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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte

Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Folge 88

Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.

88

Am Anfang war das Gedicht

Werbeplakat: Der Widerspruch (Fischer Verlag)

Die vorige Folge endete mit dem weisen Ratschlag an unsere kriegstüchtigen Politiker, diese freiwilligen Hindukuscher, ein abkühlendes Bad in der radium­haltigen Pleiße zu nehmen, und die Folge davor endete mit der Frage, ob unser Engagement für einen 3. Weg nutzlos und vergeblich gewesen sei. Derlei ließe sich relativ einfach beantworten mit der Auskunft: Bleibt die endbedrohte Tierart Mensch auf dem eingeschlagenen Holzweg, ist der Harmageddon sicher wie das Amen in der Kirche. Allerdings regte sich vor kurzem sogar im Vatikan die Liebe zum Überleben. Wer mit der jüngsten päpstlichen Sozia­lenzyklika nicht zufrieden sein sollte, muss doch an­erkennen, dass hier ein ehe­maliger Hitler­junge sich bemüht, über seinen Schatten zu springen. Wir geben uns jedoch mit so simplen Ant­worten nicht zufrieden, denn der Mensch besitzt auch einen Kopf.
Als Lenin gestorben war, herrschte Winter in Moskau. Stalin hielt den weitab befindlichen Trotzki von der Trauerfeier fern. Im Kampf um Lenins Nachfolge unterlag Trotzki auch aus eigener Schwäche. An der Spitze von Staat und Partei dürfe kein Jude stehen, weil der im Lande wie weltweit herrschende Antisemitismus das nicht zulasse. So sein Bescheid an Genossen, die nach ihm riefen.
Die im Westen erstarkende Konterrevolution hätte statt Stalin als Widerpart Lenin und Trotzki benötigt, damit der kommende Weltkrieg gewonnen, die Weltrevolution nicht verloren werde. T 34 und Stalinorgel reichten, den 1941 eindringenden deutschen Feind zu schlagen, der mit Panther, Leopard, Tiger und Königstiger zum Ural durchzubrechen versuchte, aber zwischen Führerbunker und Berliner Reichstag endete. Inzwischen tritt eine neue Soldatengeneration mit gepanzerten Dingos, Mungos und Füchsen an, lauter Versuche aus dem Kleintierzoo der Kriegsphantasiewelt, was hilft es, als am Hindukusch die Luft eisenhaltig wurde, stürzte ein Füchslein in den nächsten Wassergraben. Drei ertrunkene Bundeswehr-Kameraden erwarben Namens­anwartschaften auf das im Bau befindliche Kriegerdenkmal. Die Bundeswehr aber will's für drei Milliarden Euro eine Nummer größer haben und geht von Marder und Fuchs zum löwenhaften Puma-Schützenpanzer über. Der große Zoo also. Bald gibt's wieder Tiger, Panther und Königstiger. Die Ostfront ruft? Über den baltischen Ländern sichern bereits deutsche Tornados den Luftraum gegen die Russen. Wieviel Siege werden wir erst einheimsen, wenn wir Georgien und die Ukraine verteidigen dürfen.
Kommunisten wurden unter Hitler verfolgt und unter Adenauer verboten. In der DDR wurden sie als unter Hitler Verfolgte und unter Adenauer Verbotene solange geehrt oder zumindest gern gesehen, wie sie nicht abwichen. Verblieb allein der Trotzkist, der auf allen Seiten sorgsam das Schweigen üben musste. Es sei denn, er riskierte aktiven Entrismus als Verhaltens­weise des bei den anderen Eingetretenen, wo nicht Eingedrungenen, der untergründig Einfluss zu nehmen sucht und verschiedene Sklavensprachen nutzt, um zu wirken ohne sich zu verraten und ans Messer zu liefern. Entree? fragen Franzosen – Darf ich eintreten? Bei den Russen heißt es: moschnea? Der Trotzkist fragt nicht. Er tut es. Als ungebetener heimlicher Teilnehmer tanzt er auf des Messers Schneide. Immer auf der Hut vor Hitlers Fallbeil, Stalins Eispickel und westlichen Dummheiten. Der Trotzkist fühlt sich unter Kommunisten und Sozis wie der Christ unter Kirchenfrommen.
Als ich, der DDR entkommen, ohne Geld ratlos im Westen hockte und die Anwerbungs­versuche fremder Dienste abwehrte als wären Ost und West nicht nur graduell von Geheimen und Geheimnissen durchsetzt, verfiel ich auf die Idee, mein eigener Späher und Spion zu sein. Warum für fremde Dienste arbeiten. Entree? fragte ich bei mir an und antwortete: Entree! So wurde ich zum autarken Ein­personen­kundschafter mit der eigenen werten Haut als Grenze, über die ich in allerhand Gestalten und Pseudonymen hin- und hersprang.
Da ich schon in der Weltbühne als Autor mit Pseudonym auftrat, teilte ich mich im goldenen Westen gleich in Dreierlei: Poet, Satiriker, Philosoph:
So klang der Poet:
Trotzige Bitte an Anagara

