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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte

Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | 68. Nachwort

Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.

  68. Nachwort

Leipzig. Kopfbahnhof



  


Mit dem Buch Existentialismus oder Marxismus? von Georg Lukács unterm Arm fuhr ich, wie berichtet, Ende 1951 auf der Suche nach dem Weltgeist von der Zwickauer Ingenieur­schule zur Leipzi­ger Universität, den aus dem US-Exil zurück­gekehrten Ernst Bloch über seine Strategie gegen Tod und Kapital zu befragen. Meinem Selbst­verständnis nach war ich ein davon­gekom­mener junger Kriegs­veteran und Deserteurs­narr, der in Nietzsches Zarathustra gelesen hatte: „Einen höchsten Gedanken aber sollt ihr euch von mir befehlen lassen – und er lautet: Der Mensch ist etwas, das über­wunden werden soll.“ Ich wollte mir weder befehlen lassen noch mich überwinden. Und andere auch nicht. Was nun, Meister­denker vom Pleißen­strand? Ab1952 hörte ich ihm zu. Fünf Jahre später war's schon vorbei. Neue Menschen­überwinder hielten Hof, suchten den Philo­sophen ein­zu­fangen und beschimpf­ten ihn, dass er westwärts emigrierte, wohin er weder wollte noch gehörte. Oder doch?
  Ab 1957 war er der Reihe nach Revisionist, Antimarxist, Missbrauchsmarxist, Anthropomorphist, Teleologe, Subjektivist, Schein­dialektiker, Existen­tialist, Meta­physiker, Anti­materi­alist, Irratio­nalist, Begriffs­verdreher, Marx­verfälscher, Unwis­senschaft­ler, Wissen­schafts­feind, Links­radikalist, Anti­sowje­tist, Oppor­tunist, meta­physisch-mystischer Idealist, Jugend­verführer …
  Der Universalienstreit von Leipzig endet als Philo­sophen­krieg im Putsch von 1956/57. Das Drama spielt zur gleichen Zeit am gleichen Ort mit gleichen Per­sonen. Ein Klassiker eben. Hat der Marxis­mus eine Zukunft? Sie endete mit dem Putsch der Partei­führung gegen die Philo­sophie, darstell­bar in der tragi­komischen Geschichte des Leipziger Instituts für Philosophie an der Karl-Marx-Uni­versität. Auf Walter Ulbrichts Anweisung verbannte ein vor­maliger Wehr­machts­feld­webel die In­tel­lektua­lität des bis­herigen Marxismus, indem er die Marx-Brüder Lukács + Bloch pars pro toto als partei­feind­liche Revisionisten verdammte. Ihre Bücher sollten, wenn überhaupt, nur noch mit den Kommen­taren des Leipziger Feldwebels erscheinen dürfen. Fortan sah der verordnete Marxismus auch so aus, obwohl nicht wenige Ge­nos­sen sich verwei­gerten.
  Die Geschichte des Bloch-Instituts wird unter­schlagen. Vor 1989 verschwieg sie die SED. Dann wusste die PDS nichts, und die an der Leipziger Uni herr­schen­de bür­gerliche Nach­kommen­schaft will schon ganz und gar nichts wissen. Eine mit bunten Fotos ausge­stattete Aus­stel­lung kam immer­hin zustande. Irgendwann im Zeitalter grassie­render Gedächt­nis­lücken stellten Ingrid und ich verwundert fest, wir sind die einzigen, die Ernst Bloch und seine Geschichte von 1952 (53) bis zu seinem Sterbetag am 4. August 1977 in Tübingen und darüber hinaus aus erlebter Nähe notierten. Der Konflikt findet kein Ende. Bis heute haben die Totengräber viel zu tun, den Philo­sophie­revol­teur immer tiefer zu verscharren.
  Warum, so frage ich mich, geriet ein kleiner Kupfer­schmiede­geselle von der Pleiße in so fremde Partei­staats­kon­flikte, die ihn, wie er meinte, im Grunde nichts angingen. Die Arbeiter­klasse rief? Sie ruft noch immer. Wer weiß wann, wo, wen und wohin. Inzwischen ist sie im Stimmbruch, heißt Prekariat und hat das Klassen­zimmer der Genos­sen verlassen.
  Solange ich zurück­denken kann, und das ist ziemlich lange, besteht das größte Problem Deutsch­lands in seinen aus- und ein­klapp­baren Grenzen. Als ich zur Schule ging, war das Reich zu klein. Als ich 1939 in die Lehre ging, wuchs das Reich. Als ich 1942 Soldat wurde, begann das Reich sich wieder zu verkleinern. Das Prinzip der Bewe­gungs­grenze ging nach Kriegs-Ende ins Auftei­lungs­prinzip über: Ein Teil West, ein Teil Ost. Was übersteht wird abge­schnitten. Seit 1990 gibt's wieder Einheit in festen Grenzen. Aller­dings mit partiellen Entgren­zungen. Mit der UNO sind wir Afrika und weltweit. Mit der NATO nicht ganz so weit, doch immerhin bis zum Balkan und Hindukusch. Mit dem EURO sind wir kleiner, aber größer als zu D-Mark-Zeiten. Mit dem EURO als Fahne voran könnte Deutsch-Europa entstehen, mit Deutsch­land als Hauptstadt. Wollen die Europäer sich nicht wirtschaft­lich eindeutschen lassen, schrumpfen wir auf Klein­deutsch­land zurück und dehnen die Zollgrenzen bis Wladiwostok und Peking aus mit der Leit­währung D-Mark­rubel­renminbi (Yuan).
  Von all den Grenz­bewe­gungen unbetroffen blieb mein stabiles Geburtsland Sachsen. Die letzten Land­verluste gab es nach der Völker­schlacht bei Leipzig. Wegen der Oder-Neiße-Grenze kam es 1945 zu geringen Erweite­rungen in Ost­sachsen. Der Versuch, die DDR als unser Groß-Sachsen zu eta­blieren schei­ter­te am DDR-Ende. Seitdem firmieren wir wieder als Frei­staat. Unter Milbradt sogar ambi­tioniert. Mit großer Beglei­tung reiste der Dresdner Minister­präsident zu Wirt­schafts-Verhand­lungen nach Peking. Etwas pikiert kehrten sie zurück – Wirt­schaft Horatio? In China droht bei finanzieller Untreue die Todesstrafe.
  Man hätte früher in Sachsen einen anderen 3.Weg gehen können. Es gab Möglich­keiten. Warum wurden sie von wem nicht genutzt? Aus Charakter­mangel, Geistes­schwäche, Angst vor Obrig­keiten? Die ursäch­liche Situation soll noch heute nicht erkannt werden. Die zustän­digen Genos­sen wollten neue Herren werden und so gelangten die alten Herren wieder an die Macht. Was solls? Heute spielt der Kapita­lismus so verrückt wie vordem der Sozialis­mus. Herrscht also Endzeit?

