifft auf die „Chorologie“, die Lehre vom Raum, abgeleitet vom griechischen „chora“, „Raum“. Bestimmte Zeitpunkte in der Menschheitsgeschichte werden markiert und in die poetische Chronographie der Dichterin eingetragen. Als Bezugsfigur nennt die Autorin Bob Dylan, der einmal davon gesprochen hat, das Gestern, das Heute und das Morgen im selben Raum zu versammeln. Und die Chronographierung des Jahres 1521 klingt dann so:
finde Worte für eine Situation auf dem Meer. finde Worte,
schlag im Norden nach. im Himmel. auf der anderen Seite
deiner Augen. Acrux, Becrux, Gacrux, Decrux. schlag nach
im Treibgut der See, im Vogelbestand des Dreimasters. finde
Worte. nach Amerika. etwas in den Sternen, außer
beleuchtetes Stillstehn. der Crux des Südens, heiligstem Zurechtfinden
in chorologischem Raum. wer kam auf die Idee, Schiffe zu
bauen, innerlich starr, außen zu bewegen, ein unbewegtes Schiff
_
und darüber weiß die Sonne, ist ein Grab. ist ein Wort.
Hugo-Ball-Almanach, Neue Folge 6 (2015)
Edition Text+Kritik, Levelingstr. 6a, 81673 München. 208 Seiten, 18 Euro.
Kritische Ausgabe, Nr. 28/29
c/o Institut für Germanistik, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Am Hof 1 d. 53113 Bonn. 134 Seiten, 6 Euro.
Merkur 6 (2015)
Klett-Cotta Verlag. Redaktion: Mommsenstr. 127, 10629 Berlin, 108 Seiten, 12 Euro.
Limen, Heft 2 (2014).
Hrsg. von Kristin Bischof, Massimo Pizzingrilli u.a.
Wehrhahn Verlag, Am Mittelfelde 1, 30519 Hannover. 160 Seiten, 14,80 Euro.
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Michael Braun
Bericht
Archiv
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