ich bitte dich um nachsicht
brenn mit heißen eisen
in meinen rücken dein zeichen
schlag um meine hand deinen schatten
meine augen will ich sterben lassen
ein haus dir bauen
unter hohlen lidern

lass auch wenn die große langeweile kommt -
und sie kommt -
nicht los meine hand
schick nicht fort meinen schritt
verbrenn meinen zorn
wie alte zeitungen


Der Satiriker liebte die etwas härtere Gangart:

Gesang zu Ehren des nicht vorhandenen Vaterlandes

fragt die erde dich
nach dem grünen proselytenpass lass gelbe sonnen singen
sag ach habt mich gerne lass
mit hellen silberstücken
pflastern alle sterne
sag mein pass ist ein weites fass
mit zehnmeterlangen spanten
zum ersäufen aller
wirte hehler generale
der minister und
verwandten

mein pass ist ein weites feld
mit durchgang in die unterwelt
für die krätze für die pest
und was sich nicht lieben lässt

mein pass ist ein schmales seil
ein seil auf dem ich lauf
das ist mein deutsches vaterland
da balancier ich drauf
Am Anfang war das Gedicht als Kurzform der Prosa. Wie die Prosa Lang­gedicht ist. Oder: Am Anfang war das Gesicht. Ein Teil, das kenntlich macht. Gedicht. Gesicht. Maske. Dekonstruktion: Maske ab. Die individuell-autarke Lebensweise auf kurze oder lange Form gebracht. Lebensweise = Lebens­erfahrung? Aber Erfahrung lässt sich nicht mitteilen. Nur die Information von Erfahrung. Weshalb keine Generation von den Erfahrungen der Vorfahren lernt. Informationen über die Erfahrungen von Vätern und Müttern bedürfen bei Nach­kommenden einer konsti­tutionellen Sensibi­lität. Abgesehen vom Glück, falls die vorige Generation nicht nur ein bloßes Wortgeklingel von Plapper­mäulern als Erbe hinterließ.
Am Anfang war das Gedicht. Ich hatte Verfolgung abzuwehren. Es galt aber, eine pazifizierende Theorie in der Praxis zu verbreiten. Als 1974 im S. Fischer Verlag in Frankfurt/Main mein Buch Der Widerspruch erschien, hieß es auf dem Werbeplakat:
„Leben heißt kämpfen. Kämpfen heißt schreiben. Schreiben heißt: im Widerspruch leben.“
Um die Kultur verstehen zu können, blicke ich auf unsere krisengeschüttelte Wirtschaft. Um unsere Wirtschaft verstehen zu können, blicke ich auf unsere krisengeschüttelte Kultur. Weil ich ein moderner Mensch bin, der den Vorwurf der Unwissenheit und Unwissenschaftlichkeit scheut, reflektiere ich das ganze Jahr hindurch brav vor mich hin und begreife, Krisen hat es immer gegeben und was wir heute gemeinsam haben, ist keine Krise, sondern eine allumfassende Pleite. Ohne Unterschied der Systeme, für den sich doch gestern noch so viele gegenseitig umbrachten, bringen wir auch jetzt noch einander um oder treffen die Vorbe­reitungen dazu. Es wird einen Welt­untergang geben, sagen wir sorgen­voll und sorgen weiter dafür, dass es geschehe. Unendlich viele literarische Untergangs­modelle schaffen wir, und mit Lust.