FDJ-Zeitung Forum
1955/56 reiste Georg Lukács dreimal von Budapest in die DDR. Seine geheim­dienst­liche Über­wachung führte zum Konflikt im SED-Polit­büro, vor allem zwischen Walter Ulbricht und Johannes R. Becher. Nach Bechers miss­lungenem Ver­mitt­lungs­versuch am 27.11.1956 in Leipzig und seiner Rück­kehr tags darauf nach Berlin schreibt Ulbricht noch am selben Tag seinen Alarm-Brief nach Leipzig, mit dem die Kampagne gegen Lukács und Bloch offi­ziell beginnt. Die im Brief er­wähnten Materialien, zuvor schon über­mittelt, sind Geheim­dienst­berich­te, die an einige Genos­sen Phi­lo­sophen weiter­ge­reicht wurden, da­mit sie im Revi­sionis­mus-Buch gegen Bloch argu­men­tieren konnten, was sie auch brav taten. Hier Prof. Rugard Otto Gropp: „Wolfgang Harich, der maß­geb­lich unsere philo­sophische Zeit­schrift leitete, ist gegen­wärtig aus der phi­lo­sophi­schen Arbeit ausge­schaltet, weil er zu unmittel­bar staats­feindlicher Tätigkeit überge­gan­gen war und juristisch verurteilt wurde … Der Einfluss von Georg Lukács ist bei uns gebrochen oder er­schüttert worden durch die Erfahrungen, die uns die Ereignisse in Ungarn gegeben haben. Wir haben es nicht selbst verstanden, beizeiten seine unmarxis­tischen philo­sophischen Grund­tenden­zen zu bekämp­fen und dem bei uns von bestimmten Kreisen gerade­zu gezüch­teten Lukács-Kult ent­gegen­zuwirken. Und im Bezug auf die Philo­sophie Blochs ist die Lage auch nicht durch unsere eigenen Anstren­gungen geklärt worden … Der Einfluss des Oppor­tunis­mus war bei uns ständig gewachsen, sowohl im Maßstab der Deutschen Demokra­tischen Republik wie spe­ziell am Leipziger Institut für Philo­sophie.“