Von den Steuern, die wir zahlen, zweigt unser Staat die Gelder ab, die wir benötigen, den Untergang immer vollziehbarer zu machen. Von jedem Honorar geht ein Teil Steuern ab für Waffen. Die gesellschaftlich aufgeklärten Köpfe wissen: Erst kommt die Waffen­produktion, dann die Moral. Wenn ein paar unzufriedene Christen auf einem Kirchentag die Bergpredigt neu ent­decken, kommt gleich ein Verteidigungsminister und zeigt sich als der harte Marxist, der er sonst nicht ist. Mit der Bergpredigt, sagt er uns, lässt sich nicht regieren. Anti­marxisten und Marxisten eint die Verachtung der Moral. Vielleicht sollten wir es in der Literatur mal wieder mit dem ganz einfachen Menschen versuchen? Mit seiner Angst, seiner Hoffnung, seiner Liebe, seinem Hass? Seiner Dummheit, seiner Klugheit? Wie spricht man mit dem unbe­kannten Wesen? Wie schreibt man ihm und für ihn, dieses fremde Irgendwie-Irgendwo-X? Verdammt will ich sein, sprach der Teufel; ganz so als wär er's nicht.
Das Literaturblatt der Frankfurter Zeitung druckte am 31.3.1929 Ernst Blochs Verteidigung unseres sächsischen Volksschriftstellers Karl May gegen seine Verächter. Am 12.5. reagierte ein Autor mit Namen Wilhelm Fronemann im Königsberger Tageblatt und anderswo mit Angriffen auf May. Nach Hitlers Machtübernahme schwärzte Fronemann Karl May als extremen Marxisten und Pazifisten an. Kaum war der Krieg vorbei, trat der Nazi als Anti­faschist auf und versucht May bei der Sächsischen Landes­verwaltung als Vorläufer der SS zu diffamieren. Eine gewisse Verkennung hatte sich allerdings schon Bloch mit seinem May-Plädoyer geleistet, als er schrieb: „Karl May ist einer der besten deutschen Erzähler, und er wäre vielleicht der beste, wäre er kein armer, verwirrter Prolet gewesen.“ Das heißt nun den Anfang zwischen Pleiße und Mulde über das Ende an der Elbe stellen und den gebeutelten Kleinkriminellen über den Radebeuler Bestseller-Millionär. Karl May ist beides – ganz unten und ganz oben, wie Sachsen zugleich Arbeit und Kapital, Industrie und Königreich, Leipzig und Dresden gewesen ist, und dazwischen Erzgebirge und Vogtland, die Chemnitzer Fabriken, der Zwickauer Bergbau, die Autowerke und die westsächsische Textilproduktion. Bis anno 1990 die westliche Freiheitsglocke läutete und die sächsische wie die gesamte ostdeutsche Produktivität niedergemacht wurde, als hätte es dort überhaupt nur arme verwirrte Proleten und Poeten gegeben. Neueste Nachrichten besagen, die Elbe trockne zwischen den Hochwassern, die sie sich alle paar Jahre erlaubt, immer mehr aus, wie wir es auch über die Pleiße vernehmen. Vielleicht dürfen die Arbeits­losen bald im Ein-Euro-Job die Elbdampfer durchs sächsische Elbflorenz tragen. Wasser ist flüchtig wie das Kapital und eine Jugend, die das Land verlässt und auf der Suche nach Arbeitsplätzen sich in alle Welt zerstreut. Sind schon die Angelsachsen ausgereiste Sachsen? Über Sachsen heißt es, das Land habe vier Millionen Einwohner und 10 Millionen Auswohner, die in fremden Gegenden leben, wo sie ihres Geburts­landes Fleiß und Ruhm verbreiten. Es ist die Epoche der Konsequenzen gekommen. Orwell oder Bloch lautet die Alternative. Indem Hitler gegen Stalin antrat, brachte er Orwell und Nietzsche gegen Marx und Bloch in Stellung. Indem Bloch in den Westen gehen musste, verlor der Osten seinen Marx und Lenin samt Legitimation. Der Rest war Lethargie mit einem schandbaren Ende. In Deutschland führen die Regierenden stets Richtung Abgrund. Für jeden kommt der Zeitpunkt, an dem es gilt, entweder als Saulus andere zu verfolgen und zu bestrafen oder als Paulus dem urchristlichen Feindesverbot und Liebesgebot zu gehorchen. In der Sprache von Hegel und Marx heißt das, die Differenz zwischen Herr und Knecht abzuschaffen, und in der Sprache Blochs: „Kampf, nicht Krieg.“ Daraus folgt: Krieg ist kriminell. Die Produktion von Feindschaft, Waffen und Kriegern ist von Anbeginn verbrecherisch – tertium non datur – das eine oder das andere. Ein Drittes gibt es nicht. Dies ist die deutsche Lehre aus einem Jahrhundert Vergangenheit, und sie gilt unabhängig von Nation, Staat, Religion, Partei.
Dies schreibt ein Sachse, der statt am Fichtelberg des Erzgebirges am Feldberg des Taunus sitzt, wohin es ihn nach Berlin, Köln, Irland, München, Frankfurt und Offenbach verschlug – Wohnorte, über die er sich keineswegs beschwert.
In der Folge 83 Verweis auf Walter Kempowski. Inzwischen flaute die Aufregung über seine Kontakte zum US-Geheimdienst ab. Ingrid erinnert an eine Lesung am 3. Oktober 1989 in Oldenburg und unser gemeinsames Buch Reisen mit Lord Billy. Ich schlage nach und finde auf Seite 129 ihren Bericht über einen so seltsamen wie bezeichnenden Vorfall: Kempowski liest aus der Niederschrift von Gesprächen vor, die er mit verschiedenen Zeit-Zeugen über ihr Verhalten im Dritten Reich geführt hat. Was taten sie, als rings um sie her jüdische Familien verhaftet und abtransportiert wurden? Die meisten hielten Augen und Ohren verschlossen – plötzlich ruft eine weibliche Stimme: Aber das alles will ich überhaupt nicht mehr hören.
Kempowski bricht verblüfft mitten im Satz ab. Die Lautsprecher-Übertragung nach unten verrät nicht, ob es Reaktionen und Einwände aus dem übrigen Publikum gibt. Nach einer Pause hört man die anderen Autoren aus ihren Büchern vortragen. In der anschließenden Diskussion zwischen Besuchern und Schriftstellern, die unten im Museumsgarten stattfindet, kommt der merkwürdige Zwischenfall zur Sprache, richtig geklärt wird die Sache nicht.
Folgt tatsächlich ein märchenhaftes, bebil­dertes Gespräch, in dem Helmut Kohl sich als höchst be­lesen dar­stellt, Eugen Kogons KZ-Klassiker Der SS-Staat „ein Literatur­erleb­nis“ nennt, Heinrich Mann über Bruder Thomas einordnet und sich gar als Tucholsky-Fan offenbart, ein Autor, „den ich mir immer einpacke, wenn ich mal wegfahre.“
Da staune ich nur und versuche, diesen Kultur-Kohl zu enträtseln. Sollte der tat­sächlich mehr und klügere Bücher gelesen haben als Schmidt / Schröder / Merkel zusammen­genommen?
Am Anfang ist das Gedicht. Als ich es 1955 in der Weltbühne (DDR) mit dem Pazifismus so hielt wie unsere großen Vor­gänger in der Weimarer Weltbühne, griffen die Parteistaatsgötter ein und ich war draußen. Zu meinem freudigen Erstaunen tat sich stattdessen die Tür zum Sonntag, der Wochen­zeitung des Kultur­bundes auf. In der Zwischenzeit sammelte ich diverse Anschul­digungen, und in dieser Atmosphäre entstand
Es ist eine finstere Zeit