Bloch-Jahrbuch 2006

Hans Mayer
In Leipzig beliebt und verdammt, in Tübingen ver­stor­ben, in Köln ging beim Archiv-Ein­sturz sein Nach­lass verloren
Hiob
Biblischer Welt­revolteur – vom Unglück ver­folgt – ein Hans Mayer Gottes
Die Blochianerin Francesca Vidal sagt über den Blochianer Wolfram Burisch, er gehe so weit, „zu formu­lieren, dass es eine ständige Aufgabe bleibt, das dauernd Beunruhigende, welches Blochs Philo­so­phie mit sich bringt, wach zu halten. Gegen das Bedürf­nis, das ›Prinzip Hoff­nung‹ als passives Warten auf das Glück umzudenken, sei es weiterhin ein ›hart­näckiges Postulat‹, das eigen­stän­dige philo­sophische Handeln voran­zutrei­ben.“ (Bloch-Jahrbuch 2006) Ironi­scher­weise war Walter Ulbricht 1956/57 von Bloch so beun­ruhigt, dass er dem Phi­lo­sophen einen Plan für die Konter­revo­lution unter­stellte. Der auf dem 33. Plenum von Ulbricht ange­grif­fene Kurt Hager darauf: „Offen­sichtlich. Das Mate­rial zeigt, dass ein ganzer Kreis von soge­nannten Schülern vor­handen war, die in dieser Rich­tung unter dem Einfluss des Lehrers wirkten.“ Ulbricht wartete nach dem unga­ri­schen Okto­ber-Auf­stand noch vier Wochen, bis er sich für seine Vergan­gen­heit mit Stalin und gegen Blochs Zukunfts­projekt ent­schied, das er nun wider bes­seres Wissen als Konter­revolution verdammte, womit er nicht Marx folgte, sondern Nietzsches Diktum von der ewigen Wieder­kehr des Gleichen. Alles war und blieb im Land der Refor­mation wie vordem: Papisten gegen Protes­tan­ten. Jetzt stan­den Sta­linis­ten gegen Refor­ma­teure. Das Prin­zip Macht­erhalt besiegt das Prinzip Humani­sierung der Macht.

Lenin wollte den Staat von einer Köchin regieren lassen (können), Ulbricht hielt sich 1956 dafür an den Wehr­machts­feld­webel-Koch Paul Fröh­lich aus Zwickau-Nieder­planitz, der ab 1952 in Leipzig Partei­kar­riere machte, 1956/57 die Ent­stali­ni­sie­rung kippte, Partei und Univer­sität von jedem Wider­spruch säuberte, ins Polit­büro aufstieg, ein Dutzend Orden, Medai­lien, Ämter erhielt und endlich seinen väter­lichen Förderer Walter Ulbricht an Honecker verriet, als der sich ins Spitzen­amt versetzte, wo nicht putschte. Aber gehen wir der Reihe nach. Karola Bloch erzählte uns, Hans Mayer tauchte nach dem Auf­stand vom 17. Juni 1953 so fas­sungs­los und erregt bei ihnen auf, dass Ernst ihn kaum zu beruhigen ver­mochte. Die Angst vor einem fa­schis­tischen Aufstand in der DDR war bei den jüdischen Genossen nicht geringer als in der Partei­führung. Bloch teilte die Besorgnis, suchte Mayer zu besänf­tigen, ließ sich jedoch von Alfred Kanto­rowicz zu dem un­vor­sichtigen Satz hin­reißen, dass bürger­liche Regie­rungen nach solchen Auf­ständen zumindest zurückträten. Weshalb also nicht Ulbricht. Dem kam das zu Ohren. Die Fronten waren abge­steckt. Die Unter­schei­dung zwischen Staat und Regie­rungs­per­sonal behielt Bloch bei. Als Erwi­derung dann der Ulbricht-Brief Richtung Leipzig vom 28.11.56. Schluss mit dem Abschied von Stalin, Ende der Akzep­tanz von Bloch und Lukács in der DDR. Das Prin­zip Angst herrscht auf allen Seiten vor. Es gibt keine klas­sen­spezi­fischen Dif­fe­renzen. An der Spitze ver­sammeln sich all­über­all die Lemminge. So wurde die DDR zuschan­den regiert. Und nun Europa?
  Das Gesetz der Einheit: Hitler-Deutschland entledigte sich seiner Opposition durch offene Gewalt. Die DDR setzte ihre marxis­tische Oppo­si­tion matt. Die Berliner Repu­blik schafft indes­sen, was der Bonner Republik nur teilweise gelang – die opposi­tionelle Linke wird an den Rand gedrängt und partiell so isoliert, dass sie sich selbst unter­miniert. Nach der Einheit Deutsch­lands kommt die Einheit Europas dran, strittig zwar, doch Nation-Building er­zwingt strate­gische Er­weite­run­gen. Der zuständige FAZ-Fach­mann Lothar Rühl steckte am 1.10.11 schon mal das künftige Kriegs-Terrain ab: „Tiefe Gegen­sätze … gemein­samer strate­gischer Raum … west­liches Mittel­meer und den Maghreb plus Libyen … um Israel im Nahen Osten oder um die Türkei im Nahen und Mittleren Osten … ebenso im Kauka­sus und auch wieder auf dem Balkan … Zypern und die Ägäis … Schließlich die Kardi­nal­frage: Welches Ver­hältnis im Bünd­nis zu Amerika?“
  Das sind die neuen europäischen Utopien. Die deutsche Einheit zieht wie eh und je Konsequenzen nach sich. Sie ist ohne Revolte Einheit zum Krieg.