Es ist eine finstere Zeit
Da die Dichter schweigen aus Angst
Und die Kritiker reden auf Befehl
Und es ist eine Literatur
Der keiner glaubt.
Aber es werden Honorare gezahlt.

Es ist eine finstere Zeit
Da Unbekannte hocken
In möblierten Zimmern
Und mit heißen Manuskripten
Anfüllen die Schränke.
Aber es wird Makulatur gedruckt.

Es ist eine finstere Zeit
Da die Dichter nicht dichten
Und die Denker nicht denken
Denn es darf nicht gedichtet
Und nicht gedacht werden.
Aber es werden Preise verteilt.
Gerhard Zwerenz
Der Maulwurf
asahi-Verlag
Die mehr als ein Halb­jahrhundert alten Zeilen lesend empfinde ich sie als ganz und gar aktuell. Nichts ist zurück­zunehmen, auch nichts vom Pazifismus und Antimili­tarismus, die in bester sächsischer Tradition stehen. Aus Leipzig stammt auch die Erzählung Der Maulwurf, die in der DDR nicht mehr und im Westen 1964 zuerst in Bern/Schweiz er­schei­nen konnte, bevor dtv nachzog. Da hatte bereits der japanische asahi-Verlag für den Deutschunterricht zugegriffen. Inzwischen meldet hierzulande die VG Wort jährlich über 50 meiner Texte als Schulbuch-Abdrucke. Der Maulwurf ist nie dabei. Offenbar verstehen japanische Schüler besser, was Krieg ist. Unsere Jugendlichen streben lieber an die Fronten in aller Welt. Bei uns läuft die Geschichte rückwärts. Am Anfang steht immer ein Gedicht:
Friede 1990

Entlassene Volksarmisten werden
Zu Bundeswehrsoldaten resozialisiert.
Abgerüstete Panzer erhalten ihre
abgeschnittenen Kanonenrohre zurück.

Friedensforscher erläutern die
Kriegsnotwendigkeiten. Linke
Professoren wenden rechts. Rechte
bleiben, was sie sind. Glücklich.

Als Friedensdividende erhebt der
Staat die Kriegssteuer. Fest in
Der NATO verankert lernen wir bei
Orwell: Friede ist Krieg.

Habt ein wenig Geduld mit uns,
Freunde und Bündnispartner.
Sobald die Schamfrist vorbei ist,
werden wir losschlagen.
Ist dem Gedicht zu trauen? Steht ein Leben im Wort? Atmen die Sätze? Will hier wer Blut saufen? Die Schamfrist ist in der Tat vorbei. Als ich den Ossietzky-Preis bekam, dachte ich auch an Ossietzkys Kampfgenossen Tucholsky, der nach dem Krieg öfter Ausgang vom Grab im schwe­dischen Mariefred erhielt. Liegt der letzte Krieg lange genug zurück und der nächste Krieg steht nahe genug bevor, wird Tucholsky wieder streng in sein Grab eingesperrt. Am 15. November 1995 saß ich im Bonner Bundestag und erfuhr aus der Frankfurter Rundschau, die Sächsische Landes­regierung wolle Tucholsky abstrafen. Ins Juristische übersetzt: Der Freispruch des Bundes­verfassungs­gerichts für Tucholskys drei Warn­worte Soldaten sind Mörder sei für Biedenkopf & Co nicht hinnehmbar. Da möchten welche sowohl den Weimarer wie den Bonner Freispruch rückgängig machen? Der Sachse in mir rebellierte: Es führt kein Weg zurück.


Am Anfang ist immer ein Gedicht:
Gruß an unsere Soldaten in aller Welt

Gehalten, mich vor so vielerlei Kriegstoten
trauernd zu verneigen, spüre ich wie mein
dauergekrümmter Rücken schmerzt.
Eine vollkommen widernatürliche Stellung.

Woher soll da noch der aufrechte Gang kommen?
Und die Trauer für ermordete Freunde?
Und der Gedanke an die Gerechtigkeit?
Ach, immer nur Schmerzen im Kreuz.

Mich aufrichtend verweigere ich die Demut,
die elende Zeitungslektüre, die Wahl
zwischen Westfront und Ostfront und gestern und
vorgestern. Erstaunlicherweise

lässt sich so leben. Schmerzfrei fast.
Um mich herum sehe ich Helden,
dem Schmutz der Vergangenheit entkommen,
sich neu mit ihm bedeckend. Stolz.

Unsere tapfre, schuldlose Wehrmacht,
hör ich sie rufen. Ich sehe die
Reihen der Gehenkten. Und deutsche
Soldatengesichter. Lächelnd.
Fotografiert für die Lieben daheim.
Deutschland fiel vom Hölderlin
Zurück auf seinen Mölderlin
Die Pleiße in ihrem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf
Die Pleiße war wiedermal im Taunus auf Besuch, um den Nebelvorhang der Worte zu durchstoßen. So ein Industriefluss kann alles, sogar Märchen erzählen. An diesem Tag kam's gleich knüppel­dicke. Mit jahr­zehnte­langer Ver­spätung infolge Zensur hat die Pleiße meine Bücher gelesen. Sie sind voller Fluss­übergänge, stellte sie zufrieden fest und zitiert gleich: Die Tage sind heiß gewesen. Sie haben mich durstig gemacht. Durch den Fluss schwimme ich, die Hände griff­bereit, Fische fangen möchte ich, mit meinen Händen die Fische packen. Ein letzter Blitz zuckt durch die Nacht. Hart und grell beleuchtet er das andere Ufer. Weiß schielen mich die Gesichter der Menschen an. In die Dunkel­heit hinein fallen Schüsse. Ich spüre noch immer Durst. Ich tauche und trinke. Dank­barkeit für den Fluss erfüllt mich.
Die Pleiße blickt mich forschend an: Dank­barkeit für den Fluss? Ja, sag ich, du bist mein Mis­sis­sippi und ich bin dein Chronist. Die Fluss-Sätze fand ich in einem deiner Bücher, auf Seite 179, sagt die Pleiße, und 5 Seiten weiter steht, mein treuer Pleißen-Indianer, dein Testa­ment. Die Pleiße nimmt das Buch, begibt sich auf die Terrasse und verkündet den lau­schenden Fichten und Tannen mein Gedicht
Entwicklungen

Als ich sieben Jahre alt geworden war,
sprach einer im Radio zum deutschen Volk.
Das ist unser Führer, hörte ich sagen
und lernte, ich sei mit angesprochen.
In der Schule sagte ich jawohl. In der
Hitlerjugend sagte ich jawohl. Als
Soldat sagte ich zwei Jahre lang jawohl.
Bis ich nein sagte und meiner Wege ging.

Seither reagiere ich misstrauisch,
spricht jemand im Namen des deutschen
Volkes. Fürsorglich sage ich nein.
Besorgt, dass es ein Volk von Ja-Sagern werde.

In meinem Alter lerne ich erkennen,
das Volk sagt weder ja noch nein.
Seine Obrigkeiten sind es, die dem
Volk sagen, dass es ja zu sagen habe.

Dies ist mein Volk nicht.
Seine Intellektuellen sind meine nicht.
An ihren Irrtümern nehme ich nicht teil.
Ich sage nein und gehe den 3. Weg.

(aus Vergiss die Träume Deiner Jugend nicht, Hamburg 1989)

Das nächste Kapitel erscheint nach kurzer Sommerpause am Montag,
den 17.08.2009.

Gerhard Zwerenz   20.07.2009   
Gerhard Zwerenz
Serie
  1. Wie kommt die Pleiße nach Leipzig?
  2. Wird Sachsen bald chinesisch?
  3. Blick zurück und nach vorn
  4. Die große Sachsen-Koalition
  5. Von Milbradt zu Ernst Jünger
  6. Ein Rat von Wolfgang Neuss und aus Amerika
  7. Reise nach dem verlorenen Ich
  8. Mit Rasputin auf das Fest der Sinne
  9. Van der Lubbe und die Folgen
  10. Unser Schulfreund Karl May
  11. Hannah Arendt und die Obersturmbannführer
  12. Die Westflucht ostwärts
  13. Der Sänger, der nicht mehr singt
  14. Ich kenne nur
    Karl May und Hegel
  15. Mein Leben als Prophet
  16. Frühe Liebe mit Trauerflor
  17. Der Schatten Leo Bauers
  18. Von Unselds Gegner zu Holtzbrincks Bodyguard
  19. Karl May Petrus Enzensberger Walter Janka
  20. Aus dem Notizbuch eines Ungläubigen
  21. Tanz in die zweifache Existenz
  22. General Hammersteins Schweigen
  23. Die Pleiße war mein Mississippi
  24. Im Osten verzwergt und verhunzt?
  25. Uwe Johnson geheimdienstlich
  26. Was fürchtete Uwe Johnson
  27. Frühling Zoo Buchmesse
  28. Die goldenen Leipziger Jahre
  29. Das Poeten-Projekt
  30. Der Sachsenschlag und die Folgen
  31. Blick zurück auf Wohlgesinnte
  32. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (I)
  33. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (II)
  34. Brief mit Vorspann an Erich Loest
  35. Briefwechsel mit der Welt der Literatur
  36. Die offene Wunde der Welt der Literatur
  37. Leipzig – wir kommen
  38. Terror im Systemvergleich
  39. Rachegesang und Kafkas Prophetismus
  40. Die Nostalgie der 70er Jahre
  41. Pauliner Kirche und letzte Helden
  42. Das Kickers-Abenteuer
  43. Unser Feind, die Druckwelle
  44. Samisdat in postkulturellen Zeiten
  45. So trat ich meinen Liebesdienst an …
  46. Mein Ausstieg in den Himmel
  47. Schraubenzieher im Feuchtgebiet
  48. Der Fall Filip Müller
  49. Contra und pro Genossen
  50. Wie ich dem Politbüro die Todesstrafe verdarb
  51. Frankfurter Polzei-buchmesse 1968
  52. Die Kunst, weder Kain noch Abel zu sein
  53. Als Atheist in Fulda
  54. Parade der Wiedergänger
  55. Poetik – Ästhetik und des Kaisers Nacktarsch
  56. Zwischen Arthur Koestler und den Beatles