Der Marxismus ist die vierte Buch-Religion. Schon die Bibel enthält neben dem Heils­verspre­chen den ganzen Jammer der Kreatur. Hiob ist ungeheuer sauer und redet, nein schimpft Klartext. Friedrich Engels und Arthur Schopen­hauer sind nicht weniger entsetzt, allerdings über das Leben der Arbeiter­klasse in England. Schopenhauer wird zum Pessimisten, Engels zum Revolutionär. Das ist der kleine Unterschied, den Alice Schwarzer aufs Genital verkürzt, während Charlotte Roche das ehe­männliche Gemächte zum Turm von Babel verklärt, den zu umhegen das Weib gehalten sei. Wer die post­kulturellen Liebes­tänze nicht für ewig mit­schwän­zeln will, braucht eine andere Ästhetik und Erotik. Deshalb leben wir in der Epoche elektro­nischer Bilder­bücher für Analpha­beten.
  Am Sonntag, dem 2.10.11 trafen sich bei Günther Jauch mit Götz Aly und Oskar Lafon­taine zwei Antipoden, die beide das Modell der Schweizer Sozial- und Rentenversicherung empfahlen: alle zahlen ohne Ein­kommens­begren­zung ein, die Rentenhöhe jedoch ist begrenzt, wer viel verdient bekommt weniger als er einzahlt, wer weniger verdient erhält mehr als er einzahlt. Der Vorschlag wird bei uns jedes Jahr neu präsentiert und pünktlich vergessen. Die Minis­terin von der Leyen schrillte im hohen Diskant so falsch wie üblich dazwischen. Vorwärts ins Desaster. Die Elite will ihre Positionen halten. Das verlangt die gewohnte Hierarchie. Karrieren, die permanent aufwärts führen, sind allerdings Negativauslesen. Im Fernsehen geht der Krug deshalb solange zum Brunnen, bis er sich erbricht.
  Deutschland ist wirtschaftlich auf Erfolg, politisch jedoch auf Einheit im Untergang program­miert: 1848 missratene Einigung von unten und verlorene Revolution. 1870 Krieg. 1871 Einheit. 1914 Kriegs-Einheit. 1918 verlorener Krieg. 1918 Revolution. 1923 Sieg der Konterrevolution. 1933 Einigkeit für Aufrüstung. 1939 Einigkeit zum Krieg. 1945 Einheit in der Niederlage. 1948 geteilte Einheit und Kalter Krieg. Ab 1989/90 Einheit und Krieg. Der Krieg ist ein asymmetrischer. In neun Jahren Afghanistan vierzig Tote, davon dreißig per Feindeinwirkung. Zehn Tote pro Tag fordert der deutsche Straßenverkehr, also bringt der Krieg so viele Opfer mit sich wie 3 – 4 Tage heimatlicher Autoverkehr. Die Toten des Feindes bleiben ungezählt, mitunter umstritten. Die eigenen und die fremden Verluste sind eben auch asymmetrisch. Klar ist lediglich: Am Anfang siegen wir, die Rechung wird später präsentiert.
  Der postnazistische Konser­vativismus kennt zwei Richt­linien: 1. Die Kapitalanalyse von Marx wird durch unsere aggressiv-militanten Antikommunismen gekontert. 2. Geschichte ist die ewige Wiederkehr von Herr und Knecht. Der Mensch muss von uns Übermenschen überwunden werden. Alles andere ist Humanitätsduselei, d.h. Gutmenschentum.