  57. Fragen an einen Totalitarismusforscher
  58. Meine fünf Lektionen
  59. Playmobilmachung von Harald Schmidt
  60. Freundliche Auskunft an Hauptpastor Goetze
  61. Denkfabrik am Pleißenstrand
  62. Rendezvous beim Kriegsjuristen
  63. Marx, Murx, Selbstmord (der Identität)
  64. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (I. Teil)
  65. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (II. Teil)
  66. Der Bunker ...
  67. Helmut auf allen Kanälen
  68. Leipzig anno 1956 und Berlin 2008
  69. Mit Konterrevolutionären und Trotzkisten auf dem Dritten Weg
  70. Die Sächsischen Freiheiten
  71. Zwischen Genossen und Werwölfen
  72. Zur Geschichte meiner Gedichte
  73. Poetenladen: 1 Gedicht aus 16 Gedichten
  74. Der Dritte Weg als Ausweg
  75. Unendliche Wende
  76. Drei Liebesgrüße für Marcel
  77. Wir lagen vor Monte Cassino
  78. Die zweifache Lust
  79. Hacks Haffner Ulbricht Tillich
  80. Mein Leben als Doppelagent
  81. Der Stolz, ein Ostdeutscher zu sein
  82. Vom Langen Marsch zum 3. Weg
  83. Die Differenz zwischen links und rechts
  84. Wo liegt Bad Gablenz?
  85. Quartier zwischen Helmut Schmidt und Walter Ulbricht
  86. Der 3. Weg eines Auslandssachsen
  87. Kriegsverrat, Friedensverrat und Friedenslethargie
  88. Am Anfang war das Gedicht
  89. Vom Buch ins Netz und zur Hölle?
  90. Epilog zum Welt-Ende oder DDR plus
  91. Im Hotel Folterhochschule
  92. Brief an Ernst Bloch im Himmel
  93. Kurze Erinnerung ans Bonner Glashaus
  94. Fritz Behrens und die trotzkistische Alternative
  95. 94/95 Doppelserie
  96. FAUST 3 – Franz Kafka vor Auerbachs Keller
  97. Rainer Werner Fassbinder ...
  98. Zähne zusammen­beißen ...
  99. Das Unvergessene im Blick
    1. Nachwort
Nachworte
  1. Nachwort
    siehe Folge 99
  2. Auf den Spuren des
    Günter Wallraff
  3. Online-Abenteuer mit Buch und Netz
  4. Rückschau und Vorschau aufs linke Leipzig
  5. Die Leipziger Denkschule
  6. Idylle mit Wutanfall
  7. Die digitalisierte Freiheit der Elite
  8. Der Krieg als Badekur?
  9. Wolfgang Neuss über Kurt Tucholsky
  10. Alter Sack antwortet jungem Sack
  11. Vor uns diverse Endkämpfe
  12. Verteidigung eines Gedichts gegen die Gladiatoren
  13. Parademarsch der Lemminge und Blochs Abwicklung
  14. Kampf der Deserteure
  15. Fritz Bauers unerwartete Rückkehr
  16. Der Trotz- und Hoffnungs-Pazifismus
  17. Als Fassbinder in die Oper gehen wollte
  18. Was zum Teufel sind Blochianer?
  19. Affentanz um die 11. Feuerbach-These
  20. Geschichten vom Geist als Stimmvieh
  21. Von Frankfurt übern Taunus ins Erzgebirge
  22. Trotz – Trotzalledem – Trotzki
  23. Der 3. Weg ist kein Mittelweg
  24. Matroschka –
    Die Mama in der Mama
  25. Goethe bei Anna Amalia und Herr Matussek im Krieg
  26. Der Aufgang des Abendlandes aus Auerbachs Keller
  27. Jan Robert Bloch –
    der Sohn, der aus der Kälte kam
  28. Das Buch, der Tod und der Widerspruch
  29. Pastor Gauck oder die Revanche für Stalingrad
  30. Bloch und Nietzsche werden gegauckt ...
  31. Hölle angebohrt. Teufel raus?
  32. Zwischen Heym + Gauck