Folglich wird die Neugründung konser­vativer Parteien versucht. Wenn aber die alten Böcke aus der Politik in die Wirtschaft abdrehen? Es gibt Nachschub. „Vor einem guten Jahr erreichte mich ein Anruf aus München: was ich von der Möglich­keit einer neuen rechten Samm­lungs­bewe­gung hielte, nur mal so als Gedan­ken-Experi­ment? Mit Hans-Olaf Henkel, Peter Sloterdijk, Thilo Sarrazin und Friedrich Merz als möglichen Galionsfiguren. Unabhängig davon, ob diese Phanta­sie zu verwirk­lichen wäre – langfristig gibt es sicher ein Poten­tial.“ So der plötz­lich renitente Lorenz Jäger am 5.10.2011 in seinem FAZ-Heimatblatt. Die Auswahl der Namen, die sich da jemand in München hat einfallen lassen, spricht Bände: Indus­trie, Philo­sophie, SPD, CDU als Exem­plare mit weit­reichender Zugkraft. Sieht so die baldige Zukunft der Deutschen aus? Lorenz Jäger hält recht kräftig dagegen:


Diese Fangzeilen unter dem Provokations-Titel sind nicht von Pappe. Alles in allem scharf positioniert, Herr ehemaliger Kammerdiener. Das ist, wenn auch an kurioser Stelle, fast marxistische Sprachrevolte statt bougeoiser Sklavensprache. Ein konservatives Niedergangssymptom wird als Syndrom verdeutlicht. Muss die Titanic am Ende gar nicht untergehen? Das post­nazis­tische Potential, das nach 1945 in pluralen Parteien unterschlüpfte, soll keine zweite Harzburger Front bilden dürfen? Ja wie denn, sollte diesmal die nationale rechte Volksfront durch eine reaktivierte linke Volksfront zu bändigen sein? Was wohl, Freunde, Kameraden und Genossen, die diffusen Linken dazu zu sagen haben…
  Die Tragödie der frühen Kommunisten ist, dass sie nach Lenin zwischen Stalin und Hitler gerieten. So wurden sie Opfer des einen oder anderen oder von beiden. Falls aber nicht, setzte man sich ab, priva­tisierte oder unterwarf sich. Den Fall Ulbricht verglich ich mit der Fahrt des Odysseus zwischen Scylla und Charybdis hindurch. Das Meeres­unge­heuer verschlingt einige. Die übrigen überleben. Hitler verfolgte alle Kommunisten, Stalin verlangte von den seinen, Scylla zu spielen. Ulbricht hatte sich in der geliehenen Macht einzurichten verstanden und überlebte. 1956 zögerte er vier Wochen, bis er sich für den sturen Part seiner Vergangenheit entschied. Die Philo­sophie des Marxismus war bereits 1923 zum Stillstand gekommen. Lenin hatte auf die Weltrevolution gesetzt, die in Deutschland beginnen sollte. 1923 aber schlug die Revolution in Deutsch­land endgültig in Konter­revo­lution um, die zehn Jahre später zur Welt­konter­revo­lution eskalierte. Die Transformation der marxistischen Politik und Strategie in den Volksfrontwiderstand geschah viel zu spät. Es reichte noch für den opfer­vollen Sieg über Nazi-Deutsch­land, nicht für den Bestand der Sowjetunion. Bloch und Lukács wurden die letzten prominenten Volksfrontmarxisten, die abgeräumt werden mussten, dann hielten den Sozia­lismus in seinem Lauf nicht nur Ochs und Esel auf.
  Soviel zu rechterhand, wo die Agenten des Kältetodes leben. Er kommt gewiss. Nur der Zeitpunkt ist ungewiss, den die Rechten vorzu­verlegen suchen. Der Tod ist ihr Geschäft und zugleich ihr geliebtes Vaterland, in dem Revo­lutionäre nichts als Tote auf Urlaub sind. Soviel zur modernisierten Hölle.
  Der Begriff Faschismus umfasst nur einen Teil der Hölle. Dazwischen leben die munteren Mode-Engel. Sie sind heute Juso und morgen Schröder, heute marxlesende Buchhändler sowie Taxifahrer und morgen groß­mäulige Kriegs­fürsten. Mussolini fing linksradikal an, bevor er in die Todes­kurve ging. Die Wiederkehr des Gleichen eskaliert zur Wieder­kehr der Ungleichen.

Stefan Heym, Heinrich Graf Einsiedel und ich waren Drei rote Musketiere, die der SED-Nachfolgepartei PDS ab 1994 als partei­lose Abgeordnete beistanden. Heym zählt zur Generation der 1933 Ausgetriebenen, Einsiedels Leben verlief in den Zwischenräumen, über Stalingrad abgeschossen, in Position beim Nationalkomitee Freies Deutschland, in der DDR bald abgängig, im Westen bemisstraut. Ich als 1956er Streiter für einen 3. Weg fühlte mich gefordert. Unser aller Vergangenheit wird schon lange gefälscht und vergraben. Archäologen sind vonnöten. Haben linke Leute wie wir überhaupt noch eine Geschichte? Trotzalledem – wir sind Optimisten. Leipzig ist der Kopfbahnhof der Pleiße? Es ist auch ein Kopfbahnhof ohne Pleiße.
  Bis die DDR-Oberen die eigene Partei zu köpfen begannen. Daran war weder das DDR-Volk noch die SED-Mitgliederschaft beteiligt. Es gab vom 17.Juni 1953 bis zum Ende 1990 viele Reformversuche, Oppositionen und Revolten. Ich habe es bei ihrer Verteidigung leicht und brauche mich nur selbst zu zitieren:


(Sklavensprache und Revolte, Seite 461)

  Klassiker des 3. Weges

Ingrid und Gerhard Zwerenz
Sklavensprache und Revolte
Schwartzkopff, 2006





Nach der Flucht aus Leipzig 1957 vermisste ich die Kon­flikte um den 3. Weg, ohne den ich für die DDR keine Zukunft sah. Doch die Bonner Republik erwies sich als nicht weniger aben­teuer­lich. Der ent­fremdete Marxis­mus des anderen deutschen Staates führte 1989/90 zum fatalen End­spiel der Vereinigung. Resul­tat ist die Freiheit der Berliner NATO-Repu­blik zum Krieg­führen im Ausland und zur Diktatur unregu­lierter Finanz­märkte. Das weiß heute jeder. Als Lafon­taine vor Jahren ein­dring­lich davor warnte, war er als Prophet außen vor. Heute warnt der US-Ökonom Nouriel Roubini, der 2006 den Immo­bilien-Crash voraussagte, im stern vor dem „globalen Crash der Finanz­märkte“. Über­schrift des Artikels: „Hatte Marx doch recht? Ja, zum Teil.“ Und Deutschland soll jetzt die verkrachten Finanz­märkte sanieren – danach verrät Insider Hans-Ulrich Jörges auch gleich, es geht längst nicht mehr um Griechen­land, sondern um die Rettung Frankreichs: „Die Operation am franzö­sischen Herzen muss gelingen – und koste es deutsches Geld. Wankt Frankreich, wankt ganz Europa. Auch Deutschland.“
  Wer soll da eigentlich die „Spritze ins Herz Europas“ zahlen. Wer sind in Deutsch­land die Zahlmeister?
  Dieses Nachwort 68 beginnt mit meiner Reise vor exakt 60 Jahren zum Kopfbahnhof Leipzig. Unterm Arm trug ich Existentialismus oder Marxismus?
Gerhard Zwerenz    24.10.2011   

 