  33. Von Marx über Bloch zu Prof. Dr. Holz
  34. Kafkas Welttheater in Auerbachs Keller
  35. Die Philosophenschlacht von Leipzig
  36. Dekonstruktion oder Das Ende der Ver­spä­tung ist das Ende
  37. Goethes Stuhl – ein Roman aus Saxanien
  38. Meine Weltbühne im poetenladen
  39. Von Blochs Trotz zu Sartres Ekel
  40. Die Internationale der Postmarxisten
  41. Dies hier war Deutschland
  42. Kopfsprünge von Land zu Land und Stadt zu Stadt
  43. Einiges Land oder wem die Rache gehört
  44. Schach statt Mühle oder Ernst Jünger spielen
  45. Macht ist ein Kriegszustand
  46. Dekonstruktion als Kriminalgeschichte I
  47. Damals, als ich als Boccaccio ging …
  48. Ein Traum von Aufklärung und Masturbation
  49. Auf der Suche nach der verschwundenen Republik
  50. Leipzig am Meer 2013
  51. Scheintote, Untote und Überlebende
  52. Die DDR musste nicht untergehen (1)
  53. Die DDR musste nicht untergehen (2)
  54. Ein Orden fürs Morden
  55. Welche Revolution darfs denn sein?
  56. Deutschland zwischen Apartheid und Nostalgie
  57. Nietzsche dekonstruierte Gott, Bloch den Genossen Stalin
  58. Ernst Jünger, der Feind und das Gelächter
  59. Von Renegaten, Trotzkisten und anderen Klassikern
  60. Die heimatlose Linke (I)
    Bloch-Oper für zwei u. mehr Stimmen
  61. Die heimatlose Linke (II)
    Ein Zwischenruf
  62. Die heimatlose Linke (III)
    Wer ist Opfer, wer Täter ...
  63. Die heimatlose Linke (IV)
    In der permanenten Revolte
  64. Wir gründen den Club der
    heimatlosen Linken
  65. Pekings große gegen Berlins kleine Mauer
  66. Links im Land der SS-Ober­sturm­bann­führer
  67. Zweifel an Horns Ende – SOKO Leipzig übernimmt?
  68. Leipzig. Kopfbahnhof
  69. Ordentlicher Dialog im Chaos
  70. Büchner und Nietzsche und wir
  71. Mit Brecht in Karthago ...
  72. Endspiel mit Luther & Biermann & Margot
  73. Die Suche nach dem anderen Marx
  74. Wer ermordete Luxemburg und Liebknecht und wer Trotzki?
  75. Vom Krieg unserer (eurer) Väter
  76. Wohin mit den späten Wellen der Nazi-Wahrheit?
  77. Der Feind ist in den Sachsengau eingedrungen
  78. Die Heldensöhne der Urkatastrophe
  79. Die Autobiographie zwischen
    Schein und Sein
  80. Auf der Suche nach der verlorenen Sprache
  81. Atlantis sendet online
  82. Zur Philosophie des Krieges
  83. Deutsche, wollt ihr ewig sterben?
  84. Der Prominentenstadl in der Krise
  85. Der Blick von unten nach oben
  86. Auf der Suche nach einer moralischen Existenz
  87. Vom Krieg gegen die Pazifisten
  88. Keine Lust aufs Rentnerdasein
  89. Von der Beschneidung bis zur
    begeh­baren Prostata
  90. Friede den Landesverrätern
    Augstein und Harich
  91. Klarstellung 1 – Der Konflikt um
    Marx und Bloch
  92. Bloch & die 56er-Opposition zwischen Philo­sophie und Verbrechen
  93. Der Kampf ums Buch
  94. Und trotzdem: Ex oriente lux
  95. Der Soldat: Held – Mörder – Heiliger – Deserteur?
  96. Der liebe Tod – Was können wir wissen?
  97. Lacht euren Herren ins Gesicht ...
  98. Die Blochianer kommen in Tanzschritten
  99. Von den Geheimlehren der Blochianer
Aufsatz