 
Gerhard Zwerenz
Serie
  1. Wie kommt die Pleiße nach Leipzig?
  2. Wird Sachsen bald chinesisch?
  3. Blick zurück und nach vorn
  4. Die große Sachsen-Koalition
  5. Von Milbradt zu Ernst Jünger
  6. Ein Rat von Wolfgang Neuss und aus Amerika
  7. Reise nach dem verlorenen Ich
  8. Mit Rasputin auf das Fest der Sinne
  9. Van der Lubbe und die Folgen
  10. Unser Schulfreund Karl May
  11. Hannah Arendt und die Obersturmbannführer
  12. Die Westflucht ostwärts
  13. Der Sänger, der nicht mehr singt
  14. Ich kenne nur
    Karl May und Hegel
  15. Mein Leben als Prophet
  16. Frühe Liebe mit Trauerflor
  17. Der Schatten Leo Bauers
  18. Von Unselds Gegner zu Holtzbrincks Bodyguard
  19. Karl May Petrus Enzensberger Walter Janka
  20. Aus dem Notizbuch eines Ungläubigen
  21. Tanz in die zweifache Existenz
  22. General Hammersteins Schweigen
  23. Die Pleiße war mein Mississippi
  24. Im Osten verzwergt und verhunzt?
  25. Uwe Johnson geheimdienstlich
  26. Was fürchtete Uwe Johnson
  27. Frühling Zoo Buchmesse
  28. Die goldenen Leipziger Jahre
  29. Das Poeten-Projekt
  30. Der Sachsenschlag und die Folgen
  31. Blick zurück auf Wohlgesinnte
  32. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (I)
  33. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (II)
  34. Brief mit Vorspann an Erich Loest
  35. Briefwechsel mit der Welt der Literatur
  36. Die offene Wunde der Welt der Literatur
  37. Leipzig – wir kommen
  38. Terror im Systemvergleich
  39. Rachegesang und Kafkas Prophetismus
  40. Die Nostalgie der 70er Jahre
  41. Pauliner Kirche und letzte Helden
  42. Das Kickers-Abenteuer
  43. Unser Feind, die Druckwelle
  44. Samisdat in postkulturellen Zeiten
  45. So trat ich meinen Liebesdienst an …
  46. Mein Ausstieg in den Himmel
  47. Schraubenzieher im Feuchtgebiet
  48. Der Fall Filip Müller
  49. Contra und pro Genossen
  50. Wie ich dem Politbüro die Todesstrafe verdarb
  51. Frankfurter Polzei-buchmesse 1968
  52. Die Kunst, weder Kain noch Abel zu sein
  53. Als Atheist in Fulda
  54. Parade der Wiedergänger
  55. Poetik – Ästhetik und des Kaisers Nacktarsch
  56. Zwischen Arthur Koestler und den Beatles
  57. Fragen an einen Totalitarismusforscher
  58. Meine fünf Lektionen
  59. Playmobilmachung von Harald Schmidt
  60. Freundliche Auskunft an Hauptpastor Goetze
  61. Denkfabrik am Pleißenstrand
  62. Rendezvous beim Kriegsjuristen
  63. Marx, Murx, Selbstmord (der Identität)
  64. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (I. Teil)
  65. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (II. Teil)
  66. Der Bunker ...
  67. Helmut auf allen Kanälen
  68. Leipzig anno 1956 und Berlin 2008
  69. Mit Konterrevolutionären und Trotzkisten auf dem Dritten Weg
  70. Die Sächsischen Freiheiten
  71. Zwischen Genossen und Werwölfen
  72. Zur Geschichte meiner Gedichte
  73. Poetenladen: 1 Gedicht aus 16 Gedichten
  74. Der Dritte Weg als Ausweg
  75. Unendliche Wende
  76. Drei Liebesgrüße für Marcel
  77. Wir lagen vor Monte Cassino
  78. Die zweifache Lust
  79. Hacks Haffner Ulbricht Tillich
  80. Mein Leben als Doppelagent
  81. Der Stolz, ein Ostdeutscher zu sein
  82. Vom Langen Marsch zum 3. Weg
  83. Die Differenz zwischen links und rechts
  84. Wo liegt Bad Gablenz?
  85. Quartier zwischen Helmut Schmidt und Walter Ulbricht
  86. Der 3. Weg eines Auslandssachsen
  87. Kriegsverrat, Friedensverrat und Friedenslethargie
  88. Am Anfang war das Gedicht
  89. Vom Buch ins Netz und zur Hölle?
  90. Epilog zum Welt-Ende oder DDR plus
  91. Im Hotel Folterhochschule
  92. Brief an Ernst Bloch im Himmel
  93. Kurze Erinnerung ans Bonner Glashaus
  94. Fritz Behrens und die trotzkistische Alternative
  95. 94/95 Doppelserie
  96. FAUST 3 – Franz Kafka vor Auerbachs Keller
  97. Rainer Werner Fassbinder ...
  98. Zähne zusammen­beißen ...
  99. Das Unvergessene im Blick
    1. Nachwort
Nachworte
  1. Nachwort
    siehe Folge 99
  2. Auf den Spuren des
    Günter Wallraff
  3. Online-Abenteuer mit Buch und Netz
  4. Rückschau und Vorschau aufs linke Leipzig
  5. Die Leipziger Denkschule
  6. Idylle mit Wutanfall
  7. Die digitalisierte Freiheit der Elite
  8. Der Krieg als Badekur?
  9. Wolfgang Neuss über Kurt Tucholsky
  10. Alter Sack antwortet jungem Sack
  11. Vor uns diverse Endkämpfe
  12. Verteidigung eines Gedichts gegen die Gladiatoren
  13. Parademarsch der Lemminge und Blochs Abwicklung
  14. Kampf der Deserteure
  15. Fritz Bauers unerwartete Rückkehr
  16. Der Trotz- und Hoffnungs-Pazifismus
  17. Als Fassbinder in die Oper gehen wollte
  18. Was zum Teufel sind Blochianer?
  19. Affentanz um die 11. Feuerbach-These
  20. Geschichten vom Geist als Stimmvieh
  21. Von Frankfurt übern Taunus ins Erzgebirge
  22. Trotz – Trotzalledem – Trotzki
  23. Der 3. Weg ist kein Mittelweg
  24. Matroschka –
    Die Mama in der Mama
  25. Goethe bei Anna Amalia und Herr Matussek im Krieg
  26. Der Aufgang des Abendlandes aus Auerbachs Keller
  27. Jan Robert Bloch –
    der Sohn, der aus der Kälte kam
  28. Das Buch, der Tod und der Widerspruch
  29. Pastor Gauck oder die Revanche für Stalingrad
  30. Bloch und Nietzsche werden gegauckt ...
  31. Hölle angebohrt. Teufel raus?
  32. Zwischen Heym + Gauck
  33. Von Marx über Bloch zu Prof. Dr. Holz
  34. Kafkas Welttheater in Auerbachs Keller
  35. Die Philosophenschlacht von Leipzig
  36. Dekonstruktion oder Das Ende der Ver­spä­tung ist das Ende
  37. Goethes Stuhl – ein Roman aus Saxanien
  38. Meine Weltbühne im poetenladen
  39. Von Blochs Trotz zu Sartres Ekel
  40. Die Internationale der Postmarxisten
  41. Dies hier war Deutschland
  42. Kopfsprünge von Land zu Land und Stadt zu Stadt
  43. Einiges Land oder wem die Rache gehört
  44. Schach statt Mühle oder Ernst Jünger spielen
  45. Macht ist ein Kriegszustand
  46. Dekonstruktion als Kriminalgeschichte I
  47. Damals, als ich als Boccaccio ging …
  48. Ein Traum von Aufklärung und Masturbation
  49. Auf der Suche nach der verschwundenen Republik
  50. Leipzig am Meer 2013
  51. Scheintote, Untote und Überlebende
  52. Die DDR musste nicht untergehen (1)
  53. Die DDR musste nicht untergehen (2)
  54. Ein Orden fürs Morden
  55. Welche Revolution darfs denn sein?
  56. Deutschland zwischen Apartheid und Nostalgie
  57. Nietzsche dekonstruierte Gott, Bloch den Genossen Stalin
  58. Ernst Jünger, der Feind und das Gelächter
  59. Von Renegaten, Trotzkisten und anderen Klassikern
  60. Die heimatlose Linke (I)
    Bloch-Oper für zwei u. mehr Stimmen
  61. Die heimatlose Linke (II)
    Ein Zwischenruf
  62. Die heimatlose Linke (III)
    Wer ist Opfer, wer Täter ...
  63. Die heimatlose Linke (IV)
    In der permanenten Revolte
  64. Wir gründen den Club der
    heimatlosen Linken
  65. Pekings große gegen Berlins kleine Mauer
  66. Links im Land der SS-Ober­sturm­bann­führer
  67. Zweifel an Horns Ende – SOKO Leipzig übernimmt?
  68. Leipzig. Kopfbahnhof
  69. Ordentlicher Dialog im Chaos
  70. Büchner und Nietzsche und wir
  71. Mit Brecht in Karthago ...
  72. Endspiel mit Luther & Biermann & Margot
  73. Die Suche nach dem anderen Marx
  74. Wer ermordete Luxemburg und Liebknecht und wer Trotzki?
  75. Vom Krieg unserer (eurer) Väter
  76. Wohin mit den späten Wellen der Nazi-Wahrheit?
  77. Der Feind ist in den Sachsengau eingedrungen
  78. Die Heldensöhne der Urkatastrophe
  79. Die Autobiographie zwischen
    Schein und Sein
  80. Auf der Suche nach der verlorenen Sprache
  81. Atlantis sendet online
  82. Zur Philosophie des Krieges
  83. Deutsche, wollt ihr ewig sterben?
  84. Der Prominentenstadl in der Krise
  85. Der Blick von unten nach oben
  86. Auf der Suche nach einer moralischen Existenz
  87. Vom Krieg gegen die Pazifisten
  88. Keine Lust aufs Rentnerdasein
  89. Von der Beschneidung bis zur
    begeh­baren Prostata
  90. Friede den Landesverrätern
    Augstein und Harich
  91. Klarstellung 1 – Der Konflikt um
    Marx und Bloch
  92. Bloch & die 56er-Opposition zwischen Philo­sophie und Verbrechen
  93. Der Kampf ums Buch
  94. Und trotzdem: Ex oriente lux
  95. Der Soldat: Held – Mörder – Heiliger – Deserteur?
  96. Der liebe Tod – Was können wir wissen?
  97. Lacht euren Herren ins Gesicht ...
  98. Die Blochianer kommen in Tanzschritten
  99. Von den Geheimlehren der Blochianer
Aufsatz